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Ausgabe:

April/2013

Spalte:

490–492

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schefczyk, Michael

Titel/Untertitel:

Verantwortung für historisches Unrecht. Eine philosophische Untersuchung.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2012. XIII, 468 S. = Ideen & Argumente. Geb. EUR 64,95. ISBN 978-3-11-024577-6.

Rezensent:

Ralf K. Wüstenberg

Es ist in sich verdienstvoll, dass fast 60 Jahre nach dem Erscheinen von Karl Jaspers Buch Die Schuldfrage wieder eine fundierte philosophische Studie systematische Klarheit in das Problem der Verantwortung für historisches Unrecht bringt. Obwohl in der Regel historisches Unrecht zu Forderungen materieller Reparation führt, belegen Beobachtungen aus den 90er Jahren des 20. Jh.s eine bemerkenswerte Sensibilisierung des politischen Bewusstseins hinsichtlich dunkler Aspekte der nationalen oder internationalen Ge­schichte. Entschuldigungen und das Bekunden von Bedauern kenn­zeichnen Staatsoberhäupter, wie u. a. Kanadas (Entschuldigung gegenüber der Zerstörung des Kulturguts der »indigenous communities«), Großbritanniens (etwa der Queen gegenüber der Ausbeutung der Maori in Neuseeland) oder der USA (z. B. Clintons Entschuldigung gegenüber der Verletzung der Souveränität von Hawaii im Jahr 1893).
Michael Schefczyks grundlegende Studie lässt sich insgesamt als kritische Fortschreibung, systematische Vertiefung sowie umfassende Aktualisierung von Karl Jaspers’ »Die Schuldfrage« lesen. Es ist selbstredend, dass S. die Arbeit Karl Jaspers’ nicht als »zeitgeschichtlich gebundene und begrenzte Gelegenheitsarbeit« (Habermas) be­trachten kann, zumal er die große Rezeptionsgeschichte in der angelsächsischen Literatur einbezieht (vgl. 4–6). Wie Jaspers wendet sich S. den Themenfeldern Kollektivschuld (123–180), der wiedergutmachenden Gerechtigkeit (Jaspers’ »politische Haftung«; 263–366) sowie der moralischen und strafwürdigen Verantwortung (181–262) zu. – Den großen Reflexionskapiteln vorangestellt sind zwei Ab­schnitte, die sich mit dem Problem befassen, was unter »historischem Un­recht« (etwa im Unterschied zu »historischem Übel«) zu verstehen ist, sowie die Frage, wie die Verantwortlichkeit historischer Akteure zu beurteilen ist. Es werden vier Arten der Verantwortung für histo­-risches Unrecht unterschieden: kausale und moralische Verantwortung sowie Aufgaben und Folgenverantwortung (80–106).
Eine der großen Stärken des Buches liegt gewiss in der sehr differenzierten Diskussion der Kollektivschuldthese von Jaspers. Mit ihr korrespondiert der von S. ganz zu Recht herausgearbeitete Schwerpunkt der »moralischen Schuld« in Jaspers’ Abhandlung. S. vertritt einen »gemäßigten Verantwortungsindividualismus« (123–140), der andererseits nicht ausschließt, dass Kollektive oder Körperschaften moralisch verantwortlich sein können; allerdings müssen solche Urteile S. zufolge in ge­eigneter Weise auf Handlungsweisen der angesprochenen Mitglieder des Kollektivs oder der Körperschaft bezogen sein. Gegen einen nicht-distributiven Kollektivschuldbegriff (143–165), nach dem ein Kollektiv moralisch schuldig sein kann, ohne dass auch nur ein einziges Mitglied schuldig ist (M. Gilbert), vertritt S. ein Aggregationsmodell von Kollektivschuld (165–179). Die überzeugende These lässt sich wie folgt formulieren: Wenn sich bei Personen Schuldgefühle für ein kollektives Handeln einstellen, dann empfinden diese Personen eigentlich Trauer oder Entsetzen, und dies ist verbunden mit der Einsicht, die jenes kollektive Handeln in der Außenwahrnehmung prägt.
Zentral erscheinen auch die reichen Ausführungen zur Folgenverantwortung historischen Unrechts. Diese fasst S. unter das Stichwort »Wiedergutmachende Gerechtigkeit«, ein Terminus, der in der englischsprachigen Literatur disziplinenübergreifend unter das Stichwort restorative justice gefasst wird. Wiedergutmachung suggeriert dabei nicht die Wiederherstellung eines status quo ante, in dem ein Zustand (vor dem historischen Unrecht) gut war; es geht vielmehr um das Recht der Opfer auf die Wiederherstellung der durch das Unrecht gestörten moralischen Ordnung. Das geschieht nach dem Modell der »Wiedergutmachenden Gerechtigkeit« da­durch, dass der Täter verpflichtet ist, sein moralisches Fehlverhalten anzuerkennen und – weiter – einen Beitrag zur Bewältigung des materiellen Schadens zu leisten hat. Grundintention der »Wie­dergutmachenden Gerechtigkeit« ist die verpflichtende Korrektur der Unrechtsfolgen durch den persönlich Verantwortlichen und den politisch Haftenden. Als Beispiele dienen u. a. Wahrheitskommissionen, insofern sie rechtlich so ausgestattet sind, dass sie Täter vor die Kommission laden dürfen oder diese freiwillig als Folge von Amnestiegesetzgebungen vor die Kommission kommen – wie im Fall von Südafrika (allerdings werden diese Beispiele nicht oder nur sehr spärlich durch den Autor herangezogen, wie überhaupt sehr wenig auf den großen Traditionsstrang von Wahrheitskommissionen Bezug genommen wird).
Abschließend sei bedauernd angemerkt, dass in dieser fulminanten Studie die »metaphysische« Schuld, die bei Jaspers eine so große Rolle spielt, ausgeklammert wurde (bis auf knappe Anmerkungen 106–107). Hier hätten manche Brücken zwischen philo­-sophischen und theologischen Diskursen zu Fragen historischer Schuld geschlagen werden können.