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Ausgabe:

April/2013

Spalte:

467–470

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Widmann, Michael

Titel/Untertitel:

Wege aus der Krise. Frühneuzeitliche Re­formvision bei Johann Valentin Andreae und Johann Amos Comenius.

Verlag:

Epfendorf: bibliotheca academica 2011. XV, 677 S. m. Abb. = Quellen und Forschungen zur Württembergischen Kirchengeschichte, 22. Geb. EUR 69,00. ISBN 978-3-928471-78-7.

Rezensent:

Rainer Lachmann

Ein »gelehrtes«, nicht aber »verkehrtes« »Meisterwerk« (K. E. Nipkow, XV.11.274) liegt vor, das sich auf 677 Seiten mit über 2000 Anmerkungen und einem 100-seitigen Quellen- und Literaturverzeichnis mit (historischem) Personen- und Ortsregister in entbehrungsreich verdienstvoller Forschungsarbeit einer in vieler Hinsicht vernachlässigten Epoche der Theologie- und Bildungsgeschichte widmet. Es handelt sich dabei um das Zeitalter der alt­protestantischen Orthodoxie, das ob seiner lehrgesetzlichen Enge und streitsüchtig rechthaberischen Strenge lange einseitig »verketzert« wurde, dem bildungsgeschichtlich aber immerhin auch die Reformpädagogen Wolfgang Ratke, Jan Amos Comenius und Johann Valentin Andreae zugehörten. Genau hier setzt Mi­chael Widmann – inspiriert und betreut durch seinen Lehrer, den Religionspädagogen Karl Ernst Nipkow – an und macht daraus ein Dissertationsprojekt, das im Wintersemester 2006/2007 in Tübingen erfolgreich abgeschlossen wurde und fünf Jahre später endlich veröffentlicht werden konnte.
Im Zentrum der Forschungen von W. steht Johann Valentin Andreae (1586–1654), vor allem in den Jahren und mit den Werken, die Comenius beeinflusst haben und von daher einen so bis dahin nicht erforschten Wurzelgrund comenianischen Denkens und Handelns freilegen. Dabei handelt es sich nicht primär um eine religionspädagogische Arbeit, sondern um ein kirchen- und theologiegeschichtliches Werk mit weit gespanntem bildungshistorischem Horizont. Das Literaturverzeichnis beweist das, denn außer dem reich vertretenen und viel zitierten religionspädagogischen Werk Karl Ernst Nipkows kommen Arbeiten aus dem Bereich historischer Religionspädagogik so gut wie nicht vor. Vielleicht ein Fingerzeig an die historisch forschenden Religionspädagogen, der von Nipkow gelegten und von W. auf seine Weise weitergeführten Spur zu folgen und dem vermeintlich so »orthodoxen« 17. Jh. mehr Aufmerksamkeit zu schenken. W.s theologische Studie mit ihrem bildungsgeschichtlichen Hintergrund und Horizont kann da durchaus wissenschaftliche Neugier wecken, es sei denn, man lässt sich von der überbordenden Fülle an Anmerkungsgelehrtheit abschrecken.
Wegweisend wichtig ist die Einleitung, die titelgerecht zu­nächst die Krise des 17. Jh.s in Kirche, Theologie, Frömmigkeit, Bildungswesen und Staat und Gesellschaft reflektiert, ehe sie sich dann in propädeutischer Ausführlichkeit zur »ungewöhnlich anregenden Beziehung« zwischen Johann Valentin Andreae und Jo­hann Amos Comenius äußert. Wie W. überzeugend aufzeigt, kann an dieser wechselseitigen persönlich wie sachlich gepflegten Beziehung kein Zweifel bestehen, weshalb die in den folgenden Kapiteln »vorgenommenen Untersuchungen und Detailstudien im strengeren Sinn als Vorarbeiten im Bereich der Comeniologie« verstanden werden wollen und können (66).
Entsprechend versucht W., mit seiner Forschung ein »Gesamtverständnis des Andreaeschen Reformansatzes in seiner für Comenius prägenden Gestalt zu gewinnen«, und lässt von daher die Auswahl der der Arbeit zugrunde gelegten Quellen bestimmt sein (72). Der Erste Teil der dominant quellenanalytisch angelegten Untersuchung beschäftigt sich mit »Johann Valentin Andreae: Universale Reform als Weg aus der Krise« (69–199) und verhandelt hier Entstehung und erste Ausgestaltung der Andreaeschen Reformvision. Einführend informativ sind die Vorbemerkungen zur Andreae-Forschung, an die sich – vergleichsweise knapp – Ausführungen zu Andreaes Biographie in Familie, ersten Studienjahren (1602–1607) und zweiter Studienphase (1607–1610) mit »Reisen in die Welt und die Welt des Tübinger Kreises« anschließen. Zu dieser Tübinger Welt gehörte an »vorderster Front« Tobias Heß, dessen prägende Wirkung auf Einstellung, Werk und Wirken Andreaes hier »erstmals« von W. in quellenbelegter Ausführlichkeit zur Sprache gebracht wird: Die durch Heß vermittelte paracelsistische »Betonung der Empirie«, die »heilungsbetonte Frömmigkeit«, das Ideal »christlicher Bruderschaft« und – wenigstens für den jungen An-dreae – der »von Heß vertretene Chiliasmus« ließen diesen führenden Kopf Tübingens für Andreae zur lebenslang vorbildlichen Persönlichkeit werden.
