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Ausgabe:

April/2013

Spalte:

465–467

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Ruschke, Johannes M.

Titel/Untertitel:

Paul Gerhardt und der Berliner Kirchenstreit. Eine Untersuchung der konfessionellen Auseinandersetzungen über die kurfürstlich verordnete ›mutua tolerantia‹.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2012. XVIII, 624 S. = Beiträge zur historischen Theologie, 166. Lw. EUR 114,00. ISBN 978-3-16-150952-0.

Rezensent:

Wolf-Friedrich Schäufele

Seit der Konversion Kurfürst Johann Sigismunds vom lutherischen zum reformierten Bekenntnis im Jahre 1613 war das Kurfürstentum Brandenburg (und spätere Königreich Preußen) das wich­tigste Laboratorium innerprotestantischer Ausgleichsbemühungen im alten Reich. Die Fürsorge für die Ausbreitung und Etablierung der eigenen Konfession wie auch die auf die Verringerung von inneren Spannungen angelegte Staatsraison ließen das reformierte Herrscherhaus, dem eine Mehrheit lutherischer Stände und Untertanen gegenüberstand, immer wieder Vorstöße zu irenischer Verständigung zwischen beiden evangelischen Bekenntnissen unternehmen. Der »Große Kurfürst« Friedrich Wilhelm (reg. 1640–1688) machte in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Zwar war es ihm in erster Linie um die Gleichstellung der reformierten mit der lutherischen Landeskirche zu tun, doch hatte er auch ein aufrichtiges persönliches Interesse an der Aufrichtung einer mutua tolerantia. Doch in der Durchführung dieses Vorhabens hatten der Kurfürst und seine Räte eine derartig unglückliche Hand, dass das Unternehmen zu einer Provokation der Lutheraner und damit letztlich sogar zu einer Verschärfung der konfessionellen Spannungen führte und unter dem Namen »Berliner Kirchenstreit« bekannt wurde.
Der Berliner Kirchenstreit hat in der Forschung ein eigenartiges Schicksal gehabt. Das Interesse, das sich immer wieder auf ihn richtete, war in erster Linie durch die Beteiligung des Liederdichters Paul Gerhardt motiviert, der im Zuge des Streits bekanntlich sein Amt als zweiter Diakonus an St. Nicolai verlor und nach Lübben im Spreewald ausweichen musste. Innerhalb der Paul-Gerhardt-Forschung jedoch bildeten der Kirchenstreit und die scheinbar unverständliche Intransigenz des als Vertreter einer tief empfundenen, verinnerlichten Frömmigkeit geschätzten lutherischen Theologen einen erratischen Block, wie sich auch in den Publikationen zum Jubiläumsjahr 2007 wieder gezeigt hat. Die Münsteraner Dissertation von Johannes M. Ruschke will und muss daher beides leisten: einen Beitrag zur Geschichte konfessioneller Toleranzbestrebungen im Preußen der Frühen Neuzeit und einen Beitrag zur Biographie und zum theologischen Standpunkt Paul Gerhardts.
Der Vf. hat diese doppelte Aufgabe überzeugend gelöst. Er hat dazu nicht nur abermals die bereits bekannte Aktenüberlieferung im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz ausgewertet, sondern mit bislang unbekannten Beständen aus dem ehemaligen Archiv des Grauen Klosters wertvolle neue Quellen erschlossen. Auf dieser Basis gelingt ihm eine in dieser Ausführlichkeit und Detailfülle bisher unerreichte, verschiedentlich auch zur Korrektur etablierter Forschungsmeinungen nötigende Rekonstruktion des Berliner Kirchenstreits. Gerahmt von Kapiteln zur Forschungsgeschichte und zum historischen Hintergrund der Kontroverse einerseits und einer abschließenden Würdigung andererseits stellt der Vf. in den drei zentralen Kapiteln seiner Arbeit die drei Phasen des Streits eingehend dar. Die erste dieser Phasen (96–175) fiel in die Jahre 1657–1662 und war durch verschiedene kirchenregimentliche und religionspolitische Maßnahmen des Kurfürsten zur Herstellung einer konfessionellen »Toleranz« (von der vor allem die reformierte Minderheit profitieren sollte) bestimmt, die u. a. auf eine Lockerung der engen Verbindung der brandenburgischen Lutheraner zur Universität Wittenberg und auf eine Verdrängung der Konkordienformel aus den Examina und Ordinationsformularen ab­zielten. Den Höhepunkt dieser Politik bildete ein erstes, allein an die Lutheraner adressiertes Toleranzedikt vom 2.6.1662 mit dem Verbot konfessioneller Polemik und der Verpflichtung auf die CA ( invariata) und die Apologie unter Übergehung der Konkordienformel. Die Berliner Lutheraner sahen darin einen unzulässigen Eingriff der Obrigkeit in Bekenntnisfragen; auch wenn es nur selten zu direkten Konfrontationen mit den Behörden kam, verschlechterte sich das konfessionelle Klima zusehends.
