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Ausgabe:

April/2013

Spalte:

478–480

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Eitler, Pascal

Titel/Untertitel:

»Gott ist tot – Gott ist rot«. Max Horkheimer und die Politisierung der Religion um 1968.

Verlag:

Frankfurt u. a.: Campus 2009. 400 S. = Historische Politikforschung, 17. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-593-38868-7.

Rezensent:

Alf Christophersen

In seiner von Heinz-Gerhard Haupt betreuten Bielefelder ge­schichtswissenschaftlichen Dissertation aus dem Jahr 2008 setzt sich Pascal Eitler mit Max Horkheimer auseinander, und dies unter zwei Leitfragen: 1. Welchen Beitrag hat die Zentralgestalt der Frankfurter Schule zum Aufschwung der »Politischen Religion« Ende der 1960er Jahre geleistet? 2. Lässt sich mit Blick auf Horkheimers biographische Entwicklung und sein Gesamtwerk von einer »religiösen Wende« sprechen, hat er »die marxistische Tradition« dabei »›verraten‹ beziehungsweise ›überwunden‹« (16)? E. ist sich sicher: »Die Politisierung der Religion um 1968 stellt […] nicht nur ein Forschungsfeld der Religions-, sondern auch der Politikgeschichte dar« (15). Dezidiert wird die »Politische Religion« und nicht die »Politische Theologie« in den Mittelpunkt gestellt. E. beabsichtigt, den Wechselwirkungen zwischen Politik und Religion um 1968 so nachzugehen, dass der zwischen beiden bestehende Kommunikationsraum produktiv erschlossen werden kann. Gegenwärtiger Kirchengeschichtsschreibung hält E. vor, häufig zu apolo­getisch und hagiographisch zu verfahren, es mangele »ihr vielfach an ›methodologischem Agnostizismus‹« (26); der Zeitgeschichtsschreibung attestiert er mit Blick auf die von ihr angeblich gefährlich unterschätzte Relevanz des Religiösen »selbstgefälliges Halb wissen« (32). Auch von ideen- und biographiegeschichtlichen Zugängen hält E. nicht viel. In das Zentrum seiner eigenen Untersuchungen stellt er vor allem die Zeitschriften und Zeitungen der Zeit und einige wenige unveröffentlichte Quellen, die er, geht es um seinen Protagonisten, sorgfältig zusammengestellt im Max-Horkheimer-Archiv der Universität Frankfurt vorfinden konnte (vgl. 37). Auf dieser Basis will er die Diskussionen um die religiöse Konversion Horkheimers in der Bundesrepublik präsentieren. Gleichzeitig blendet er durch eine lapidare Fußnotenbemerkung die Lage in der Deutschen Demokratischen Republik aus, da es hier zu keiner »öffentlichen Debatte« (34) gekommen sei.
Die Dissertation ist in drei Hauptteile untergliedert. Den Einstieg bilden Überlegungen zum Thema: »›Daß ich mir selbst widersprochen hätte, vermag ich nicht zu sehen‹ – die sogenannte ›religiöse Wende‹ Max Horkheimers« (39–115). Als entscheidende Differenz führt E. den Unterschied von Selbst- und Fremdwahrnehmung an. Von außen sei im Falle Horkheimers eine »Wende« erkannt worden, von der dieser selbst aber nicht habe reden wollen. In seiner Analyse setzt E. beim Frühwerk Horkheimers an, um von dort aus Entwick-lungslinien nachzuzeichnen. Immer wieder betont er, einem histo­-rischen und keinem philosophischen Interesse folgen zu wollen (vgl. 50 f.). Dies bringt deutliche Schwächen in der Werkinterpretation mit sich. Das gilt besonders auch für Horkheimers Dialoge und Dispute mit Zeitgenossen, deren inhaltliche Positionen nur am Rande auf dämmern. So gelingt es E. nicht, die Haltung Horkheimers zur Theologie zu profilieren. Zumindest hätte er Theodor W. Adorno und Paul Tillich in seine Reflexionen konstruktiv einbinden müssen. E. führt zwar für Horkheimers Religionsverständnis wesentliche Be­griffe wie »Religion«, »Mitleid« und »Sehnsucht« an, sie bleiben aber seltsam blass. Horkheimer selbst hielt 1969 fest: »Den Zweifel in die Religion einzubeziehen, ist ein Moment ihrer Rettung« (77). Religion könne »nicht als Dogma, sondern als Ausdruck einer Sehnsucht« Geltung beanspruchen. Horkheimer habe sich – so E. – »gegen die ›trös­ tende Gewißheit‹, die üblicherweise die Kirche spende« gewandt. »Was dieser ›Theologie des Zweifels‹ bleibe, sei ›Trauer‹.