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Ausgabe:

April/2013

Spalte:

480–482

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Franz, Michael

Titel/Untertitel:

Tübinger Platonismus. Die gemeinsamen phi­losophischen Anfangsgründe von Hölderlin, Schelling und He­gel.

Verlag:

Tübingen: A. Francke 2012. 240 S. Kart. EUR 49,00. ISBN 978-3-7720-8448-5.

Rezensent:

Christian Danz

Die Erforschung der Anfänge des Deutschen Idealismus hatte in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s vor allem durch die Untersuchungen von Dieter Henrich einen ungemeinen Aufschwung erfahren. Er rückte in seiner Rekonstruktion der Frühgeschichte des Idealismus Konstellationen in den Blick und benannte inhalt­-liche Motive, welche für die philosophische Entwicklung nach Kant signifikant waren. Dabei erschloss Henrich mit Immanuel Carl Dietz und anderen nicht nur Denker, welche dem philosophiehistorischen Bewusstsein aus dem Blick geraten waren, sondern auch den problem- und debattengeschichtlichen Hintergrund der Konzeptionen Hölderlins, Hegels und Schellings im Tübinger Stift. Im Anschluss an die Studien Henrichs entwickelte sich eine breite Debatte um die Frühgeschichte des Idealismus. In ihr wurden die theologischen Lehrer der drei Tübinger in den Blick genommen und vor allem deren Platon- und Kant-Rezeption untersucht und der Frage nachgegangen, welchen Einfluss Fichtes Wissenschaftslehre auf das Denken der Tübinger ausübte. So ergab sich ein wesentlich genaueres Bild der Entwicklung des Denkens der Protagonisten des Frühidealismus. Allerdings wurde der theologiegeschichtliche Hintergrund – die Debatten und Kontroversen der späten Aufklärungstheologie –, vor dem sich die Herausbildung des nachkantischen Idealismus vollzog, von der einschlägigen Forschung bislang zu wenig in Betracht gezogen.
In den angedeuteten forschungsgeschichtlichen Zusammenhang gehört das hier anzuzeigende Buch von Michael Franz mit dem Titel Tübinger Platonismus. Die gemeinsamen philosophischen Anfangsgründe von Hölderlin, Schelling und Hegel. F., der zu den besten Kennern des im Tübinger Stift seinen Anfang nehmenden Idealismus gehört, hatte bereits 1996 eine umfassende Studie zur Platon-Rezeption des jungen Schelling (Schellings Tübinger Platon-Studien, Göttingen 1996) vorgelegt und minutiös den problemgeschichtlichen Hintergrund der Debatte um den Platonismus im 18. Jh. rekonstruiert. Dem folgten sodann drei Bände mit Materialien zum bildungsgeschichtlichen Hintergrund von Hölderlin, Hegel und Schelling (Tübingen 2004–2007). Diese Bände stellen für die Erforschung der drei Tübinger Protagonisten eine unentbehrliche Grundlage dar, da hier deren Bildungsgang vor dem Hintergrund des institutionsgeschichtlichen Rahmens von der Klosterschule bis zum Theologiestudium mustergültig er­schlossen wird. Der vorliegende Band knüpft an diese Untersuchungen an und führt sie im Hinblick auf eine »Gesamtkonzeption der Entstehung des deutschen Idealismus« (7) weiter. Die von F. in das Buch aufgenommenen Vorträge, die sich unterschiedlichen Entstehungskontexten verdanken, verstehen sich ausdrücklich als »Alternative zu der immer noch herrschenden Auffassung dieser philosophischen Bewegung, nach der das Hauptinteresse der daran Beteiligten eine Konstruktion einer – oder ›der‹ – Wissenschaft gewesen sei« (ebd.). Aus dieser Intention resultiert der Aufbau des Bandes in drei Teilen. Der erste Teil beleuchtet nach einer knappen Einleitung (» Vereinigungsphilosophie« – die Entstehung eines Forschungsartefakts, 9–17), in der F. sein Forschungsprogramm in Auseinandersetzung mit der an Henrich anknüpfenden Debatte entfaltet, die Vorgeschichte (21–71) des Frühidealismus. Die Teile zwei und drei sind dann den drei Tübinger Theologiestudenten Hölderlin (75–154) und Schelling und Hegel (157–231) gewidmet.
