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Ausgabe:

April/1996

Spalte:

376–378

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Grünbeck, Elisabeth

Titel/Untertitel:

Christologische Schriftargumentation und Bildersprache. Zum Konflikt zwischen Metapherninterpretation und dogmatischen Schriftbeweistraditionen in der patristischen Auslegung des 44. (45.) Psalms.

Verlag:

Leiden-New-York-Köln: Brill 1994. XXI, 438 S. gr. 8o = Supplements to Vigiliae Christianae, 26. Lw. hfl. 130.­. ISBN 90-04-10021-0.

Rezensent:

Christoph Markschies

Die vorliegende Untersuchung entstand als Dissertation bei Karl Suso Frank in Freiburg. Die einleitenden Fragen, die G. zu Beginn stellt, lassen eine interessante Untersuchung zur Spannung zwischen mehrdeutiger Metaphorik der Psalmen und einer um Eindeutigkeit bemühten theologischen Theorie erwarten: "Was sollen die Metaphern inhaltlich beweisen? Wie argumentiert man mit ihnen... ? Reflektiert man auf die Metaphorik... ?" (1). Hervorzuheben ist, daß nicht nur die Auslegungsmethode, sondern auch die Frömmigkeit des Auslegers ("spirituelle Auslegung") und sein Eingehen auf den Adressatenkreis untersucht werden soll ­ aber hierzu finden sich dann leider wenig konkrete Ergebnisse (412). Als Paradigma ist der 44. Psalm gewählt, ein ’begrenzter, aber dabei in vieler Hinsicht repräsentativer Text’ (5). Die Untersuchung der Vfn. will die These begründen, daß eine arianische Anwendung dieses Textes, die Ansätze der origenistischen Tradition aufnimmt, von grundlegender Bedeutung für die gewichtige Rolle des 44. Psalms in der antiarianischen Diskussion um die Trinität und in den folgenden Auseinandersetzungen um die Christologie ist. Diese Tendenz kulminiere in der Tatsache, daß Cyrill seine Christologie wesentlich auf der Basis dieses Textes formuliert habe. Um dies nachzuweisen, geht die Vfn. chronologisch vor und weitet den Blick von einzelnen Stellen, an denen "ihr" Psalm zitiert wird, auf die grundsätzliche Betrachtung der Schriftargumentation beim jeweiligen Autor. Ihre Darstellung gliedert sich entsprechend in vier Hauptteile: I bietet die Deutungen vor Ausbruch der arianischen Kontroverse (15-123), II diejenigen "im Streit um die Gottheit Christi" (127-201), III (griechische, C.M.) "Auslegungen zwischen Nicaea und Chalcedon" (205-389) und IV zum Schluß einen Ausblick auf die lateinische Literatur des 4./5. Jh.s.

Der erste Hauptteil beginnt mit Bemerkungen zur Verwendung des Psalms bei vornizänischen Vätern, vor allem bei Justin, Irenäus, Tertullian und Origenes. Obwohl G. knapp und zugleich doch gut informiert in die Werke der jeweiligen Autoren einleitet, hätte man sich gelegentlich eine noch stärker auf die betreffende einzelne Stelle konzentrierte Darstellung vorstellen können.

Zwei Beispiele: So sollte doch, wenn von Justins Äußerungen in Dial. 56,11 über Christus als theos heteros die Rede ist (Vfn. p. 29 ­ Justin begründet das Theologumenon u. a. mit Ps 44,7/8), auch die antimarkionitische Dissoziation von heteros und allos erwähnt werden: Ersteres wird bekanntlich konzediert, letzteres natürlich abgelehnt. heteros ist ja wirklich, wie Justin selbst sagt, gemeint im Sinne von "der zweite, nächste", eben "der Zahl nach, nicht der Verstandeserkenntnis". Auch die interessante Passage 2Apol 6,3 (p. 37-39) hätte m. E. einen Kommentar, beispielsweise vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Philosophie, verdient. Was zunächst nach rein fachphilosophischer Terminologie klingt (z.B. pragma dysexegeton: "eine ’schwer zu erklärende Realität’"), wird in Wahrheit recht selten in entsprechenden Kontexten verwendet ­ bei Diogenes Laërtius wird z. B. ein Werk Heraklits als dysnoeton te kai dysexegeton eingestuft (IX 13 [443,1 Long]).

Der erste Hauptteil zeigt, daß Ps 44 (45) als Teil verschiedener früher Testimoniensammlungen diente (47) und dort ziemlich konstant als Beleg für die Angemessenheit verschiedener christologischer Titel ("König" etc.) und damit für die Gottheit des Sohnes angewendet wurde (73). Das verlagert sich dann auf die Trinitätstheologie, näher auf die "ökonomische" Frage, "wo es um die Stellung und Funktion der ’Personen’ in der Offenbarung geht" (120). Eine interessante (und dann doch wieder nicht überraschende) Sonderrolle nimmt Origenes ein ­ während die anderen Theologen der vornizänischen Zeit eine besondere Schwierigkeit des Textes, nämlich das harte eructavit/exereuxato (wörtlich: "er hat ausgespien, ausgerülpst": Ps 44,2) ignorieren, wird der Alexandriner dadurch zu Vorbehalten gegenüber einer trinitätstheologischen Auslegung gebracht; Bedenken, die er freilich auch nicht durchhält.