« (77) Diese habe Horkheimer an die Stelle von »Veränderung« und »Erlösung« gesetzt, beides Zentralbegriffe seines Frühwerks. Horkheimer lege sich zudem nicht auf eine bestimmte Religionsform fest, weder plädiere er exklusiv für das Christentum noch für das Judentum (vgl. 82), ja mehr noch: »Über ›Gott‹ glaubte er keine abschließende Aussage treffen zu können beziehungsweise zu dürfen, weder in die eine noch in die andere Richtung.« (114) Auch habe er sich eher für eine bescheidene »Depolitisierung der Religion« als für eine Politisierung ausgesprochen. Eindeutig sei aber seine Verabschiedung eines revolutionä­ren Anspruches, den er anders als Ernst Bloch, nicht habe aufrech t­erhalten wollen. Angesichts seiner Einzelbeobachtungen kommt E. schließlich zu dem Ergebnis, dass im Falle Horkheimers der Konversionsbegriff nicht als Erkenntnisschlüssel tauge, wohl aber der Transformationsgedanke sich als angemessen erweise (vgl. 101).
Im zweiten Hauptteil nimmt E. den eigentlichen »Streit um Max Horkheimer« in den Blick (117–235). Die öffentliche Debatte wird in dichter Form eindrücklich rekapituliert und in die Ge­schichte der Bundesrepublik Deutschland eingezeichnet. Plastisch tritt Hork­heimer als Ikone und ›Übervater‹ der Studentenbewegung vor Augen. Immer wieder werden die Begriffe »Theorie« und »Praxis«, »Verändern« und »Bewahren«, »Revolution« und »Reform« kontras­tiert. »Sie markierten und prozessierten«, kommentiert E., »eine Polarisierung der politischen Kommunikation, die innerhalb der Politischen Theologie und des christlich-marxistischen Dialogs zwar nicht vollständig, aber doch weitgehend auf die religiöse Kommunikation übertragen wurde« (235).
Im dritten Hauptteil »›Der Begriff der Politischen Theologie ist eigentlich ein Pleonasmus‹ – die Politisierung der Religion um 1968« (237–353) greift E. auf konkrete gesellschaftliche Konfliktfelder zu und erläutert Horkheimers Rolle in teilweise heftig geführten Auseinandersetzungen, etwa um die Interpretation des Zweiten Vatikanischen Konzils oder den Essener Katholikentag von 1968, nicht zuletzt in den Debatten zur sog. »Pillen-Enzyklika« Humanae Vitae, zu der sich Horkheimer moderat äußerte, wo­durch er erheblichen Widerspruch provozierte (vgl. 314). Die Ge­waltproblematik, sexuelle Revolution und Demokratisierungsprozesse geraten ins Blickfeld. Für Religion, Theologie und Kirche, so E. schließlich in einem Fazit, könne um 1968 gelten, dass sie politischer geworden seien, »doch wurde die Politik«, so die Beobachtung, »in diesem Zusammenhang und in diesem Zeitraum keineswegs vice versa religiöser« (359). Unübersehbar sei jedoch, dass insbesondere befördert durch den Dialog zwischen Christentum und Marxismus die semantische Grenze zwischen Politik und Religion in hohem Maße durchlässig wurde. Deutlich früher als von José Casanova konstatiert, könne von einer public religion ge­sprochen werden. Außerdem gelte es festzuhalten: »Die ubiquitäre Krisensemantik der sechziger und siebziger Jahre provozierte und produzierte religiöse, kirchliche und theologische Kommunikation, anstatt sie zu beschränken oder zu verhindern« (360).
Aus theologischer und philosophischer Perspektive enthält die Studie E.s so manche Verkürzungen und Defizite. Eine konzentrierte Auseinandersetzung mit Horkheimers frühen Texten und eine klar durchgeführte Konstellationsanalyse hätte ergeben, dass viele Diskurse, die E. in den 1960er Jahren verankert, in der Weimarer Republik schon längst geführt worden sind, und zwar nicht zuletzt in den Kämpfen um den Religiösen Sozialismus.