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Ausgabe:

April/2013

Spalte:

488–490

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Rose, Miriam

Titel/Untertitel:

Schleiermachers Staatslehre.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2012. X, 316 S. = Beiträge zur historischen Theologie, 164. Lw. EUR 89,00. ISBN 978-3-16-150899-8.

Rezensent:

Martin Ohst

Zwischen 1813 und 1833 hielt Schleiermacher fünfmal in der Philosophischen Fakultät Vorlesungen über die Lehre vom Staat. Seitdem Walter Jaeschkes Edition (KGA II/8, 1998) das Material erstmals in vollem Umfang zugänglich gemacht hat, ist dieses Feld von Schleiermachers Lebensarbeit mit neuer Intensität untersucht worden. Gegenüber älteren Forschungsansätzen (Dilthey, Bauer, Holstein) haben sich die Frageperspektiven verschoben; es wird seit einigen Jahren heftig darüber debattiert, ob und in welchem Sinne Schleiermacher als »liberaler« Denker zu verstehen sei.
In ihrer systematisch-theologischen Habilitationsschrift hebt Miriam Rose diese Kontroverse auf eine höhere Ebene, indem sie die Fragestellung aus dem Spannungsfeld gegenwärtiger Schlagwortalternativen herausnimmt und Schleiermachers Theorieansatz konsequent historisch kontextualisiert und rekonstruiert. Sie weist nach, dass es Schleiermacher ergangen ist wie allen Zeitgenossen, die sich zur Staatstheorie geäußert haben: Am Anfang stand das ambivalente Erlebnis der Französischen Revolution und dessen gedankliche Bewältigung. In ihrer Diagnose einer »unaufhebbaren Innenspannung« (62) hält die Vfn. fest, dass Schleiermacher aus diesem Initialereignis schon ganz früh (36–38) die für ihn lebenslang leitende Erkenntnis gezogen hat, dass Veränderung zum Wesen von Staatlichkeit dazugehört, und dennoch galt für ihn fortan ebenso unumstößlich: »Als Form, als Staatsumsturz, als ge­waltsames Handeln aber ist Revolution für Schleiermacher verwerflich. Revolution ist ein Übel« (62). Schleiermachers Theoriebildung hat von diesem Doppelurteil zwei dauerhafte Prägungen empfangen: Er begriff den Staat als eine in sich selbst permanent auf Veränderung, auf Reform angelegte Größe, und er vermied in der Begründung des Staates sorgfältig jeden Rückgriff auf vertragstheoretische Ansätze, weil diese ihm als Legitimationsfiguren für die Französische Revolution unwiderruflich diskreditiert waren. Vor allem mit diesem letztgenannten Grundzug seines Staatsdenkens repräsentierte er lediglich einen weit verbreiteten Konsens, zumal unter seinen deutschen Zeitgenossen. Das zeigt ein höchst lesenswerter Überblick über die Debattenlage (64–104), der sich nicht so sehr auf die »Großtheorien« (105) wie die Fichtes und Hegels kapriziert, sondern auch und vor allem niederstufige, stärker an der gegebenen Wirklichkeit orientierte Denkansätze berück-sichtigt. Besonders richtet die Vfn. ihr Augenmerk auf die Politik-Vorlesungen Dahlmanns, in denen sie sowohl inhaltlich als auch bezüglich des Theorietypus beachtliche Parallelen zu Schleiermacher findet.
Wie alle Theorieansätze Schleiermachers ist auch seine Staatstheorie lediglich als Bestandteil seines Wissenschaftssystems und in dessen Kontext zu verstehen. Sie basiert auf »Ethik«; in Schleiermachers Systematik ist das bekanntlich eine abstrakte Strukturtheorie geschichtlichen Lebens. Eine kritische Disziplin, die einen bestimmten gegebenen geschichtlichen Zusammenhang traktiert, ist die Staatslehre allerdings nicht, und eine Einordnung als technische Disziplin, die anwendungsorientierte »Kunstregeln« tradiert, kommt auch nicht in Betracht (144 f.). Ist nicht vielleicht eine Einordnung als Parallele zur »Philosophischen Theologie« erwägenswert, die Schleiermacher in der »Einleitung« zur Glaubenslehre lediglich in kontextbezogen abkürzender Zuspitzung ausgeführt hat? Wie dem auch sei, »anmutig« (s. zum Ausdruck 262!) bezeichnet die Vfn. sie als »unpolitische Theorie des Politischen« (so leitmotivisch, zentral 