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Ausgabe:

April/2013

Spalte:

494–496

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Häußling, Angelus Albert

Titel/Untertitel:

Tagzeitenliturgie in Geschichte und Gegenwart. Historische und theologische Studien. Hrsg. v. M. Klöckener.

Verlag:

Münster: Aschendorff 2012. 340 S. = Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen, 100. Kart. EUR 48,00. ISBN 978-3-402-11263-2.

Rezensent:

Michael Meyer-Blanck

Angelus Häußling, emeritierter Liturgiewissenschaftler in Benediktbeuern und Mönch der Abtei Maria Laach, ist der gegenwärtig beste Kenner der Geschichte der Tagzeitenliturgie. Zu seinem 80. Geburtstag hat Martin Klöckener (Freiburg/Schweiz) 18 Arbeiten H.s aus den Jahren 1966–2009 zusammengestellt. Dabei stammen die meisten Publikationen aus dem letzten Jahrzehnt, hinzu kommt eine Originalveröffentlichung (Chronik der neuzeitlichen Geschichte der Tagzeitenliturgie in der Westkirche. Zeittafel der Brevierveränderungen und -reformen vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 69–90).
Die Beiträge des Bandes sind in historischer Abfolge geordnet. Nach einer Abteilung mit Gesamtdarstellungen H.s (u. a. aus Lexika, 24–126) folgen Studien zum Mittelalter (128–162), zur nachreformatorischen Zeit (164–238), zur monastischen Praxis und Reform im 18. Jh. (240–280) und schließlich zu den Reformen im 20. Jh. (282–310). Martin Klöckener hat dem Band eine einleitende Würdigung beigegeben (15–22), eine fast 200 Titel umfassende Publikationsliste H.s für die Jahre 1997–2012 schließt sich an (312–324). Beigegeben sind ferner ein Verzeichnis der Erstveröffentlichungen und ein Register. Der Band ist hervorragend lektoriert und fehlerkorrigiert.
Auffällig an den meisten dieser Studien ist es, wie das historische Interesse nicht für sich steht, sondern immer auf einen liturgietheologischen und liturgiereformerischen Zielpunkt verweist. Aus der sorgfältigen Analyse von oftmals zunächst etwas entlegen scheinenden Gegenständen entstehen damit Impulse zur Wahrnehmung und Gestaltung von liturgischer Praxis. Dies bezieht sich auf die Tagzeitenliturgie, greift aber weit über diese hinaus. Als Einführung durch H. selbst liest man am besten die vorletzte, zu­erst im Jahre 2004 publizierte Studie »Tagzeitenliturgie: Irrwege und Wege« (292–301). In diesem Text werden viele Linien des Bandes zusammengeführt, die zuvor an anderen Stellen differenziert nachgezeichnet wurden. H. bevorzugt den Begriff »Tagzeitenliturgie« gegenüber demjenigen des »Stundengebetes«, weil das Wort »Liturgie« von vornherein auf die Kirche als eine »Gegengesellschaft« verweise (292) und – dieser zweite Grund ist wesentlich gewichtiger – weil man in den Horen eben nicht nur bete, sondern weil man dort psalmodierend biblische Rollenspiele coram Deo ins Werk setze. Getreu der benediktinischen Einsicht in die Notwendigkeit des rechten Maßes, des maßvollen Betens (hier wird das »brevis debet esse et pura oratio« aus der Benediktsregel zitiert) weist H. darauf hin, dass die Liturgie einen Weg zum Gebet markiert, ohne insgesamt als Gebet verstanden werden zu müssen. So sind nur wenige Psalmen eigentliche Gebete, »und noch weniger sind jene, die sich direkt als Gebete des Menschen unserer Tage zu Gott sprechen lassen. Das braucht uns aber gar nicht zu beunruhigen. Die Tradition der geistlichen Lehrer hat es schon immer gesagt: ›Psallieren heißt nicht: beten.