Es folgen im zweiten Hauptteil zur "Krise der trinitätstheologischen Deutung" im arianischen Streit zunächst Bemerkungen zu Arius, Urk. 1,3 (p. 2,7 Opitz) ­ der Häresiarch lehnt dort be-kanntlich ab, daß der Sohn eryge des Vaters sei. G. schließt u. a. aus dieser Stelle, daß Arius in Anspielung auf Ps 44 (45),2 wohl die ganze bisherige trinitätstheologische Deutung jenes Psalmverses abgelehnt habe (133-137). Diesem Vorgehen mißt G. entscheidende Bedeutung zu; es führte bei späteren Exegeten zu einem "sorgfältigeren Umgang mit metaphorischen Texten" (393), auch dann, wenn sie die trinitätstheologische Deutung des Verses im Einzelfall nicht erneuerten. Parallel etabliert sich eine 2. Interpretationsmöglichkeit ex persona Prophetae bei so verschiedenen Theologen wie Basilius und Diodor bzw. Theodor.

Für die historische Überprüfung dieser von der Vfn. herauspräparierten Linie von arianischer These zu antiarianischer Gegenthese ist m. E. folgendes, höchstwahrscheinlich aus einer der Arbeiten des Origenes zu den Psalmen stammende Katenenstück zu Ps 44,2 von schlechthin entscheidender Bedeutung. Vgl. die griechische Aufführung dieses Stückes in seiner zuverlässigsten Bezeugung: ThLZ 4/1996, Sp. 377. Leider wertet die Vfn. das Textstück nicht aus, weil sie Autorschaft und Gattung für ungeklärt hält (p. 65 n. 130); diese Vorsicht ist übertrieben. Aus diesem Passus und den von der Vfn. behandelten aus dem Johannes-Kommentar ergibt sich aber klar, daß sich schon Origenes gegen die schlichte christologische ’Anwendung’ des Psalmverses gewendet hat, ohne doch deswegen die trinitätstheologische Deutung des Textes auszuschließen (Jo. I 280 esto gar ton patera tauta [Ps 44,2] legein p. 49,23 Preuschen). Dann ist aber Arius, indem er die gesamte trinitarische Auslegung von Ps 44,2 ablehnte, nur einfach weit hinter das dialektisch-methodische Differenzierungsniveau des Origenes zurückgefallen und die antiarianische, metapherntheoretische Differenzierung eine schlichte Fortsetzung alexandrinischer philologischer Gelehrsamkeit. G. supponiert beim alexandrinischen Presbyter Arius freilich ein gutes philosophisches Bildungsniveau und erklärt seine Bemerkung mit ’metaphernkritischen’ Überlegungen. Sie beurteilt ihn daher freundlicher und Athanasius, der unverdrossen weiter den Vers Ps 44,2 im christologischen Sinne verwendet, entsprechend negativ (142 f.).

Die Untersuchung schreitet zu den unterschiedlichen Interpretationen von Ps 44,7/8 fort; die Vfn. zeigt, daß auch hier durch die Entfaltung der christologischen Hermeneutik die "arianische Sprachkritik" (200) entkräftet worden sei.

Der dritte Teil beschäftigt sich daher mit der ’christologischen Argumentation’ und dem ’Christusbild in den Psalmenauslegungen zwischen Nicaea und Chalcedon’. Er beginnt mit einleitenden Bemerkungen zur Hermeneutik des Psalters u. a. anhand der Kommentarprologe bei Origenes, Hilarius, Diodor und Theodoret (205-217) und weiterer Psalmenkommentare (208-217), die man an dieser Stelle eigentlich nicht erwartet, zumal später Bemerkungen zu Theodor von Mopsuestia und (Ps.-?)Diodor von Tarsus nachgetragen werden (256-261). Eines der Ergebnisse dieses Abschnittes zeigt, daß jene Ausführungen besser hätten an den Anfang der Untersuchungen gestellt werden sollen: "Wenn der Psalter als Mikrokosmos der biblischen Offenbarung verstanden wird, in dem sich das gesamte christliche Leben und Lehren bündelt, hat der einzelne Psalm eine weit über einen isolierten Text hinausgehende Bedeutung" (215). Die Interpretationen von Ps 44,2 bei Didymus dem Blinden (240-254), Diodor von Tarsus (259-271), Theodor von Mopsuestia (271-285), Basilius von Cäsarea (286-315), Johannes Chrysostomos (316-345), Theodoret (346-364), Cyrill (364-389) und Nestorius (378-382) zeigen, wie beide Autoren unter den Bedingungen ihrer jeweils verschiedenen Hermeneutik mit Hilfe der Stelle gegen Neuarianismus und Apolinarismus argumentieren. Christi Göttlichkeit und Herrlichkeit steht im Mittelpunkt; vor allem die Antiochener versuchen, das "Menschsein" Jesu "herauszuarbeiten, kommen aber über Ansätze zu einzelnen Versen kaum hinaus" (409). "Wo von der Menschheit Christi die Rede ist, wird stets seine Besonderheit betont" (410). Chrysostomos reagiert z. B. auf die "neuarianische Sprachkritik", zieht eine trinitätstheologische Deutung von Ps 44,2 erst gar nicht in Betracht (342).

