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Ausgabe:

Mai/2013

Spalte:

537–538

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Barth, Claudia

Titel/Untertitel:

Esoterik – die Suche nach dem Selbst. Sozialpsychologische Studien zu einer Form moderner Religiosität.

Verlag:

Bielefeld: transcript 2012. 306 S. m. Abb. = Reflexive Sozialpsychologie, 7. Kart. EUR 28,80. ISBN 978-3-8376-1627-9.

Rezensent:

Michael Utsch

Obwohl der Markt an esoterischer Lebenshilfe seit Jahren floriert – etwa 20 % des Jahresumsatzes des Deutschen Buchhandels werden in diesem Bereich erwirtschaftet –, gibt es kaum wissenschaftliche Studien auf diesem Gebiet. Endlich liegt nun einmal eine von dem Münchner Sozialpsychologen Heiner Keupp betreute Dissertation vor, die subjektive Beweggründe für die Inanspruchnahme esote­rischer Lebenshilfe und ihre Bedeutung für die Identitätsbildung beschrieben hat. Im ersten Teil wird der sozialpsychologische Rahmen der Studie als ein postmodernes Phänomen beschrieben. Auch wenn hier die zugrunde gelegte Literatur nicht auf dem neuesten Stand ist – die wichtigen Studien von Karl Baier (Meditation und Moderne, Würzburg 2009) und Wouter Hangraaff (Esotericism and the Academy, Amsterdam 2012) fehlen –, werden die historischen Linien zutreffend geschildert.
Bemerkenswert ist die Rezeption religionspsychologischer An­sätze, deren Erträge hierzulande häufig übersehen werden. Unter der Fragestellung identitätsgenerierender Faktoren sind aber die hier vorgestellten Theorien religiöser Attribuierung und Bewältigung eine wichtige Verstehenshilfe für die spätere Befragung, auch wenn in diesem Abschnitt die aktuellen Entwicklungen der letzten Jahre fehlen. Im zweiten Teil wird das qualitative Forschungsdesign beschrieben. Nach den Erfahrungen einer Voruntersuchung mit vier Interviews hat die Vfn. ihre Erhebungsmethode umgestellt, um dem Erzählfluss der Interviewten genügend Raum zu lassen. Alle 14 ausführlichen Interviews wurden für Auswertungszwecke der »Grounded Theory« verschriftlicht. Durch ihr wissenschaftliches Interesse, eine offene Interviewführung und die direkte Kontaktaufnahme auf Esoterikmessen fiel der Vfn. die Stichpro bengewinnung einfach. Durch ein ausgewogenes Geschlechter- und Ost-West-Verhältnis bildet die Vfn. mit ihrer Stichprobe ein breites Spektrum an Lebenserfahrungen ab. Sie betont, dass sich alle von ihr interviewten Menschen unter das Emblem »esoterisch« einordneten.
Als weitere Auswahlkriterien für die ausführliche Einzelfallauswertung setzt die Vfn. psychische Stabilität und eine gefestigte Weltanschauung voraus. Zwei Interviewpartnerinnen zählte sie nicht zur eigentlichen Zielgruppe, da sie geschlossenen Sekten-/ Psychogruppen angehören und bei ihnen andere psychologische Dynamiken zugrunde liegen als im frei florierenden esoterischen Spektrum.
»Ina ist seit etwa acht Jahren der buddhistischen Sekte um den Dänen Ole Nydahl zugehörig. Jenny war ein Jahr im Zentrum der Yoga-Vidya-Ge­mein­schaft, begann dort eine Ausbildung zur Yogalehrerin, wofür sie im selben Zentrum die Gebühr abarbeitete, bis sie – kurz vor dem Interview – mit einem Burn-Out ausstieg. Das Interview mit ihr ist durch den Burn-Out, begleitet von der Auseinandersetzung mit gegenwärtiger Wut und Enttäuschung, ge­kennzeichnet. Jenny ging kurz nach dem Interview für mehrere Wochen in eine Klinik zur therapeutisch begleiteten Rehabilitation. Auch aus diesem Grund der akuten psychischen Krise ist dies Interview nicht adäquat mit den übrigen vergleichbar.« (117)
Es ist bedauerlich, dass durch solch eine Setzung problematische und gefährliche Aspekte esoterische Lebenshilfe nicht genauer ins Blickfeld gelangen, denn zahlreiche Erfahrungsberichte deuten darauf hin, dass die Wohlfühl- und Heilsversprechen des Esoterikmarktes das Erlebnisspektrum eines seelisch Gesunden mit den nötigen finanziellen Ressourcen erweitern, für psychisch labile Menschen aber durchaus gefährlich werden können.
Herzstück der Arbeit bildet der umfangreiche Teil 3, in dem sechs ausführliche Einzelfallauswertungen vorgenommen werden: Elektra: Erfahrungen des Scheiterns und esoterische Kompensation; Mona: Befreiung, mit meinem Gefühl nicht auf dem Holzweg zu sein; Elvira: Mit 40 kam der große Wandel; Michael: Ambivalenz nach 1990 – über Nacht war alles anders; Thomas: Gesellschaftliche Ausgrenzung kompensieren – die Suche nach Anerkennung; Er­win: Esoterik als Weg, sich mit dem eigenen Innenleben zu beschäftigen und sich daraus befreien.
Die einzelnen Fallanalysen stellen zunächst den sozialen Rahmen der Interviewten dar. Auffällig viele haben die Lebensform »Single« gewählt, und meistens sind sie finanziell abgesichert. Sehr hilfreich sind die immer an den passenden Stellen eingefügten Informationskästen, die über be­stimm­te Themen oder Stichworte des esoterischen Marktes informieren, z. B. »Neurolinguistisches Programmieren«, »Familienstellen nach Hellinger«, »Reinkarnation«, »Transzendentale Meditation« oder »Qi-Gong«. Auch im kurzen Schlussteil über den Einfluss esote­rischer Lösungsversuche bei der Identitätsbildung werden zwei In­fokästen (zu Durk­heims Religionskritik und Luhmanns Religionsverständnis) verwendet. Der Vfn. ist es gelungen, anschauliche Beispiele esoterischer Lebensdeutung darzustellen. Fast immer war das Scheitern oder ein Leiden an bestehenden Normalitäts- und Leistungszwängen der Ausgangspunkt für eine Neuorientierung der Lebenskonzepte. Durch die Vorauswahl der Interviews – nur in ihrer Befindlichkeit stabile und in ihrer Weltanschauung gefestigte Menschen wurden zugelassen – konnte jedoch eine wichtige Frage nicht weiter verfolgt werden: Wie gefährlich ist esoterische Lebenshilfe für seelisch labile und kranke Menschen? Hoffentlich gibt es Folgeuntersuchungen mit der gleichen Gründlichkeit zu diesem Thema. Manche Beratungsstelle und psychiatrische Aufnahmestation würden solche Untersuchungen aufmerksam lesen.