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Ausgabe:

April/2013

Spalte:

473–476

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Osterkamp, Ernst

Titel/Untertitel:

Poesie der leeren Mitte. Stefan Georges Neues Reich.

Verlag:

München: Carl Hanser 2010. 292 S. = Edition Akzente. Kart. EUR 19,90. ISBN 978-3-446-23500-7.

Rezensent:

Alf Christophersen

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Raulff, Ulrich: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben. München: C. H. Beck 2009. 544 S. m. Abb. Lw. EUR 29,90. ISBN 978-3-406-59225-6.
Köster, Roman, Plumpe, Werner, Schefold, Bertram, u. Korinna Schönhärl [Hrsg.]: Das Ideal des schönen Lebens und die Wirklichkeit der Weimarer Republik. Vorstellungen von Staat und Gemeinschaft im George-Kreis. Berlin: Akademie Verlag 2009. XL, 244 S. m. Abb. = Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel, 33. Geb. EUR 49,80. ISBN 978-3-05-004577-1.


Der Berliner Autor und Literaturagent Thomas Karlauf veröffentlichte im Jahr 2007 seine mit großer Spannung erwartete Biographie »Stefan George. Die Entdeckung des Charisma«. Diese breit angelegte und viel beachtete Studie hat Maßstäbe gesetzt und gleichzeitig auch erkennen lassen, an welchen Stellen weitere Ar­beiten anknüpfen können. Seit etwa zwei Jahrzehnten existiert in Soziologie, Literatur-, Politik- und Geschichtswissenschaft eine zunehmend differenzierte Auseinandersetzung mit George als »Staats«-Gründer und Zentralgestalt ganz disparater Diskurskonstellationen. Vor allem werden die personalen Beziehungen innerhalb des um den »Meister« gruppierten Kreises (oder auch der Kreise) aufgezeigt und in ihrer Außenwirkung erschlossen. Fast durchgängig ist in diesen Studien allerdings die werkkundige Einbindung der kollektivbiographischen Annäherungsversuche un­befriedigend. Bei allem kritischen Lob wurde auch gegen Karlauf der Vorwurf erhoben, dass er das eigentliche Werk Georges, seine Gedichte, nur vereinfachend als vornehmlich sexualpsychologisch zu deutende Lebenszeugnisse aufgegriffen habe. Wenn nun der Germanist Ernst Osterkamp Georges letzte Gedichtsammlung »Das neue Reich« von 1928 analysiert, konzentriert er sich auf eine bis heute kontrovers beurteilte Arbeit, da mit ihr die Kritik des Dichters an den vermeintlichen Verfallsstrukturen der Weimarer Republik in den Blick genommen werden muss. Seine Texte sind immer in die politischen Kontexte der Zeit einzuordnen und dann auch im Zusammenhang mit dem als »Drittes Reich« titulierten totalitären Staat und seinen Funktionseliten zu lesen. Georges eigene Reserve gegenüber den an ihn von nationalsozialistischer Seite herangetragenen Avancen ist bekannt, genauso wie die schnelle Parteinahme einer ganzen Reihe seiner Anhänger für die aufkommende nationalsozialistische »Bewegung«. Aber auch Claus Graf Schenk von Stauffenberg, der am 20. Juli 1944 das Attentat auf Hitler verübte, war – wie seine Brüder Alexander und Berthold – ein enger Anhänger Georges. Grundsätzlich kann nicht geleugnet werde, dass der elitäre Grundzug des George-Kreises und vor allem auch die Rede vom »Neuen Reich« eine Struktur bildeten, die für so manchen eine relative Offenheit zum Nationalsozialismus nahelegte.
Osterkamp versucht, zum Werk Georges zurückzukehren. Er grenzt sich deutlich von Karlauf ab und hält ihm vor, dass »die Wiederentdeckung des Charismatikers George auf eine erneute Auslöschung des Dichters George« hinauslaufe; »sein Charisma wird dadurch bestätigt, dass es sein Werk überstrahlt« (Osterkamp, 15). Nur aus der Poesie, so das Plädoyer des Germanisten, könnten die spezifischen Wirkungen, die vom Dichter ausgehen, erklärt werden. Obwohl es zeitgleich »viele ideologische Sinnproduzenten mit Charisma« gegeben habe, sei doch Georges Wirkung einmalig, »weil sein Charisma, bei aller Kunst der medialen Selbststilisierung, durch seine Dichtung beglaubigt wurde« (15). Freilich ver­-füge das Werk über eine außerordentliche Vieldeutigkeit und Auslegungsbedürftigkeit. Politisch-religiöse Heilserwartungen und kulturkritische Wahrnehmungsmuster hätten sich in der Poesie Georges aufgenommen fühlen können, ohne dass sich der Dichter selbst entsprechend festgelegt habe. »Das neue Reich« wird somit zum Musterbeispiel möglicher Aufladung von Dichtung durch politische und ästhetische Rezeptions- und Identifikationsprozesse. Osterkamp begibt sich auf die Suche nach der »poetischen Funktionsweise« der Gedichte und greift vier von ihnen heraus, die den Themen »Zeitenwende, Reich, Dichter und Gott« (22) folgen. So