Erster öffentlichkeitswirksamer Ausweis und Ausdruck für die Aufnahme und Integration von Heßschen Gedanken in das Schaffen von Andreae sind die sog. Rosenkreuzermanifeste, denen sich W. in quellenmäßiger Fundierung und Referierung im 3. Abschnitt seines ersten Teils ausführlich (156–199) widmet. Vorgängig wird wissenschaftlich klargestellt und überzeugend belegt, dass die meisten der Schriften der Rosenkreuzer aus der Feder Andreaes stammen oder dieser zumindest bei ihrer Abfassung eine federführende Rolle spielte. Be­sonders eingehend referiert W. die beiden Schriften Fama Fraternitatis, die – in der Volkssprache verfasst – 1614 erstmals erschien und einer breiteren Öf­fentlichkeit zugänglich wurde, sowie die lateinische Confessio Fraternitatis von 1617. Dankbar nimmt man die langen Inhaltsangaben in Kauf, offenbaren sie doch das wesentliche Gedankengut der »geheimen Bruderschaft vom Rosenkreuz« und nehmen ihm den verbreiteten ignoranten Ruch unzugänglichen Arkanwissens durch wissenschaftlich verifizierte Aufklärung. So er­zählt etwa die Fama Fraternitatis die »Lebensgeschichte des Christian Rosenkreutz«, äußert sich zur »chiliastischen Erwartung« der Endzeit, bietet Zeitkritik angesichts der geistigen und geistlichen Zerrissenheit des Abendlands, plädiert für die »Philosophie einer universalen Einheit« und die »Einheit alles Seienden«, preist das liber naturae und lädt schließlich ein zur Partizipation an »Reform und Fortschritt«. All das wird für die lateinischsprachigen Gelehrten in der Confessio Fraternitatis näher ausgeführt und in zunehmender Schärfe und Deutlichkeit profiliert. Diese Manifeste der Rosenkreuzer aus der ersten Ausgestaltungsstufe der Andreaeschen Reformvision sind Comenius bekannt und wichtig und werden in und mit den gereiften Entwürfen Andreaes integriert zur Weiterarbeit an »einer pansophisch gegründeten Re­form aller Lebensbereiche des Menschen«.
Der Zweite Teil, der sich den Wandlungen und der reifen Gestalt von Andreaes »Reformvision im Gefolge von Besold, Arndt und Hafenreffer« zuwendet (203–538), soll dann erweisen, ob und inwiefern die nötigen Integrations- und Syntheseleistungen des Comenius bereits auf grundlegende Vorarbeiten Andreaes zurückgreifen konnten. Dazu beschäftigt sich ein erster fast 100 Seiten langer Ab­schnitt mit dem langjährigen Freund und inspirierenden Geis­tesverwandten Andreaes: »Christoph Besold (1577–1638) und seine(r) Bibliothek«. Aus bisher zum großen Teil unbearbeiteten Quellen arbeitet W. das reiche philosophische und theologische Denken Besolds heraus und leistet hier sicher eine so gründliche wie bisweilen weitschweifend referierende Erschließung des über lange Zeit vernachlässigten philosophisch-theologischen Schaffens Besolds. Im Gesamt der Arbeit trägt sie Züge eines geschlossenen, thematisch gleichsam eigenständigen Forschungsprojekts, dessen Bezüge zu Andreae und vor allem durch Andreae zu Comenius eher indirekter Art sind und vertieft erschlossen werden wollen.
Es folgt in einem 3. Abschnitt die Auseinandersetzung mit Johann Arndt, die W. diesmal eröffnet mit einer »Spurensuche« nach der Bedeutung Arndts für den Werdegang und das Werk Andreaes, bevor er Johann Arndts Bücher vom Wahren Christentum referiert und analysiert. Die in ihnen betont herausgestellte und geforderte praxis pietatis war es, die auf Andreae und seine Theologie nachhaltigen Eindruck machte.
