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Ausgabe:

April/2013

Spalte:

497–500

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Meyer-Blanck, Michael

Titel/Untertitel:

Gottesdienstlehre.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2011. XVII, 564 S. = Neue Theologische Grundrisse. Kart. EUR 39,00. ISBN 978-3-16-149171-9.

Rezensent:

Albert Gerhards

Der Bonner Theologe Michael Meyer-Blanck legt mit seiner Gottesdienstlehre ein aufgrund der inhaltlichen und methodischen Ausrichtung außergewöhnliches Werk vor: inhaltlich, weil hier Liturgik und Homiletik, Ritus und Rede, erstmals miteinander in Beziehung gesetzt und schließlich verschränkt werden. Die methodische Besonderheit liegt in der Multiperspektivität in Form von sechs »Bedingungsfeldern«, die im siebten Kapitel, das dem Ablauf des evangelischen Gottesdienstes folgt, zusammengeführt werden. Dadurch »kommen zwangsläufig der homiletische Bezug des gesamten Gottesdienstes und der liturgische Kontext der Predigt immer deutlicher in den Blick« (ebd.).
Kapitel1 ist mit »Prolegomena der Gottesdienstlehre« überschrieben. Hier wird zunächst das eigene Verständnis von Gottesdienstlehre geklärt. Predigt und Liturgie stehen in einer fruchtbaren Spannung zueinander. Erstere kann als »Widerspruch zum Ritus im Kontext des Ritus« (2) verstanden werden, als eine Art regelrechter Regelverletzung des rituellen Handelns durch rhetorisches Handeln oder als Teil des gottesdienstlichen Rituals, der dieses deutet. Im weiteren Verlauf des ersten Kapitels werden die unterschiedlichen Bezüge und damit die interdisziplinäre Ausrichtung der Gottesdienstlehre dargestellt. Für den Vf. ist insbesondere die Semiotik als Bezugswissenschaft von Bedeutung. Hinzu kommen handlungs- und kommunikationswissenschaftliche As­pekte sowie die moderne Ritualforschung.
Anders als man erwarten würde, folgt auf das Grundlagenkapitel eine systematische Gottesdienstlehre. Der Grund: Jede historische Darlegung beruht auf systematischen Prämissen. Nach methodologischen Vorüberlegungen wird zunächst die Bedeutung des biblischen Gottesdienstverständnisses dargestellt, darauf folgen Ausführungen über implizite Modelle in der Liturgiegeschichte, die Bedeutung der Dogmatik und des Betens für die Gottesdienstlehre sowie das Verhältnis von Wort und Sakrament. In den Ausführungen über die Bedeutung der Dogmatik fällt die Überschrift »Korrelative Verhältnisbestimmung von Gottesdienstlehre und Dogmatik« in den Blick. Dem Vf. zufolge sind »die Mitteilung und Darstellung des Evangeliums und die Lehre des Evangeliums gleich ursprünglich« (114). Zwar ist der Gottesdienst eine wichtige Quelle der Dogmatik, doch zugleich stellt diese Reflexionskate­gorien für die im Gottesdienst mitgeteilten und dargestellten In­-halte zur Verfügung. Gegenüber dem Sakrament gilt das Wort als »umfassende evangelische Metapher«. Beide Größen sind aufeinander bezogen, zugleich aber auch zu unterscheidende Mitteilungs- und Darstellungsformen des Evangeliums.
Kapitel 3 betrifft die historische Perspektive. Zunächst werden die Wurzeln des evangelischen Gottesdienstes in der Alten Kirche behandelt, darauf die Entstehung des evangelischen Gottesdiens­tes an der Schwelle von Mittelalter und Neuzeit. Der Vf. geht hier, etwa in Bezug auf den römischen Kanon, auf das zeitgenössische Verständnis ein: »Seit dem 6. Jh. hat sich aus der Mailänder und der römischen Messe der ›Kanon‹, ein um die Einsetzungsworte herum gestaltetes Gebet, gebildet, das nun für Jahrhunderte unverrückbar feststeht« (150). Es ist zwar richtig, dass der Canon Romanus in seiner überlieferten Gestalt eine symmetrisch angelegte redaktionelle Bearbeitung erkennen lässt, jedoch handelt es sich keineswegs bloß um eine »Gebetssammlung« (151). Nach neueren Erkenntnissen liegt ihm trotz seiner redaktionellen Bearbeitung noch das dynamische Konzept der altkirchlichen Anaphora zugrunde, die nicht sekundär um die Einsetzungsworte herum gebildet ist, sondern als anamnetisch-epikletisches Gebet (zu dem auch die Präfation und das Sanctus gehören) die Einsetzungsworte als »Embolismus« in sich aufnimmt. Diese stehen nicht isoliert im Kanon, sondern sind innerhalb eines Relativsatzes der Anredestruktur des Ge­bets angepasst. Hier wäre in der Terminologie Reinhard Messners zwischen einer primären und einer sekundären Kanonhermeneutik zu unterscheiden. Letztere musste geradezu zwangsläufig in der Sicht der Reformatoren zur Abschaffung der Kanongebete führen.
