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Ausgabe:

April/2013

Spalte:

492–494

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Elsas, Christoph [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die Würde des Menschen am Lebens­ende in Theorie und Praxis.

Verlag:

Berlin: EB-Verlag 2011. 413 S. m. Abb. = Sterben, Tod und Trauer in den Religionen und Kulturen der Welt, 2. Kart. EUR 24,80. ISBN 978-3-936912-90-6.

Rezensent:

Ralph Kunz

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Bormann, Franz-Josef, u. Gian Domenico Borasio [Hrsg.]: Sterben. Dimensionen eines anthropologischen Grundphänomens. Berlin u. a.: De Gruyter 2012. X, 677 S. m. Abb. Geb. EUR 99,95. ISBN 978-3-11-025733-5.


Der zweite Band aus der Reihe »Sterben, Tod und Trauer in den Religionen und Kulturen der Welt« verspricht im Untertitel, die Menschenwürde am Lebensende zu traktieren und hält das Versprechen nicht. Zu schwammig ist der Begriff der Würde, zu kunterbunt die Sammlung der Beiträge und zu vage das Konzept der Reihe. Das heißt wiederum nicht, dass die meisten Texte für sich gelesen keine interessante und anregende Lektüre bieten. Das Spektrum reicht von der ethnologisch reflektierten Studie über Menschenopfer von Adelheid Herrmann-Pfandt (76) über einen schönen Aufsatz zur Totenklage im Neuen Testament von Angela Standhartinger (282) bis hin zur juristischen Betrachtung zum moralischen Status des menschlichen Leichnams von Andrea Marlen Esser (372). Der polymorphe Charakter der Sammlung rechtfertigt, dass die Rezension den programmatischen Beitrag des Herausgebers stärker beachtet und sich zum Buchkonzept äußert.
Christoph Elsas entwickelt im einleitenden Beitrag (9–62) seine Sicht der religionsgeschichtlichen Grundlagen einer menschengerechten Endlichkeit und gibt zugleich einen Überblick über die im Band versammelten Beiträge. Ziel dieser Einführung ist offensichtlich, die Vielfalt der Bezüge dadurch zu bändigen, dass das Grundproblem, das sich im Umgang mit Sterbenden und Toten zeigt, als ethisches identifiziert wird. Es bestehe einerseits in der Ausgliederung der Sterbenden aus der Gemeinschaft der Lebenden und an­dererseits in der Vernichtung der Individualität der Toten. »Men schengerecht« bedeutet nach Elsas, den dehumanisierenden Po­-tenzen der Thanatosphäre entgegenzutreten, und das heißt, dem Sinnlosen Sinn zu geben. Mit Verweis auf N. Elias, C. Améry und andere Vertretern einer jüdisch-christlichen Humanität erklärt Elsas den Menschen als Kulturwesen, das Angst und Not überwindet bzw. Kontingenz mittels einer Sinngebung bewältigt, die an der Grenze des Sagbaren symbolisch und rituell kommuniziert wird. Wenn die kulturelle Einbindung von Sterben, Trauer und Tod ein Beitrag zur Vermenschlichung des Menschen sei, brauche diese Einbindung oder »Ummantelung« (13) in einer technisierten Welt aber (interkulturelle und interreligiöse) Unterstützung. Nö­tig sind Kenntnisse der Sitten und Bräuche und ein (religionswissenschaftlicher) Verstand, um ihren Sinn zu verstehen. Diesem Ziel dient der vorliegende Band. Der religionsgeschichtliche Vergleich, den er offeriert, macht auf die Differenzen innerhalb der religiösen Kulturen aufmerksam. Um den gemeinsamen Sinn darin zu erheben, braucht es freilich Verständnisbrücken. Das mystische Phi­losophieren über Endlichkeit und Unendlichkeit sei eine solche Brücke (25). Zumindest erlaubt sie Elsas, so verschiedene Konzepte wie Meister Eckharts Mystik, Rudolf Ottos Religionsphänomenologie, buddhis­tische Philosophie und Immanuel Kants Menschenwürde miteinander zu verbinden. Weil die religionsgeschichtliche Entfaltung mit dem Ziel verknüpft wird, Ähnlichkeiten in den Unähnlichkeiten aufzuspüren, müssen die im Band versammelten Konstruktionen der religiösen Welten auf ihren gemeinsamen Sinn hin dekonstruierbar und rekonstruierbar bleiben. Das leistet Hans-Jürgen Greschats typologische Annäherung an die religiösen Phäno­mene Sterben, Tod und Trauer (63–75). Sie bietet ein heuristisches Raster, um sich in den religiösen Welten zurechtzufinden. Die Typologie un­terscheidet Abstammungs-, Wiedergeburts-, Auslöschungs- und Auferstehungsreligionen und will so etwas wie einen Rahmen für die unterschiedlichen materialen Studien bieten.