Auch hier wären wieder Bemerkungen zu einzelnen Interpretationen möglich, wie zwei Beispiele zeigen können: Theodors Auslegung von Ps 44,7 richtet sich natürlich ganz deutlich gegen Markell (anders die Vfn. p. 273), wenn (SeT 93, 287a,2 f. Devreesse) von der Ewigkeit des Königtums Christi gesprochen wird. Eine Namensnennung ist hier nicht mehr nötig gewesen. Theodors Exegese von Ps 44,9a enthält mit der Kleidungsmetaphorik ein zentrales Element antiochenischer Christologie (p. 290, 13-15 Devreesse).

G. führt ihre Leser durch große Mengen sehr disparater Texte. Daß man dabei mit ihr über einzelne Interpretationen (und vor allem über die Bewertung der Exegese des Arius) diskutieren kann, scheint mir kein Nachteil dieser Arbeit zu sein. Leider wird nicht immer ganz deutlich, inwiefern Ps 44 (45) nun tatsächlich der paradigmatische Leittext für die referierten Diskussionen sein soll und wie sich Schriftbeleg und theologische Theorie hinsichtlich der Konstitutionsabfolge zueinander verhalten. Spielt Ps 44 wirklich eine aktive Rolle für die Ausbildung von theologischen Positionen? Oder ist er mehr oder weniger ein Beleg für anderswo gewonnene Überzeugungen? Eigentlich sollte man beim Lesen dieses Buches auch immer die sechs Bände der ’Biblia Patristica’ danebenlegen, damit erkennbar wird, wie häufig ein antiker Autor den betreffenden Psalm im Verhältnis zu anderen zentralen Texten zitiert ­ natürlich ist hier Statistik nicht alles, aber mindestens ein Indiz für eine Antwort auf die skizzierten Fragen. Basilius kapriziert sich beispielsweise besonders auf Ps 44,3 und die Schönheit Christi (Vfn., p. 298-301); aber er tut dies natürlich nicht, weil er als einziger den entsprechenden Psalmvers gründlich gelesen hat, sondern weil er anderswoher für das Thema sensibilisiert worden ist. Eine terminologische Inkonsequenz ist mir aufgefallen: In den Überschriften redet die Vfn. von einer "prosopologischen", im Haupttext dann mehr von einer "Person-Exegese" (z. B. mit H. R. Drobner). Der ältere Begriff "prosopographisch" wird von G. mit Recht abgewiesen "aufgrund der Tatsache, daß der Begriff ’Prosopographie’ besetzt ist" (29 Anm. 71).

Die Arbeit ist sorgfältig angefertigt; es wird vor dem Hintergrund einer soliden Literaturkenntnis argumentiert. Leider verzichtet die Vfn. im Verzeichnis (p. 418-428) auf die Reihentitel; Literaturnachträge sind praktisch nur für den Zeitraum zwischen Fertigstellung der Dissertation (1992) und ihrem Erscheinen (1994) vorzunehmen:

Einige Beispiele: zu S. 43 (LXX-Text Justins): M. Hengel, Die "Septuaginta" als "christliche Schriftensammlung", in: M. Hengel/ A. M. Schwemer (Hrsg.), Die Septuaginta, WUNT 72, 1994, 182-284, bes. 190-198; zu S. 94 (Hippolyt) C. Scholten, Art. Hippolytos II (von Rom), RAC XV, 1991, 492-551; zu S. 22 f. 31-33. 54 f. usw. (Ps 109/110): Ch. Markschies, "Sessio ad Dexteram", in: M. Philonenko (Hrsg.), Le Trône de Dieu, WUNT 69, 1993, 252-317 (diese Studie sollte gelegentlich um einige fehlende Texte ergänzt werden, z. B. BHG 1076 z); schließlich zu S. 148: K. Seibt, Die Theologie des Markell von Ankyra, AKG 59, 1994. Indices zu den Namen der antiken Autoren und den Bibeltexten beschließen das Buch; leider fehlt ein Stellenregister.

Mir scheint übrigens als evangelischem Kirchenhistoriker die vorliegende Untersuchung einer katholischen Kollegin auch ein glänzendes Beispiel dafür, daß selbst dann, wenn man in Ebelings Programmformel einer "Kirchengeschichte als Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift" "Auslegung" im denkbar schlichtesten Sinne als Geschichte der Exegese einer einzelnen Perikope nimmt, spannende Ergebnisse für die Kirchen- und Theologiegeschichte insgesamt gewonnen werden können ­ vorausgesetzt, man wählt die richtigen Texte!