141): Schleiermacher hat weder den Anspruch erhoben, auf dem Katheder konkrete politische Handlungsmaximen zu entwickeln, noch anhand ihrer die politischen Handlungsoptionen seiner Gegenwart bewertet und klassifiziert – natürlich mit Ausnahmen (»Kritik durch Überaffirmation«, 170). Vielmehr wollte er ein reflektiertes begriffliches Rüstzeug bereitstellen, welches die Analyse gegebener Staatlichkeit in allen nur denkbaren Spielarten ermöglichen sollte – er betrieb also dezidiert Wissenschaft von der Politik und nicht politische Wissenschaft! Hierbei nun ließ er sich von der eingangs benannten Ablehnung vertragstheoretischer Denkansätze leiten, und das heißt: Er setzte nicht beim vorstaatlichen Zustand an, sondern beim Übergang (zentral 149.218) vom vorstaatlichen in den staatlichen Zustand. Die durch Rückschlüsse aus der sichtbaren, gegebenen Staatlichkeit ermittelbaren Ereignisse, in denen sich jener Übergang vollzogen haben muss, konstituieren die dauerhaften Wesensstrukturen von Staatlichkeit überhaupt; ein Beispiel: Im Übergang bildete sich der Ge­gensatz von Herrschenden und Beherrschten, und dieser gehört zu den Konstitutiva eines jeden denkbaren Staates (vgl. 86.128 f. 156.158). Das Dasein des Staates ist also der auf Dauer gestellte Prozess seiner Genese.
Weil Schleiermacher auf jede Herleitung des Staates aus dem Rechtsverzicht der ursprünglich freien Individuen verzichtete, konnte er der Freiheit des Individuums keinen Ort in den Fundamenten seiner Staatslehre anweisen. So ergibt sich der Befund, dass durch Schleiermachers Perspektivierung seiner Staatstheorie die »Freiheit des Einzelnen« vorzugsweise als »Ri­sikofaktor staatlicher Gemeinschaft« (175–189) in Betracht kommt, woraus scheinbar einlinig folgt, dass Schleiermacher als »nicht liberaler Denker« (287–292) zu klassifizieren wäre. Aber dieses Er­gebnis ist unvollständig. Im souveränen Rückgriff auf die Grundstrukturen von Schleiermachers Denken legt die Vfn. dar, dass der Staat für Schleiermacher eben nicht die gesamte sozial verfasste Lebenswirklichkeit in sich befasst, sondern neben sich drei andere vollkommene ethische Formen hat: Familie, Kirche und Wissenschaft, und hier nun ist jeweils der Einzelne als Subjekt seiner Freiheit konstitutiv. Gerade um seiner selbst willen ist der Staat auf diese Lebenssphären in ihrer relativen Selbständigkeit angewiesen, und darum folgt er lediglich dem vernünftig verstandenen Gebot der Selbsterhaltung, wenn er diese respektiert und schützt – und mit ihnen notwendig auch die Freiheit des Einzelnen, wobei gilt: »Der Einzelne wird im Wesentlichen in seiner Gemeinschaftlichkeit zum Thema der Staatslehre. Der Staat hat es zu tun mit Gemeinschaftsformen jeder Art, nicht mit Einzelnen als Individuen« (189). Insofern gehört es mit theorieimmanenter Notwendigkeit zu ihrem Thema hinzu, dass die Vfn. Schleiermachers Angaben über das Verhältnis Staat-Kirche in ihre Untersuchung einbezieht (189–201) und auch dessen »Christlicher Sitte« ein eigenes Kapitel widmet, in welchem sie zeigt, dass und wie gerade hier das Individuum als politisches Subjekt thematisiert wird – in einer Weise, die aus systemarchitektonischen Gründen in der Staatslehre keinen Platz hat (236–285). Hinsichtlich der vortheoretischen Ebene von Schleiermachers Wahrnehmung politisch-gesellschaftlicher Wirklichkeit gelingen der Vfn. in diesem Zusam­menhang sehr wertvolle Beobachtungen, denen sie sprachlich wunderschönen Ausdruck verleiht (264: »Eine nicht mehr ausweisbare Überzeugung von der Harmonie des sittlichen Lebens scheint da auf«).
Die Vfn. hat eine im Ganzen außergewöhnlich klar durchdachte Untersuchung vorgelegt; im Einzelnen gelingen ihr immer wieder Formulierungen von frappierender Erschließungskraft und hohem literarischen Rang. In der Fülle der gegenwärtigen Schleiermacher-Literatur wird diese Monographie sicher auch auf längere Sicht eine beachtliche Stellung behaupten.