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Ausgabe:

April/2013

Spalte:

470–472

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Bunners, Christian

Titel/Untertitel:

Johann Crüger (1598–1662) – Berliner Musiker und Kantor, lutherischer Lied- und Gesangbuchschöpfer. Aufsätze, Bildnisse, Textdokumente.

Verlag:

Berlin: Frank & Timme 2012. 285 S. m. Abb. = Kunst-, Musik- und Theaterwissenschaft, 11. Geb. EUR 29,80. ISBN 978-3-86596-371-0.

Rezensent:

Konrad Klek

Die heutige, stark an Jubiläen orientierte Erinnerungskultur kann in Verlegenheit bringen, wenn zu einem renommierten Jubilar nichts Substantielles vorliegt. Bei Johann Crügers 350. Todestag 2012 wäre das so gewesen, wenn nicht diese Publikation termingerecht erschienen wäre. Crügers Musik ist in Gestalt der vielen be­liebten Melodien, nicht nur zu Paul Gerhardt-Liedern (z. B. auch »Nun danket alle Gott«) wortwörtlich in aller Munde, aber es gibt bis dato keine Ausgabe aller seiner vierstimmigen Liedsätze mit Instrumentaloberstimmen, keine Arbeit zu Leben und Werk, weder von Seiten der Musikwissenschaft noch der Hymnologie. Für Letztere waren immer die Liedtexte wichtiger. Eine einzige Dissertation über Crüger war 1919 zu vermelden. Sie ist nirgends greifbar. Immerhin läuft jetzt in Halle ein DFG-gefördertes Editionsprojekt zu Crügers Gesangbuch Praxis pietatis melica.
Christian Bunners, mit hymnologischen und kirchenmusikbezogenen Publikationen zum 17. und 18. Jh. vielfach ausgewiesener (Ruhestands-)Theologe, hat sich verpflichtet gefühlt, die Leerstelle Crüger wenigstens mit dem zu füllen, was seine Werkstatt hergibt. Das ist nicht wenig, zunächst vier an weit auseinanderliegenden Stellen und in großem zeitlichen Abstand (1980, 1985, 2008, 2009) erschienene Aufsätze, die hier zusammengefasst sind. Die zweite Hälfte des Buches dient ausschließlich der Quellenpräsentation, zuerst alle sechs nachweisbaren Bildnisse Crügers, dann Textdokumente in fünf Abteilungen: die für Crügers Berliner Stellung maßgebliche Schulordnung, zeitgenössische frühe Nachrichten zur Biographie, Texte von Crüger selbst (z. B. Gesangbuchvorreden), Texte für und über Crüger zu seinen Lebzeiten (z. B. Huldigungsgedichte), Texte über Crüger von seinem Tod bis zur Gegenwart. Letzteres reicht bis zur literarischen Rezeption im »Treffen von Telgte« (G. Grass) und in »Schlafes Bruder« (R. Schneider). Alle Quellen sind dank hilfreicher und präziser redaktioneller Erläuterungen auch für weniger Kundige erschließbar. Eine (nicht ganz fehlerfreie) Zeittafel zu Leben wie »Nachleben« Crügers beschließt das Buch. Dass B. stets die vielschichtige Rezeption der Lieder bis in die Gegenwart in den Blick nimmt, ist ein spezielles Gütesiegel dieser Publikation. Man muss dafür nicht das Modewort Rezeptionsästhetik bemühen, es ist essentiell für das Sujet Kirchenlied, welches gerade durch seine Re­zeptionsgeschichte interessant ist und immer mehr wird.
Den Mangel an Monographien durch Dokumentenpräsentation auszugleichen, ist zu begrüßen. Genau so kann Interesse ge­weckt werden zu schauen, was hier noch zu holen wäre, können neue Zugänge entwickelt werden. Die vier abgedruckten Aufsätze lassen genügend Forschungsraum, sie dienen geradezu der Appe­-tit­anregung.
Der erste Beitrag ist eine gekonnt präsentierte, gleichermaßen knappe wie stoffreiche biographische Übersicht zu Leben und Werk inklusive Rezeption bis heute, die Interesse weckt zum genaueren Hinschauen. Unter dem Titel »Singende Frömmigkeit« widmet sich der nächste Beitrag den unterschiedlichen Vorreden der Gesangbuchausgaben. B. liest diese mit großer Sensibilität für die speziellen theologischen Akzentuierungen, auch für die feinen Unterschiede zum damals so wirksamen Johann Arndt. Allen, denen »Frömmigkeitsgeschichte« am Herzen liegt, muss hier klar werden, wie im Wortsinn Grund legend in diesen Zeiten die Praxis pietatis via Gesangbuch wurde. Erst der dritte Beitrag thematisiert Crügers Leistung für die Verbreitung der Paul Gerhardt-Lieder. Neben Analysen von signifikanten Crüger-Melodien finden sich hier auch weiterführende Überlegungen zur von Crüger ebenso praktizierten Verwendung von Lehnmelodien, die wohl auf den Dichter selbst zurückgeht. Der historisch spannendste Beitrag steht am Ende und beleuchtet das Verhältnis von Philipp Jakob Spener und Crüger. Wie nahe Spener dem Frömmigkeitskonzept Crügers stand, zeigen seine kaum bekannten Vorreden zu Crügers Gesangbuchausgaben, die bereits in Frankfurter Zeit ansetzen. Später, an der Berliner Crüger-Wirkungsstätte Nikolaikirche, wird es dann Speners Amt sein, die Witwe Crügers zu bestatten, welche ihren Gatten um fast 40 Jahre (!) überlebte. B. stellt die Bestattungspredigt vor und gibt bei den Textdokumenten den biographischen Abriss daraus wieder. Wie im Untertitel »Ein Beitrag zur Hymnologie des Pietismus« benannt, bietet B. eine sorgfältige Erörterung von Aufnahme wie modifizierender Weiterführung der »orthodoxen« Konzeption Crügers in Sachen geistliches Liedersingen durch den ersten Sprecher des Pietismus, Spener. In der Praxis pietatis des Singens sind die Gegensätze gar nicht so groß. Wenn demnächst die kritische Edition von Crügers Gesangbuch vorliegen wird, kann man zusammen mit der bereits vorliegenden des Freylinghausenschen Gesangbuchs aus Halle (1704 ff.) an die Detailarbeit gehen. Es wäre dann höchste Zeit, dass die Kirchengeschichte dies als wesentliches, äußerst ergiebiges Arbeitsfeld entdeckt. Es kann doch nicht sein, dass Hymnologie(geschichte) noch weiter in die Liebhaber-Ecke abgeschoben wird!
Wenn denn Johann Crüger auch wissenschaftlich in vieler Munde wäre, würde sich die bei diesem Buch ziemlich hilflos wirkende Titelformulierung erübrigen. Das Phänomen Crüger kann man nicht in so gewöhnliche Kategorien »Musiker«, »Kantor«, »lutherisch« stecken, und »Lied- und Gesangbuchschöpfer« ist ein sehr ungeschicktes Konstrukt. Der Name »Johann Crüger« selbst steht in exponierter Weise für die Fülle und den Perspektivenreichtum des Kirchenliedes. Das wäre mit Hilfe dieses Buches von vielen noch zu entdecken.