Es ist offensichtlich, dass sowohl das Konzept des Menschengerechten als auch der religionsgeschichtliche Theorierahmen der Sammlung im Nachhinein »verpasst« wurden. Ob ein so grob­-maschiges Konstrukt tatsächlich hilft, die Phänomene schärfer zu erkennen? Tatsächlich lassen die materialen Skizzen prinzipielle Unterscheidungen wie jene zwischen Abstammungs- und Auferstehungsreligionen eher fragwürdig erscheinen. Zumindest fragt sich der protestantische Christ nach der Lektüre von Karl Pinggéras eindrücklicher und dichter Beschreibung des Osterglaubens in der östlich-orthodoxen Tradition, ob sich seine Konfession der Auferstehungsreligion zuordnen lässt. Vielleicht ist dieses Im-Nachhinein-Fragen auch der Reiz einer solchen Sammlung.
Mit dem Band von Franz-Josef Bormann liegt eine Sammlung von sehr konzentrierten, sachlich und fachlich sorgfältig abgefass­ten Beiträgen vor, die den verschiedenen einzelwissenschaftlichen Sichtweisen auf das Sterben Raum geben und so ein interdisziplinäres Gespräch ermöglichen. Das Buch ist in vier Teile gegliedert. Ein erster Teil versammelt human- und sozialwissenschaftliche Perspektiven (3–91), im zweiten Teil werden die medizinischen As­pekte des Sterbens traktiert (95–254); die Beiträge des dritten Teils erschließen anthropologische und normwissenschaftliche Zugänge (257–462), und eine Reihe von theologisch-spirituellen Reflexionen schließen den gehaltvollen Band ab.
Die Logik, die sich im Aufbau erkennen lässt, spiegelt in gewisser Hinsicht die erkenntnisleitenden Interessen wider, die den Dis­kurs strukturieren. Denn, wie das Roland Rau und Gabriele Doblhammer im einleitenden Beitrag darlegen, der Ausgangspunkt der aktuellen Debatte ist in der stark gestiegenen Aufmerksamkeit der epidemiologischen Aspekte des Sterbens zu sehen. Wenn vom Sterben in der modernen Gesellschaft (Klaus Feldmann) oder dem Sterben zwischen Öffentlichkeit und Tabuisierung (Thomas Macho) die Rede ist, kommen kulturelle Dynamiken in den Blick, die von den beobachtenden Wissenschaften analysiert, interpretiert und kommentiert werden. Gleichsam am anderen Ende – bezeichnenderweise im Schlussteil des Buches – kommen die Theologen zu Wort. Sie äußern sich u. a. zum biblischen Verständnis von Sterben und Tod (Walter Gross und Michael Theobald), zu dem islamischen, aber auch dem spirituellen Zugang zu einer erneuerten Kultur und Kunst des Sterbens (Karl Kardinal Lehmann). In dieser subjekt­orientierten Perspektive betrachtet wird das Sterben in erster Linie als Lebensaufgabe jedes Menschen begriffen.
Zwischen den beobachtenden und beteiligten Perspektiven auf das Sterben als menschlichem Grundphänomen kommen mit den medizinischen Aspekten praktische Gesichtspunkte der Behandlung zur Sprache. Den Auftakt macht eine instruktive Darstellung der Entwicklung und der Desiderate der Palliativmedizin in Deutschland von Christof Müller-Busch. Der Doyen der Palliativmedizin formuliert in großer Klarheit gleichsam die Mitte der versammelten Diskurse, wenn er definiert: »Zur Palliativmedizin beziehungsweise Palliative Care gehört nicht nur die Linderung körperlicher Symptome, sondern vor allem auch ein die individuelle Lebenssituation berücksichtigendes Verständnis des Leidens sowie Zeit und Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit existentiellen Fragen des Krankseins und Sterbens, die im medizinischen Alltag meist nicht gefunden wird beziehungsweise nicht vorhanden zu sein scheint.« (104)
Die folgenden philosophischen, ethischen und moraltheolo­gischen Überlegungen bieten, um einen Ausdruck aus dem oben besprochenen Band aufzugreifen, normwissenschaftliche Verständnisbrücken für den interdisziplinären Dialog. Sie belegen in ihrer Weite und Tiefe auf eindrückliche Weise die Komplexität des anthropologischen Grundphänomens Sterben. Dass dem Mainzer Bischof Lehmann das Schlusswort in diesem wissenschaftlichen Band zugestanden wird, ist nicht selbstverständlich. Bezeichnend ist auch das Zitat und seine Interpretation, das ganz am Schluss steht und tatsächlich eine Brücke schlägt. Derrida sagt, jede Beziehung zum Anderen wäre vor und nach allem anderen ein Adieu. Lehmann wechselt vom Konjunktiv in einen beherzten Indikativ und schließt mit: »Gott befohlen!« (588) Viel besser lässt sich der theologische Standpunkt nicht zusammenfassen.