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Ausgabe:

April/2013

Spalte:

500–502

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Schulze, Ursula

Titel/Untertitel:

Geistliche Spiele im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Von der liturgischen Feier zum Schauspiel. Eine Einführung.

Verlag:

Berlin: Erich Schmidt Verlag 2012. 264 S. m. 12 Abb. Kart. EUR 39,80. ISBN 978-3-503-13717-6.

Rezensent:

Jörg Neijenhuis

Geistliche Spiele waren im späten Mittelalter neben der muttersprachlichen Predigt (Pronaus) das Massenmedium, das geistliche Inhalte – und davon insbesondere das Leben Jesu – unter Einsatz theatraler Mittel veranschaulichte und auch vergegenwärtigte. Die nicht schulisch und universitär gebildeten Zuschauer konnten so emotional einen Zugang zu grundlegenden Inhalten des christlichen Glaubens finden; da die Messe ja lateinisch gefeiert wurde, fand dabei kaum eine Inhaltsvermittlung statt, zudem die Messe als Opfermesse auch eine andere Intention hatte.
Ursula Schulze führt in die Geistlichen Spiele ein, wie sie vom 13. bis zum 16. Jh. aufgeführt wurden. Zuerst stellt sie die Definition und Terminologie der Geistlichen Spiele, Aspekte ihrer Erforschung, die Beziehung zwischen Kult und Spiel, die Entstehungsbedingungen der Spiele und ihre Wirkung und Problematisierung vor.
Die Texte der Spiele wurden überliefert als Spielhandschriften, Regieexemplare, Rollentexte für bestimmte Spieler, darüber hinaus gibt es auch vollständige Aufzeichnungen, die zur Archivierung oder zum Lesen bestimmt waren. Die sprachliche, musikalische und strukturelle Konstitution der Geistlichen Spiele wird anhand von Rollentexten, Gesängen, Spielanweisungen und der formalen Struktur (Ereignisfolge eines Spiels) analysiert. Als Aufführungsort kam z. B. der Altarbereich einer Kirche in Frage, und da die Spieler oftmals Priester und andere Personen der Geistlichkeit (z. B. Dia­­-kone, Ministranten, Chorknaben) waren, gab es für den Laien kaum Anhaltspunkte, um ein Geistliches Spiel von einer liturgischen Sa­kralhandlung unterscheiden zu können. Andere Aufführungsorte waren der Vorplatz einer Kirche oder der Marktplatz, wo eine Bühne auf gebaut wurde. Die Veranstalter der Spiele waren zunächst die Geistlichen, später taten sich auch engagierte Bürger oder Bruderschaften als Veranstalter hervor, so dass nun auch Laien als Spieler eingesetzt wurden, zumal gelegentlich mehr als 100 Spieler mitwirken konnten. Neben der Bühne konnte auch eine Prozession durch die Stadt oder durch die Kirchen einer Stadt als Aufführungsmöglichkeit genutzt werden, jedenfalls legen Bühnenpläne dies nahe. Die Geistlichen Spiele lassen sich unterschiedlichen Typen zuordnen: Osterspiele, Weihnachtsspiele, Passionsspiele, Ma­rienklagen, Maria-Magdalenen-Spiele, Fronleichnamsspiele. Es finden sich noch andere festtagsbezogene Spiele – Himmelfahrtsspiel, Pfingstspiel – und Endzeitspiele, zu Letzteren werden auch das Antichristspiel und das Zehnjungfrauenspiel gezählt. Ebenso wurden alttestamentliche Stoffe gespielt, so vom Sündenfall und von der Erlösung, das Susannaspiel, das David- und Goliath-Spiel. Auch Legenden wurden gespielt: Mariä Himmelfahrt, Theophilusspiele (Theophilus geht einen Bund mit dem Teufel ein, aufgrund einer Predigt bekehrt er sich und erhält durch Mariens und Christi Fürsprache Gnade bei Gott), Frau Jutten-Spiel (Jutta wird vom Teufel dazu verführt, sich als Mann zu verkleiden, um dann zum Papst gewählt zu werden; auch sie erhält Vergebung von Gott aufgrund ihrer Reue und Buße), Heiligenspiele über Katharina, Dorothea, Georg und Heiligkreuzspiele. Es zählen auch Moralitätenspiele dazu, die als frei erfundene Spiele mit Kunstfiguren (Frau Welt oder Frau Ehre) arbeiten, um bestimmte Werte und Haltungen zu de­monstrieren.
