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Ausgabe:

April/2013

Spalte:

486–488

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Müller, Sascha

Titel/Untertitel:

Menschenwürde und Religion. Die Suche nach der wahren Freiheit – metaphysische Wegweiser von Platon bis Hegel.

Verlag:

München: H. Utz 2012. 514 S. m. Abb. = Münchner Philosophische Beiträge, 23. Kart. EUR 54,00. ISBN 978-3-8316-4150-5.

Rezensent:

Wilfried Härle

Das Vorwort dieser Publikation beginnt nach einem Hegelzitat über die Würdigung des Individuums durch das christliche Leben mit den offenherzigen Sätzen: »Die vorliegende Studie hätte in ihren argumentativen Grundzügen ursprünglich als Habilitationsschrift im Fach römisch-katholische Moraltheologie eingereicht werden sollen. Doch zu einem formellen Abschluss des Verfahrens kam es nicht, da ihr gewählter Ansatz für eben genannte Theologie als zu philosophisch befunden wurde. Ein positives Zweitgutachten von philosophischer Seite hätte die Arbeit hinter sich gewusst. Doch aus moraltheologischer Perspektive wurde ihr schließlich – so viel darf aus dem ›wissenschaftlichen Nähkästchen‹ der moselanischen Fakultät Päpstlichen Rechts geplaudert werden – vorgehalten, sie stelle zu viele Fragen.« (11)
Die Leser sehen sich also von Anfang an in einen Streit der Fakultäten (und allem Anschein nach auch innerhalb derselben) einbezogen, der für den theologischen Vf. negativ endete, aber die Publikation der Arbeit in einer philosophischen Reihe nicht verhinderte. Nun kann eine wissenschaftliche Rezension allerhand legitime Erwartungen und Funktionen erfüllen, eine sollte sie nicht einmal zu erfüllen versuchen: die eines nachträglichen Obergutachtens – noch dazu aus einer externen Perspektive. Stattdessen soll auch dieses Buch, wie jedes andere, als Werk eines Autors oder Herausgebers, und damit aus seinem Textbestand und der darin erkennbar werdenden Autorenintention, dargestellt und kritisch gewürdigt werden.
Von den – faktisch drei – Titeln des Buches gibt der mittlere: »Die Suche nach der wahren Freiheit« wohl am genauesten an, worum es Sascha Müller geht. Dem ist der erste Hauptteil des Buches (69–225) in Form von Reflexionen über die Leitbegriffe »Inkarnation«, »Natur und transzendentales Ich« sowie »Wahrheitsfähigkeit des Menschen« gewidmet. Der dritte Titel: »metaphysische Wegweiser von Platon bis Hegel« verweist auf die gewählte Methode, nämlich auf kurze Analysen großer, vor allem neuzeitlicher philosophischer Entwürfe, die den zweiten Hauptteil (227–433) ausmachen. Der erste Titel: »Menschenwürde und Religion« artikuliert hingegen das leitende Interesse des Vf.s und seines Werkes, nämlich zu zeigen, dass und wie »Menschenwürde« als philosophisch-anthropologischer Grundbegriff auf Religion verweist, nämlich durch die Menschwerdung Gottes. Dahinter steht die rhetorisch gemeinte wissenschaftstheoretische Frage, »ob das Philosophieren mit Religion nicht doch mehr sieht als ohne, und deshalb eine systematische Aufarbeitung des christlich-religiösen Wahrheitsanspruchs in jedem Fall lohnt« (11). Und darin spricht sich die anthropologische Überzeugung aus, »dass Freiheit als Qualität nicht konstruiert, sondern nur dankbar empfangen und dann, im Sinne eines spekulativen Umgangs mit ihr, rekonstruiert und ästhetisch-phi­losophisch entfaltet werden kann« (428).
Dieser ästhetisch-philosophischen Entfaltung der These, dass Freiheit in unverfügbarer, aber zuteilwerdender Wahrheit gründet, ist der zweite Hauptteil des Buches gewidmet, der zwar mit einem kurzen Platon-Abschnitt (231–240) beginnt, dann aber mit einem großen Sprung in die frühe Neuzeit zur Menschenwürdekonzeption Pico della Mirandolas führt und von da ab unter Einbeziehung von Grotius, Hobbes, Pufendorf, Locke, Hume, Wolff, Rousseau, Kant, Fichte, Schelling zu Hegel führt, wobei freilich Fichtes Wissenschaftslehre für ihn den inhaltlichen Höhepunkt bildet. Die Wahl dieses Ausschnitts der abendländischen Philosophie unter geradezu betonter Auslassung der antiken (Cicero!) und mittelalterlichen Philosophie und Theologie (Anselm und Thomas!) wird (auf S. 241) in der Arbeit weniger begründet als kaschiert. Dabei ließe sie sich doch damit begründen, dass wir von der Renaissance bis zum Ende des deutschen Idealismus (also von Pico bis Hegel) einem philosophischen Denken begegnen, das der christlichen Theologie als ganz eigenständiger, aber gesprächsfähiger und am Gespräch interessierter Partner begegnet. Und den sucht der Vf. doch in seiner Arbeit.