Kapitel 4 bringt die empirische Perspektive ein, die innerhalb der deutschsprachigen Liturgiewissenschaft eher noch in den Kinderschuhen steckt. Nach grundsätzlichen phänomenologischen Überlegungen und quantitativen Daten geht es um Milieutheorien und qualitative Daten, um Entwicklungspsychologie und geschlechtsspezifische Voraussetzungen. Wichtige Impulse kommen seitens der Religionspädagogik ins Spiel. Sie sind indispensabel für eine auf die Praxis hin orientierte Liturgik, die sich nicht mit der Darstellung des Agendarischen begnügt.
Das 5. Kapitel »Gottesdienstlehre in vergleichender Perspektive« betrifft die ökumenische Dimension, in erster Linie im Blick auf die katholische Kirche, aber auch auf die Orthodoxie und den freikirchlichen Gottesdienst. Dieses Kapitel zeugt von großer Kenntnis der an­deren Traditionen und von hohem Respekt. Gleichwohl wird aufgrund des dezidiert evangelischen Standpunktes mit Kritik nicht ge­spart. Diese betrifft in Bezug auf die katholische Kirche etwa die nach wie vor nicht zufriedenstellend geklärte »Teilnahme« der Gemeinde am liturgischen Geschehen, d. h. die immer noch offene Frage des Verhältnisses von allgemeinem und besonderem Priestertum.
Unter dem Titel »Gottesdienstlehre in ästhetischer Perspektive« geht es im 6. Kapitel zunächst um den Gottesdienst als Kunstwerk, d. h. um grundsätzliche Fragen der Ästhetik. Das Konzept des »offenen Kunstwerks« (Umberto Eco) wird zeichentheoretisch reflektiert anhand eines dreistelligen Zeichenbegriffs, der den Prozess der Darstellung mit einbezieht: »Lied, Gebet und rituelle Handlungen dienen nicht nur dem Ausdruck von Subjektivität, sondern auch der Konstitution und Bildung von Subjektivität« (352). Mit dem Verständnis der Liturgie als Inszenierung des Evangeliums kann der Vf. das genuine Spannungsfeld gottesdienstlichen Handelns charakterisieren. Es geht um liturgische Authentizität, »die von der privaten Mitteilung ebenso abzugrenzen ist wie von einem lediglich imitierenden Befolgen von Vorgaben (Rubrizismus)« (387).
Das umfangreichste 7. Kapitel betrifft die Gottesdienstlehre in handlungsorientierter Perspektive. Gottesdienstliche Dramaturgie besteht in der Inszenierung von Schwelle und Unterbrechung. Behandelt wird der evangelische Hauptgottesdienst (Quellen: »Evangelisches Gottesdienstbuch« und »Reformierte Liturgie« aus dem Jahr 1999) von Eröffnung und Anrufung bis zu Sendung und Segen. Dabei werden die verschiedenen methodischen Zugänge miteinander verschränkt. Es beginnt mit einer prinzipiellen Ho­miletik, der eine materiale Homiletik (Lesungen und Predigttexte sowie ihre Funktion) folgt. Unter formaler Homiletik werden das predigende Subjekt, das Ziel der Predigt, die Rhetorik sowie der Aufbau der Predigt gesondert behandelt. Auf relativ knappem Raum kommt das Abendmahl zur Darstellung, wobei auch dieses wiederum in seinem theologischen und liturgischen Verhältnis zur Predigt betrachtet wird. Nach dem abschließenden Unterkapitel Sendung und Segen folgen noch Ausführungen über die Dramaturgie des Gottesdienstes sowie über Planung und Vorbereitung von Gottesdienst und Predigt. Das Buch schließt mit einem Rückblick und Ausblick, der noch einmal die Intention des Vf.s präzisiert, Predigt und Liturgie miteinander zu verklammern. Daraus erklärt sich auch die weitgehend materiale Beschränkung auf den Sonntagsgottesdienst.
Als Teil der Praktischen Theologie versteht der Vf. die Gottesdienstlehre als »Verbundwissenschaft«. Keine der in diesem Buch dargestellten Perspektiven ist entbehrlich, will man dem Gegenstand gerecht werden. Die hier eingenommene zeichentheoretische Position soll als Schritt zu einer integrativen Theorie des Gottesdienstes verstanden werden: »Gerade durch die Unterbrechung des Rituals setzt die rhetorische Kommunikation dabei das Rituelle ins Licht. Umgekehrt verläuft der Zeichensetzungsprozess bei der ri­tuellen Darstellung auf dem Weg von der objektiven Tradition (Schrift, Ordinarium und Proprium) hin zum individuellen Verstehen« (546). Am Ende kommt der Vf. noch einmal auf die ökumenische Dimension zu sprechen. Ihm ist auch aus katholischer Sicht darin zuzustimmen, dass der Gottesdienst »die öffentlich dargestellte Gewissheit« ist, »dass der Herr selbst mit den Menschen reden will und dass sie ihm antworten können in Gebet und Lobgesang.« (547). Als ökumenische Liturgiewissenschaft ist diese sicherlich auch eine Disziplin der Wahrnehmung von Differenzen, zugleich aber auch eine »Disziplin der Hoffnung auf die Zukunft« (548), die die Unterschiedlichkeit der Traditionen und kirchlichen Wirklichkeiten nicht als Trennendes, sondern als symphonische Vielfalt wahrnimmt. Der Band gibt in seiner methodischen und inhaltlichen Konzeption sowie seiner theologischen Reflexion dazu reiches Material an die Hand, nicht nur für evangelische Leserinnen und Leser, sondern auch für Interessierte anderer Konfessionen.