‹ Das Gebet kommt nach dem Psalm, in dem Schweigen, das dem Psalm folgt« (298). Diese Be­schreibung bewahrt nicht nur vor frommer Überbeanspruchung, sondern erschließt auch die allem Liturgischen eigene Dramaturgie: Die Gemeinde spielt sich erst feiernd in das Gebet hinein. Nicht zuletzt für das Verständnis des Eingangspsalms im evangelischen Gottesdienst ist diese Sichtweise von grundlegender Bedeutung: Die Gemeinde begibt sich auf den Weg des Betens und muss dabei immer erst gebetsfähig werden.
Für H.s Verständnis des Bibelgebrauches in der Liturgie ist der Begriff der »Rollenzitation« charakteristisch (307, vgl. dazu auch die Einführung von M. Klöckener, 21 f.). Gemeint ist damit der experimentelle und sich zugleich entschieden identifizierende Gebrauch von biblischen Texten. Das zeigt H. zunächst an Lk 18,9–14: Der Pharisäer forme nach der lukanischen Erzählung stilgerecht Worte, die »aber nicht wahr sind« (306); der Zöllner dagegen greife auf Ps 51 zurück und »nimmt den Psalm des großen Sünders David als sein Wort, begibt sich wie David in die ›Rolle‹ dessen, der umkehrt– und erlangt wie David Heil […]. In der Rollenübernahme, nicht in autonomer Selbstdarstellung geschieht hier das Heil.« (306 f.) Analoges nun gilt von den lukanischen Cantica (Benedictus, Magni­ficat, Nunc dimittis) der Tagzeitenliturgie: So wie Kinder die sie ansprechenden Texte aufgreifen und einfach mitsprechen, so be­setzt und definiert die Gemeinde mit Hilfe dieser Texte »ihren nun erlangten Platz und Rang in der angekommenen Heilsgeschichte« (307). Tagzeitenliturgien werden so vom »Pensum« zum biblischen Spielfeld, das dem Menschen Möglichkeiten eröffnet, anstatt ihn fromm zu überfordern. Was damit für die Tagzeiten formuliert wurde, trifft analog für jede Form von Liturgie zu.
Von diesen liturgietheologischen Grundeinsichten her fällt in dem Band immer wieder ein klares Licht auf die Bewertung von historischen Entwicklungen der Tagzeitenliturgie. Im Hinblick auf das Mittelalter wird so die passionschristologische Konzentration des Tagzeitengebetes kritisch gesehen. Wenn nämlich die Feier der Horen nicht mehr – aufgrund der vielfältigen biblischen Identifikationsmöglichkeiten – als solche für sinnvoll erachtet und stattdessen das Miterleben der Passion Christi zum Programm erhoben wurde (128–162), dann wurde die Tagzeitenliturgie eingeebnet in die Praxis und in das allegorisierende Verständnis der Messe. Wenn die Heiligenfeste mehr und mehr das Syntagma der Texte ersetzten, dann schwand auch die Möglichkeit des Lebens mit den biblischen Rollenangeboten. Wenn Papst Leo XIII. (1878–1903) be­sondere und dazu angenehm kurze Gebetsanlässe (»Votivoffizien«) schuf, dann kam das wohl den seit damals von der Arbeitslast gedrückten Klerikern entgegen, diente aber letztlich gerade nicht einer zugleich offenen und in der Spätmoderne tragenden Hermeneutik des Psalters.
Der evangelische Leser erfährt in diesem Band viel Wertvolles über die katholische Praxis der Tagzeitenliturgie im Wandel der Jahrhunderte. Vor allem aber wird man dabei von H. gelehrt, diese Praxis als eine Auseinandersetzung über das Verständnis und den Gebrauch der Bibel in der Liturgie zu verstehen. Nicht zuletzt wird einem dadurch das evangelische Dilemma eines zwar grundsätzlich behaupteten, zugleich aber pastoraltheologisch kaum einge­lösten Prinzips »sola scriptura« vor Augen geführt.