Die drei Beiträge des ersten Teils erschließen die Lehrergeneration von Hölderlin, Hegel und Schelling. Einen grundlegenden Überblick über das Tübinger Lehrpersonal bietet das Kapitel Tü­binger Humanismus und protestantische Theologie (21–45). Das noch in Veröffentlichungen aus den letzten Jahren gezeichnete düstere Bild der Tübinger Professorenschaft am Ende des 18. Jh.s wird von F. mit guten Gründen als unzureichend zurückgewiesen. In Szene wurde es freilich von den drei Tübinger Studenten selbst gesetzt (vgl. 21). F. skizziert kurz das hermeneutische Programm von Gottlob Christian Storr, den Storr-Schüler Johann Friedrich Flatt sowie den Tübinger Kanzler Johann Friedrich Le Bret. In diesen Horizont rückt F. die frühen Platon-Deutungen von Hölderlin und Schelling und zeigt, wie sie an den zeitgenössischen Debatten um den Platonismus der Kirchenväter partizipieren. Das Thema wird in dem zweiten Beitrag aufgenommen und anhand der Kontroversen um den Neuplatonismus erörtert (45–59). Der abschließende Beitrag Patristische Philosophie in Tübingen um 1790. Christian Friedrich Rößler und seine Bewertung des Neuplatonismus (61–71) fokussiert schließlich die genannte Debatte auf den Tübinger Kirchenhistoriker. Im Streit um den Platonismus der Kirchenväter vertritt Rößler eine pointierte Position: Seiner Auffassung nach »lässt sich zeigen, dass die Entstehung einer neuen Sekte des Platonismus, die von Ammonius Saccas und seinem Schüler Plotin ausging, nicht das geringste zu tun hatte mit deren Verhältnis zum christlichen Glauben, wenn sie denn überhaupt einen hatten« (68). Die von dem Tübinger Historiker besorgte mehrbändige Kirchenväterausgabe – Bibliothek der Kirchen=Väter – gehörte zu den in Tübingen am meis­ten ausgeliehenen Büchern.
Der zweite Teil versammelt zwei Studien zu Hölderlin und eine zu dessen Verhältnis zu Schelling. Der Beitrag »Platons frommer Garten.« Hölderlins frühe Platonlektüre (75–93) untersucht die eigenwillige Beschäftigung des Dichters mit dem antiken Denker im Tübinger Stift, für die es seit dem Herbst 1790 Hinweise gibt. Hölderlins Platonismus in den Hyperion-Vorreden untersucht ein weiterer Aufsatz (95–122). Die Freundschaft zwischen Schelling und Hölderlin war nicht ganz spannungslos, wie F. in dem Abschnitt Schelling und Hölderlin. Ihre schwierige Freundschaft und der Unterschied ihrer philosophischen Position um 1796 (125–154) ausführt. In Äußerungen des alten Schellings gegenüber seinem Schüler Melchior Meyr über seinen ehemaligen Nürtinger Schulfreund und Stubengenossen im Tübinger Stift kommt dies deutlich zum Ausdruck (125–127). F. rekonstruiert die Denkentwicklung der beiden Tübinger sowie ihre gegenseitige Beeinflussung vor dem Hintergrund ihres Platon-Verständnisses in den 1790er Jahren.
Der dritte Teil thematisiert Schellings Schrift Philosophie und Religion von 1804 (Das Prinzip des Sündenfalls als Prinzip der Philosophie, 157–171), dessen Überlegungen zum trinitarischen Gottesgedanken (Schellings Trinitätslehre. Platonismus und Christentum in der Philosophie der Offenbarung, 175–200) sowie Hegels Geschichtsphilosophie (Die Geschichte des Absoluten. Der junge Hegel und die Tradition des Platonismus, 203–232). In diesem Teil verfolgt F. die weitere Entwicklung und Ausgestaltung der spekulativen Philosophien Schellings und Hegels vor dem Hintergrund ihrer frühen Platon-Rezeption. In Schellings Theorem des Falls, wie er von ihm 1804 im Horizont der Identitätsphilosophie traktiert wird, sowie in dessen später Trinitätslehre schlagen sich ebenso wie in Hegels Geschichtsphilosophie Problemkonstellationen nieder, welche ihnen in Tübingen während ihres Studiums vermittelt wurden.
Der Band von F. bietet eine vorzügliche und kenntnisreiche Darstellung der problemgeschichtlichen Hintergründe der Entstehung der nachkantischen idealistischen Philosophie. Er macht vor allem deutlich, in welch hohem Maße die drei Tübinger Protagonisten sich an Fragestellungen abarbeiten, welche bereits von deren theologischen Lehrern traktiert wurden. Insofern leistet der Band auch einen Beitrag zur Korrektur mancher überholter Deutungen der Tübinger Theologie am Ende des 18. Jh.s.