Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/2013

Spalte:

507–509

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Schlag, Thomas, u. Robert Schelander [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Moral und Ethik in Kinderbibeln. Kinderbibelforschung in historischer und religionspädagogischer Perspektive.

Verlag:

Göttingen: V & R unipress 2011. 402 S. m. 107 Abb. = Arbeiten zur Religionspädagogik, 46. Geb. EUR 53,90. ISBN 978-3-89971-813-3.

Rezensent:

David Käbisch

Kinderbibeln fehlen in kaum einem Kinderzimmer. Seit der Jahrtausendwende sind nicht weniger als 150 neue Kinderbibeln er­schienen, die von Paten, Eltern und Großeltern gern verschenkt werden. Hinzu kommen zahlreiche Multimedia-Angebote und Online-Kinderbibeln, die ebenfalls unter diese Gattung fallen. Nicht selten verbinden Erwachsene damit die Erwartung, dass Kinder mit der biblischen Erzählwelt nicht nur unterhalten, sondern auch ›moralisch-ethisch‹ erzogen werden. Der Sammelband, der auf das 6. Internationale Forschungskolloquium Kinderbibeln im Jahr 2009 in Zürich zurückgeht, wendet sich damit einem zentralen Thema religiöser Bildung, Erziehung und Sozialisation zu.
Thomas Schlag, der gemeinsam mit Robert Schelander die 17 Einzelbeiträge herausgegeben hat, präzisiert in seinen »religionspädagogischen Grundüberlegungen« (11–32) den Titel des Sammelbandes dahingehend, dass er zwischen moralischer Erziehung (z. B. in der Familie) und christlich-ethischer Bildung (z. B. in der Schule) unterscheidet. Die Moral beziehe sich demnach auf die Normen und Werte, die in einer Gesellschaft (selbstverständlich) gelten, der Begriff der Ethik hingegen auf das Handeln in Entscheidungssituationen, was »ethische Urteilsbildung und Handlungsbefähigung« voraussetze (15). In diesem Sinn beschreibt Schlag sieben moralrelevante Bibelinhalte, die im Unterricht der »ethischen Reflexion im Sinn des gemeinsamen Durch-, Nach- und Weiterdenkens« zugeführt werden sollten (16). Dazu zählen u.a. die Dimension der Gewalt (z.B. Kain und Abel), die Dimension der Grausamkeit (z.B. Salomos Urteil) und die Dimension der Ungerechtigkeit (z.B. bei den Propheten).
Die ersten Beiträge haben ihren Schwerpunkt in der historischen Religionspädagogik. So beschreibt Reinmar Tschirch mit Jakob Fried­rich Feddersen und Heinrich Philipp Conrad Henke zwei »Kinder­bibelautoren der Aufklärungszeit« (33–44), und auch Katja Eichler wendet sich mit den Kinderbibeln der Brüder Kaspar Friedrich und Rudolph Christoph Lossius dieser Epoche zu (45–68). Beide gelangen zu dem nachvollziehbar begründeten Ergebnis, dass die Texte »den Leser zu moralischem und tugendhaftem Verhalten anleiten« sollten (68), was im Einzelnen freilich zu ganz unterschiedlichen Bildprogrammen und (kindgemäßen) Textbearbeitungen führte. Reinhard Wunderlich erhellt mit Johann Peter Hebels Biblischen Geschichten die »Moral zwischen Aufklärung und Biedermeier« (69–96), die im Großen und Ganzen der Überzeugung folgte, dass es »keine Moral ohne Religion« geben könne (88). Erwähnt sei in diesem thematischen Zusammenhang auch der Beitrag von Edith Aller, die (am Beispiel der Erzählung von David und Batseba) den moralischen Sprachgebrauch in dänischen Kinderbibeln seit der Voraufklärung nachzeichnet (135–144). Sie gibt damit auch ein Beispiel einer international-vergleichenden Religionspädagogik.
Die meisten Artikel des Sammelbandes gehen von der (klärungsbedürftigen) Prämisse aus, dass der Religionsunterricht und die Beschäftigung mit der Bibel auch heute der Werterziehung zu dienen habe. So konstatieren Christine Reents und Christoph Melchior in ihrem Beitrag zu den Menschenrechten in Kinder- und Schulbibeln, dass die Bibel »ein gesellschaftlich und individuell relevantes Buch mit Grundrechten und Pflichten in der Gesellschaft« (98) und damit »eine Basis der Ethik und Kultur« (119) sei. Ihre Ausführungen, in denen sie u. a. auf die biblischen Wurzeln der Menschenrechte eingeht, münden in der Forderung nach einer neuen Schulbibel, in die menschenrechtsrelevante Texte (z. B. das Eintreten für Fremde wie Rut) aufgenommen werden. Das Problem, dass aus der (keineswegs unumstrittenen) Genese der Menschenrechte aus der biblischen Gedankenwelt nicht ohne Weiteres ihre heutige Geltung resultiert, wird hier ebenso wenig diskutiert wie die Frage, inwieweit die neuzeitliche Unterscheidung von Religion und Ethik bzw. Religion und Politik eine Errungenschaft ist, die gerade um der Einhaltung der Menschenrechte willen strikt zu wahren ist.