Die entscheidende, zweite Phase des Kirchenstreits (176–344) war durch das Berliner Religionsgespräch der Jahre 1662–1663 markiert. Der Große Kurfürst folgte mit der Ansetzung dieses Kolloquiums dem Vorbild des Religionsgesprächs, das sein Schwager, Landgraf Wilhelm VI. von Hessen-Kassel, 1661 in Kassel veranstaltet hatte. Unter dem Vorsitz eines paritätisch besetzten neunköpfigen Präsidiums aus Angehörigen des Geheimen Rates unter Leitung des Oberpräsidenten Otto von Schwerin debattierten drei reformierte Kollokutoren, darunter der Hofprediger Bartholomäus Stosch, mit neun lutherischen Pfarrern aus Berlin und Cölln. Zwischen dem 1.9.1662 und dem 29.5.1663 fanden in der kurfürstlichen Hofbibliothek insgesamt 17 offizielle und drei inoffizielle Sessionen statt, die der Vf. grob vier Abschnitten zuordnet. Die beiden vom Souverän vorgegebenen Ausgangsfragen lauteten, ob in den reformierten Bekenntnissen Lehren enthalten seien, die das Seelenheil gefährdeten, oder Lehren fehlten, die für das Seelenheil notwendig seien. In der Folge wurde vor allem über Verfahrensfragen und Bedingungen einer Toleranz gesprochen, die bekannten Lehrdifferenzen über das Abendmahl ( manducatio oralis, Ubiquität) und die Prädestination wurden angesprochen, aber bei Weitem nicht erschöpfend erörtert. Ein Erfolg war aus verschiedenen Gründen nicht zu erzielen; vor allem waren die Lutheraner nicht bereit, eine Toleranz ohne vollständige Übereinstimmung in der Lehre zu erklären. Aufschlussreich sind die vom Vf. ausgewerteten und auszugsweise im Anhang des Buches edierten Vota collegialia der Lutheraner, aus denen hervorgeht, dass Gerhardt, obgleich er in den Verhandlungen selbst nicht hervortrat, hinter den Kulissen einen erheblichen Einfluss auf die Meinungsbildung der lutherischen Kollokutoren gehabt hat.
Mit dem ergebnislosen Abbruch des Berliner Kolloquiums trat der Kirchenstreit in seine dritte, wieder durch obrigkeitliche Maßnahmen gekennzeichnete Phase ein (345–504). Am 16.9.1664 erließ der Kurfürst ein zweites Toleranzedikt, das nun auch an die Reformierten gerichtet war, mit dem er abermals die konfessionelle Polemik untersagte. Auf die Einhaltung der beiden Toleranzedikte von 1662 und 1664 und eines ähnlichen von Kurfürst Johann Sigismund aus dem Jahre 1614 sollten sich Pfarrer, Lehrer und Hofbe amte durch Unterzeichnung von förmlichen Reversen verpflichten. Die lutherischen Pfarrer sahen darin den Versuch eines Eingriffs in den Bekenntnisstand, vor allem im Sinne eines Aus­schlusses der Konkordienformel. Einige verweigerten unter Berufung auf ihr Gewissen die Unterschrift, so auch Paul Gerhardt, der trotz eines abermaligen Entgegenkommens des Kurfürsten an seinem Widerstand festhielt und 1667 aus dem Amt entfernt wurde. Im Endeffekt kam es zu einem weitgehenden Revirement auf den lutherischen Pfarrstellen in Berlin und Cölln.
Die ausgedehnten Rekonstruktionen des Vf.s lassen die Intentionen aller Beteiligten – vor allem des Kurfürsten, der Teilnehmer des Berliner Kolloquiums und Paul Gerhardts – besser verstehen und differenzierter beurteilen. Mit größerem politischem Geschick hätten der Fürst und seine Räte vielleicht die Verhärtung der Fronten vermeiden können. Doch letztlich war das ambitionierte Ziel einer kirchlichen Toleranz unter den Bedingungen der kirchlichen Realität Brandenburgs in der zweiten Hälfte des 17. Jh.s – noch – nicht zu erreichen. Erst die preußische Union des Jahres 1817 brachte die zwei Jahrhunderte währende konfessionelle Ausgleichspolitik der Hohenzollern zu einem vorläufigen erfolgreichen Abschluss.