Hinzu kommt dann noch – quantitativ weitaus bescheidener, aber sachlich für den Vf. nicht weniger wichtig – das ästhetische Element, das zum einen in der Bezugnahme auf Schriftsteller wie Lessing, Schiller, Hölderlin, Eichendorff, Mörike, Nietzsche, Rilke und Benn, zum andern durch die Bezugnahme auf das die ganze Arbeit umrahmende Gemälde »Der Schmadribachfall« von Joseph Anton Koch (14 und 443) zum Ausdruck kommt.
Lässt man die Kette der Großbegriffe, Gesprächspartner und Bezugspunkte, mit denen sich diese Arbeit beschäftigt, vor dem inneren Auge Revue passieren, so muss man sagen: Der Vf. hat sich Großes vorgenommen. Damit nicht der Eindruck entsteht, es sei etwas zu Großes, wäre der Arbeit freilich mehr an Klarheit (insbesondere in der Sprache und Methodologie) zu wünschen, als sie faktisch aufweist. Der Mut, unzeitgemäße theologische Einsichten un­befangen zur Diskussion – auch zur philosophischen Diskussion – zu stellen, hätte vermutlich effektiver eingesetzt werden können, wenn ein programmatischer Satz wie der folgende in dieser Arbeit nicht zur Problembeschreibung Verwendung gefunden hätte: »Die Adjektive ›metaphysisch‹, ›anthropo-theologisch‹, ›autonom‹ und ›inkarnatorisch‹ können nach meinem Verständnis in etwa synonym gelten, d. h. es soll der Vernunftstandpunkt von einer theologisch perspektivierten Philosophie aus betrachtet und so als Ausdruck der ›Menschenwürde‹ (Subjektgeltung) verstanden werden.« (36)
Um der darin angedeuteten Intention gerecht zu werden, hätte ein Mehr an sprachlicher Klarheit und methodologischer Disziplin der Arbeit gut getan. Denn so, wie der Satz dasteht, erlaubt er zu­mindest zwei konträre Interpretationen: Entweder ist damit eine Gleichsetzung von (menschlicher) Autonomie mit (göttlicher) Inkarnation, also die Vergottung des Menschen gemeint. Das würde zwar manchem philosophischen Ansatz entsprechen, lässt aber nicht erkennen, was die Philosophie vom Gespräch mit der Religion dann noch an neuen Einsichten gewinnen könnte. Oder es geht um die Gleichsetzung von (göttlicher) Inkarnation mit (menschlicher) Autonomie, also um die Vermenschlichung Gottes. Dann würde sich umgekehrt die Frage nach dem möglichen theologischen Erkenntnisgewinn aus dem Gespräch mit der Philosophie stellen. Der Ansatz des Vf.s und dessen Durchführung changieren und bleiben damit für beide Deutungen offen. Und das ist in diesem Fall weniger anregend als irritierend. Käme es in dieser Grundfrage zur Klärung, dann hätten manche wichtigen inhaltlichen Einsichten des Buches vermutlich auch eine größere Chance, im theologischen, im philosophischen und im interfakultären Diskurs aufgenommen und ernsthaft diskutiert zu werden. Dazu zähle ich die These, dass die Bestimmung des Menschen ohne Be­zug­nahme auf die in Jesus Christus erfüllte Gottebenbildlichkeit des Menschen nur unzureichend erfasst wird und dass darum das, was »Menschenwürde« meint, ohne Bezugnahme auf den Gottesglauben unterbestimmt ist und in der Gefahr steht als kulturelle Zu­schreibung missverstanden zu werden, die bei Bedarf auch (wie der) »abgeschrieben« werden kann. Nicht zuletzt wünschte der Rezensent der wichtigen Einsicht des Vf.s, dass Freiheit in Wahrheit gründet, eine sprachliche und argumentative Vermittlungsgestalt, die ihrem Verstehen und dann auch der Zustimmung zu ihr eine (noch) bessere Chance bietet.