Nicht nur wie bei Arndt literarisch vermittelte Bedeutung hatte Andreaes Verbindung mit dem Tübinger Theologieprofessor Matthias Hafenreffer, zu der Haus- und Tischgemeinschaft, Studienbegleitung und Lebensberatung ganz wesentlich gehörten. Mit ihm setzt sich W. im 4. Abschnitt des zweiten Teils seiner Arbeit (342–389) besonders intensiv auseinander, weil er mit Martin Brecht der Meinung ist, dass gerade diese Zeit der engen Verbindung mit Hafenreffer für Andreae die Entwicklung seines eigentlichen Reformprogramms markiere. Wenn hier von W. als Bedeutungsertrag die »bleibende Weite in der Verbindung von eruditio und pietas« bei und durch Hafenreffer herausgestellt wird (342), dann leuchtet nicht nur erstmals ausdrücklich der bildungsgeschichtliche Aspekt auf, sondern wird mit Hafenreffers »theologischem Kompendium« zugleich eine orthodoxe Theologie ›belichtet‹, die wider alle »tradierten (Vor)Urteile« nicht im Streit um die rechte Lehre aufgeht, sondern ihr stets und konsequent »die ›pietas‹ (später auch die ›eruditio‹) zuordnet und […] dezidiert auf die ›praxis‹ abhebt« (371). Diese Integration von gelebter Frömmigkeit und gelehrter Bildung wird für Andreae zeitlebens zum wirkmächtigen Impuls für sein universales Reformkonzept.
Nach dem langen, fast 400-seitigen Anweg, der »mittels eingehender und vielfach erstmals vorgenommener Detailstudien wesentliche Hintergründe des Andreaeschen Denkens und Schreibens« erarbeitete, kommt die Arbeit im 5. und letzten Abschnitt des zweiten Teils endlich auch noch zu Johann Valentin Andreaes eigenen Werken und Reformvorstellungen aus der Vaihinger und Calwer Zeit und »damit zur reifen Gestalt seiner frühneuzeitlichen Reformvision« (390–538). Hier stellt W. Andreaes Doppelroman Peregrini und Civis Christianus vor – alle Reform muss »mit der Erneuerung des einzelnen Menschen ansetzen« (403) –, dann seine reife Reformschrift Christianopolis – die reformerische Er­neuerung »muß das Ganze der menschlichen Verhältnisse« mit allen Lebensbereichen umfassen (438) – und den »Aufruf zur Zu­sammenarbeit« in Andreaes Christianae societatis Imago (484) sowie schließlich die »Gesprächsschrift« Theophilus, die »Katechese und Kirchenzucht« als »Mittel der Erneuerung« ins Gespräch bringt (497). Wenn An­-dreae gerade in dieser Schrift die »Erneuerung des Glaubens primär auch als Bildungsaufgabe« begreift, dann ist hier religionspädagogische Relevanz angesagt, die nicht enttäuscht wird. Was Andreae hier zur religiösen Erziehung und Unterweisung im »Sinn einer lebensdienlichen Bildung« sagt, ist von einer frappierenden Ak­-tualität, die wenig an orthodoxer Lehrart aufweist, dafür aber um­so mehr an aufklärerisch-pädagogischem Gedankengut vorwegnimmt. Dem religionspädagogisch In­teressierten sei dieser Ab­schnitt 5.5 »Katechese und Kirchenzucht« mit seinen »Regeln und Erziehungsprinzipien« (497–538) besonders empfohlen. Er wird für Andreae eingenommen werden und über ihn auch auf die Spur des großen Comenius gesetzt werden.
Hilfreich schließt W. sein gelehrtes Meisterwerk mit Einsichten und Erträgen zu Andreaes frühneuzeitlicher Reformvision ab und landet zu guter Letzt bei einem zweiten »Ertrag«, der ohne Bezug zum Andreaeschen Forschungsertrag – einem dringlichen Nachtrag gleich – noch »Bemerkungen zur Genese und Ausgestaltung der Comenianischen Pansophie« anfügt (548–574). Mit einem sin­-nigen Zitat des großen zeitgenössischen Religionspädagogen Karl Ernst Nipkow holt W. Comenius wieder zurück in die Spur seiner Andreae-Forschungen und deren Ertrag als grundlegende Vorarbeiten und Anregungen Andreaes für das umfassende pansophische Werk des Comenius! Mit einer treffenden Anrede Andreaes an seine Leser beendet W. sein opus magnum: »Wundere dich nicht, wenn meine Hand hier häufiger abschweifte, und erzürne nicht, wenn durch die Enge des Platzes, die Kürze der Zeit und die Ermüdung durch Arbeit, Vieles offen und unvollendet bleiben musste …!« Dessen ungeachtet hat der gelehrte Autor – nicht zuletzt durch den ungemein mühsamen Umgang mit den lateinischen Texten – wahrhaftig eine »Herkulesaufgabe« gemeistert und eine wissenschaftlich Leistung erbracht, welche die Andreae- und Comeniusforschung belegbar voranbringt. Ergo: Ein Dokument fleißigster Forschungsarbeit, an dem in Zukunft die einschlägige Forschung nicht mehr vorbeikommt – allerdings weniger ein wissenschaft­liches Buch, das zur kursorischen Lektüre animiert.