werden »Der Gehenkte«, »Goethes letzte Nacht in Italien«, »Hyperion« und »An die Kinder des Meeres« einer intensiven Analyse unterzogen. Deutlich ist sich Osterkamp der Gefahr bewusst, der Gedankenführung Georges zu affirmativ zu folgen, aber mit Hilfe einer »delphinartige[n] Doppelbewegung von Eintauchen und Auftauchen, von Annäherung und Distanzgewinn« (18) hofft er seine Textinterpretation durchführen zu können. Ohne dass es an dieser Stelle im Detail aufgezeigt werden könnte, gewinnt der Leser den Eindruck, dass es Osterkamp in faszinierender Form gelingt, George so zu deuten, dass sich durchaus neue Verständnishorizonte öffnen und ein besseres Verständnis für die besondere Wirkmächtigkeit der Verse entstehen kann. Im November 1928 veranstaltete George aus Anlass des Erscheinens seines Gedichtbandes in Berlin-Halensee eine Lesung. Der Dichter selbst, Ernst Morwitz und Robert Boehringer trugen vor, anwesend waren die wichtigs­ten Stützen des Kreises; »Georges Neues Reich war der geistige Staat des Geheimen Deutschland«. Es gab keine Diskussion. George verabschiedete jeden Einzelnen persönlich. Osterkamp kommentiert: »Wie sich Georges Neues Reich bei dieser Lesung des Neuen Reichs konstituierte, so zerfiel es mit deren Ende auch wieder. Die Mitte blieb leer« (275).
»Kreis ohne Meister« – so hat Ulrich Raulff seine breit angelegte Studie über »Georges Nachleben« überschrieben. Nicht der Dichter selbst, sondern die verschiedenen Generationen angehörenden Mitglieder seines Kreises stehen jetzt im Mittelpunkt: »Eine Gruppe, die, soweit sie nicht schon zu seinen Lebzeiten zerstritten ist, nun, nach dem Tod des Meisters, Messias und Propheten, in schlechtes Wetter gerät, auf steinige Wege und in die Dunkelheit, nicht zuletzt die politische Obskuranz« (Raulff, 19 f.). Rituelle Le­sungen, Gedächtniskult, Regeln zur Lebensführung – diesen Elementen wird nachgegangen, beginnend mit dem Tod Georges am 4. Dezember 1933, seiner Beerdigung in Minusio bei Locarno und dem ansetzenden »Krieg um sein geistiges Erbe« (33). Warum, lautete für viele Zeitgenossen die Frage, lag »der Dichter des Neuen Reichs außerhalb der Grenzen des realen Reichs begraben« (42)? Das gesamte Buch Raulffs lässt sich als Antwort lesen. Der Nationalsozialismus, der 20. Juli, die unterschiedlichen Wege ins Exil und vor allem das Leben im Nachkriegsdeutschland und der Zeit bis 1968 werden mit den damit verbundenen Um- und Neuorientierungen präsentiert. Einen unverkennbaren Schwerpunkt legt Raulff auf die pädagogischen Ambitionen der George-Jünger, beispielsweise auf Georg Picht und den Birklehof. Raulff gelingt es eindrücklich, das dichte Netzwerk des George-Kreises so zu beschreiben, dass ein Gefühl für die bleibende Wirkmächtigkeit des Dichters und die von ihm ausgehende Gestaltungskraft entstehen kann.
Unter der Perspektive »Vorstellungen von Staat und Gemeinschaft im George-Kreis« werden in einem Band Beiträge versammelt, die auf eine Tagung an der Frankfurter Goethe-Universität von 2007 zurückgehen. Als Leitfaden dient das kreistypische »Ideal des schönen Lebens«. Staatlich-politische Ebene und individuelle Perspektiven werden in den Aufsätzen verschränkt. Gangolf Hü­binger setzt sich etwa mit »Individuum und Gemeinschaft in der intellektuellen Streitkultur der 1920er Jahre« auseinander, Roman Köster stellt »Universalismuskonzepte in der Nationalökonomie der Weimarer Republik« vor, Carola Groppe analysiert »Funktionen und Ideale der Bildung in Theorie und Praxis des George-Kreises« und Wolfgang Graf Vitzthum setzt sich mit »Weimarer Republik und Völkerbund aus der Sicht von Berthold Graf Stauffenberg« auseinander. Besonders gelungen ist Gerhard Plumpes Annäherung an »Die Idee des ›schönen Lebens‹ im Kontext der Avantgarde«. Die Idee zeige sich gestalthaft im Porträt – George war von den Möglichkeiten der photographischen Stilisierung eingenommen –, aus dem das bloß Individuelle, Private entfernt ist. »Weder private Pose noch Normalhabitus entsprach der Intention Georges« (Köster, 71). Die Lebenskunst tritt auf »als Formung der Person zur Gestalt, die darin vorbildlich wird und Nachgeborene zur Nachahmung im Sinne des Wetteiferns herausfordert« (73). Wie sich der darin angelegte Prozess entfaltete, legt Raulff in seiner Untersuchung dar – das Buch enthält zudem eine Fülle von Fotos, die einen Kommentar eigener Art bilden. Osterkamp ist sich auf jeden Fall sicher, dass George nichts dem Zufall überließ: »Dem Dichter […] unterläuft nichts, bei ihm ist alles Ausdruck einer Absicht« (Osterkamp, 19).