Nach dieser Darstellung der Geistlichen Spiele arbeitet S. übergreifende thematische Aspekte heraus, die von der Grundfrage begleitet werden, wie die Zeichenhaftigkeit der vorgeführten Szenen und ihre Wirkung zu beurteilen sind: so z.B. die Abendmahlsszenen als Erläuterung der Eucharistiefeier; die Funktion von Frauenrollen, die Bedeutung der Teufelsszenen, die Bedeutung der Juden sowie Verbindungen zum mittelalterlichen Strafvollzug. Zu erkennen ist, dass die Allgegenwart Gottes, aber auch das Mitfühlen, das Mitleiden zu den wichtigen Motiven gehörten, die Geistlichen Spiele aufzuführen. Man versprach sich davon Heilswirkung.
Dass Luther gerade an diesem Punkt seine Kritik ansetzte, wundert nicht, legte er doch auf das Verstehen wert. Das fand bei der Darstellung des Abendmahls in den Geistlichen Spielen allerdings Beachtung: Jesus wird im Kreis seiner Jünger dargestellt, wie er die lateinische Messliturgie singend vollzieht, unterbrochen von deutschsprachigen Texten, die den Inhalt und Sinn der lateinischen Liturgie erklären. Auch werden Bezüge zum Tod und zur Auferstehung Jesu hergestellt. Im Frankfurter Passionsspiel tritt sogar der Kirchenvater Augustinus auf, der die historische Dimension des Erdenlebens Jesu, die Gegenwart des Spiels mitsamt den Zuschauern und den Bezug zur gottesdienstlichen Handlung erklärt. Obwohl die spätmittelalterliche Messe eine Arkanisierung der Einsetzungsworte betrieben hatte, werden sie im Geistlichen Spiel laut aufgesagt in lateinischer wie in deutscher Sprache. So können diese Spiele als liturgische vorreformatorische Bewegung gedeutet werden, die in den deutschen Messformularen der Reformatoren zum Zuge kam.
Bei der Darstellung der Frauenrollen, insbesondere der Mariens, wird viel Wert auf das Mitleiden gelegt, insbesondere hinsichtlich des Kreuzesgeschehens: Maria, die Ohnmächtige und Leidende, Maria, die Mittlerin zwischen Gott und Mensch. Andererseits wird die Bedeutung der Teufelsszenen mit der Frauenrolle verbunden, wenn der Teufel den Frauen einflüstert, Männer zu böse Taten anzustiften. Ebenso wird die Höllenfahrt Christi oder der Engelsturz genutzt, um die allgegenwärtige Angst im Mittelalter vor dem Teufel und der Hölle zu verringern. Die Juden werden als Verblendete dargestellt in der Rolle der Un­gläubigen, Christenverfolger, Lügner und geldgierigen Schacher.
Mit ihrer Absicht und Wirkung mussten die Geistlichen Spiele als paraliturgische Feiern erscheinen; die Zuschauer wurden emotional und ggf. auch kognitiv angesprochen durch ein instrumentelles Zusammenspiel von Medien, Bild und Wort, so dass hier eine multimediale Vermittlung von geistlichen Inhalten zustande kam. Die Geistlichen Spiele kamen an ihr Ende, da das Schultheater reformatorischerseits und die humanistische Rezeption antiker Dramen andererseits zeitgemäßere Anschlussmöglichkeiten bo­ten. Erhalten oder wieder neu aufgenommen als Geistliches Spiel wurden z. B. die Oberammergauer Passionsspiele oder die Salzburger Jedermann-Aufführungen. Auch daran ist bis heute erkennbar, welche performativen Potenzen in diesen Geistlichen Spielen vorhanden sind und zur Wirkung kamen und kommen. Es ist das Verdienst von S., in dieser Einführung auch die performative Seite dieser Spiele und nicht allein ihre literarische Gestaltung zur Geltung gebracht zu haben. Bei einer Beurteilung, wie tief und wie umfangreich geistliche Bildung in diesen Zeitepochen stattgefunden hat, müssen die Geistlichen Spiele Berücksichtigung finden.