Ähnliche Rückfragen ergeben sich auch gegenüber dem Beitrag von David Németh, der ethische Schlüsselprobleme in neueren ungarischen Kinderbibeln beschreibt (145–173). Er folgt dabei einer von Martin Rothgangel zusammengestellten Liste an 21 Schlüsselproblemen, um u. a. die Schöpfungserzählung der Umweltfrage, die Eroberung Jerichos der Friedensfrage, die biblischen Hungersnöte der Welternährungsfrage, Sauls Eifersucht der Herrschaftsfrage und die Königin von Saba der Globalisierungsfrage zuzuordnen. Németh gibt dabei selbst zu erkennen, dass »das Leben gegenwärtig durch Probleme erschwert wird, für deren Lösung wir nur sehr mittelbar Impulse aus den biblischen Geschichten gewinnen können« (172). Die bildungstheoretischen und theologischen Grenzen einer an Schlüsselproblemen (und damit an Wolfgang Klafki) orientierten Bibeldidaktik werden damit angedeutet, aber nicht weiter problematisiert.
Eine Untergliederung der Artikel in solche, die sich mit dem Thema des Sammelbandes beschäftigen, und solche, die die Ge­schichte der Kinderbibel allgemein (z. B. unter gattungsgeschichtlichen Ge­sichtspunkten) beschreiben, wäre leicht zu bewerkstelligen gewesen, zumal die Herausgeber auf die thematische Zweiteilung oder genauer: die thematische Horizonterweiterung hin­weisen (9). So bieten Reents und Melchior in ihrer »Geschichte der Kinder- und Schulbibel im Überblick« (247–278) eine anschaulich bebilderte Kurzfassung ihres opus magnum, das ebenfalls in den »Arbeiten zur Religionspädagogik« (als Band 48) erschienen ist. Bezüge zum Leitthema werden hier nur angedeutet, aber nicht ausgeführt (z.B. der Hinweis auf »moralische Zeigefinger« in Kleinkinderbibeln, 272).
Neben Gottfried Adams Beitrag zu dem »übersehenen Genre« der Daumenbibel (z.B. John Taylors 1614 erschienene englische Thumb-Bibel in Versform und die 1824 in den USA erschienene »History of the Bibel« in Prosa) wendet sich auch Stefan Huber einem histo­-rischen Thema zu, genauer: der Wahrnehmung des Kindes anhand von Kupferstichen aus den Bibel-Historien des Berner Geistlichen Abraham Kyburz. Dessen detailgetreue, realistische Darstellung von Gewalt und Sexualität versteht Huber als »Exempel für eine pietistische Frömmigkeit, in welcher Tugend belohnt, Laster hingegen bestraft werden« (303). Unter den übrigen Beiträgen, die sich »Babybibeln« (Irene Renz, 205–230), multimedialen Kinderbibeln (Daniel Schüttlöffel, 231–245), der »Pluriszenität als Bild-Konzeption« (Ma­ri­on Keuchen, 309–345) und der Entwicklung von Bibeln mit Kindern (Agnes Liebi/Brigitte Welter, 379–391) zuwenden, haben noch drei weitere Beiträge einen direkten Bezug zum Thema des Sammelbandes. So beschreibt Thomas Nauerth Kinderbibeln »als Ort narrativer Ethik« (347–359), und Martina Steinkühler legt dar, wie bei der inhaltlichen Gestaltung von biblischen Erzählungen darauf geachtet werden kann, dass »wachsam von Gut und Böse« gesprochen wird (361–378). In diesen thematischen Zusammenhang gehört auch das Dissertationsprojekt von Volker Menke, der neuere Kinderbibeln daraufhin untersucht, wie in ihnen die zehn Gebote bearbeitet und präsentiert werden (121–133).
Das beigefügte Bibelstellenregister ist leider fehlerhaft und un­vollständig. So beziehen sich die beiden Seitenangaben zu Lk 15 vermutlich auf eine frühere Druckversion (vgl. die angegebenen Seiten 25 und 345), während umgekehrt die häufigen Bezugnahmen auf die Erzählung vom Verlorenen Sohn nicht im Register aufgeführt sind (vgl. 35.37.40.168.363 u. ö.). Ebenso verhält es sich mit der in Kinderbibeln sehr beliebten Erzählung vom Barmherzigen Samariter Lk 10 (die zutreffenden Seitenzahlen lauten 13.35.38.40.101.130. 132.162.171.197.214.325.363 und 375). Das Namenregister ist hilfreich, doch wird dem Leser nicht deutlich, nach welchen Kriterien die Fundstellen ausgewählt wurden (so fehlen etwa die sehr erhellenden Ausführungen zu August Hermann Francke, 300–307, und Feddersen, 35–38.247 und 263). Der Band verzichtet zudem auf ein Sachregister, so dass es dem Leser nicht möglich ist, eigenen Fragestellungen nachzugehen (z. B. der Frage, inwieweit die von Schlag genannten Di­mensionen der Gewalt, Grausamkeit und Ungerechtigkeit oder die von Németh beschriebenen Schlüsselprobleme auch in anderen Beiträgen eine Rolle spielen). Ansonsten ist der Band (nicht zuletzt wegen der 107 Abbildungen) sehr ansprechend und leserfreundlich gestaltet.
Der Sammelband dokumentiert die Vielfalt an historischen, sys­tematischen, international-vergleichenden, didaktischen und me­thodischen Aspekten, die das Thema mit sich bringt. Empirische Erkenntnisinteressen wie die Wahrnehmung und Rezeption »mo­-ralrelevanter« Bibeltexte im Kindesalter treten demgegenüber zu­rück. Auch die Frage, ob und wie die von Paten, Eltern und Großeltern gern verschenkten Kinderbibeln tatsächlich gelesen wurden und werden, ist mit dem Hinweis auf Auflagenzahlen und Neuerscheinungen noch nicht beantwortet. Im Blick auf diese und andere Forschungsdesiderate kann man damit auf die weitere Arbeit des Forschungskolloquiums mehr als gespannt sein.