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Ausgabe:

April/2013

Spalte:

457–459

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Kahl, Hans-Dietrich

Titel/Untertitel:

Heidenfrage und Slawenfrage im deutschen Mittelalter. Ausgewählte Studien 1953–2008.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2011. XLVI, 1009 S. m. Abb. = East Central and Eastern Europe in the Middle Ages, 450–1450, 4. Geb. EUR 236,00. ISBN 978-90-04-16751-3.

Rezensent:

Gert Haendler

Der 90-jährige Gießener Historiker Hans-Dietrich Kahl untersuchte immer wieder die Einführung des Christentums in dem Raum, der ihm als gebürtigem Dresdener Heimat ist. Die Elbslawen sind trotz der sprachlichen Verschiedenheiten »Teil deutscher Volksgeschichte« (XLI). Die ausgewählten 26 Beiträge erschienen in vier Ländern seit 1953 (XLV).
Beitrag I »Geschichte in einer sich wandelnden Welt« warnt davor, nur das praktisch Nutzbare zu sehen, »als hätten wir, die wir doch von Auschwitz her kommen, das Recht, für die Zukunft in erster Linie Technokraten heranzubilden, statt nunmehr alles der Entfaltung des Menschlichen unterzuordnen« (18). Beitrag III wendet sich gegen »ein gefährliches Zerrbild deutsch-slawischer Frühgeschichte«, das in einigen Landsmannschaften lebt. Es folgen vier regionale Themen zwischen Oberfranken und Rügen (125–180). Beitrag VIII »Heid­nisches Wendentum und christliche Stammesfürsten« gilt der Verschiedenheit von Gentil- und Universalreligion. Einzelne Slawen­fürsten wurden Christen, die Masse der Slawen blieb bei ihren Göttern. Christen beteten nicht zu Triglaw oder Swantewit »sondern zu Christus und zum heiligen Heinrich« (201). Heiden sprachen vom »Teutonicus Deus«. Die gentilreligiöse Grundeinstellung altsla­wischer Religion stellte christlichen Fürsten ihren Kult frei, aber sie konnten »ihre Herrschaft nicht als eine christliche auffassen« (221).
Beitrag IX »Bausteine zur Grundlegung einer missionsgeschichtlichen Phänomenologie des Hochmittelalters« geht zurück zu Augustin, bei dem K. ein zweifaches Missionsziel unterscheidet: Ausrottung des Heidentums und Pflanzung des Christentums. Zwangsmaßnahmen gehören zur »Entpaganisierung« (239). Das Wort von der »Predigt mit eiserner Zunge« darf nicht verallge­meinert werden. Das bekannteste Gegenbeispiel ist Franz von As­-sisi, der 1219 zum Sultan kam »in Abkehr vom herkömmlichen Kreuzzugsdenken« (241). Bei den meisten Slawen entstand »ein Namenschristentum, dem der neue Glaube alles andere als Herzenssache ist«. Die Kirche hat solche »Entgeistigung und Formalisierung« in Kauf genommen als Schatten, »die dem zugehörigen Lichtschein untrennbar verbunden sind« (243). Eine Missionsphänomenologie sollte immer »den ganzen Menschen im Auge behalten: den, der niemals nur Christ ist oder nur Heide, sondern immer zugleich auch König oder Kaufmann, Priester oder Krieger, Adeliger, Höriger oder Freibauer« (270). Beitrag X »Die ersten Jahrhunderte missionsgeschichtlichen Mittelalters« geht auf die von Papst Gregor I. angeregte Missionierung der Angelsachsen ein, die ge­waltfrei war. Beda nennt religiöse Fragen von Landsleuten, die vom Christentum beantwortet werden konnten (296). Zwar gab es bei Gregor schon eine »Wende vom Altertum zum Mittelalter«, aber »der definitive Umschlag […] erfolgt im Karolingerreich« (324).
Beitrag XI gilt der Sachsenpolitik Karls d. Gr., die dazu beitrug, »daß ein deutsches Volk als überstammliches Einheitsgefüge« entstand. K. will die Vorgänge verstehen, aber »alles Verstehen« bedeutet nicht »alles Verzeihen« (347). Die brutale Capitulatio de partibus Saxoniae entstand Weihnachten 774. Nach K.s Vermutung könnte der Weihnachtstext »Friede auf Erden den Menschen guten Willens« dazu beigetragen haben: Die Sachsen hatten sich »außerhalb der homines bonae voluntatis gestellt« (360). Die Sachsen haben auf fränkischem Boden alle Siedlungen, die sie erreichen konnten, mit Feuer und Schwert verheert. Aber noch kritischer sieht K. den »Mann, von dem diese Herausforderung ausging«. Der Mönch Wi­dukind von Corvey fragt nach Taufen, nicht nach Überzeugungen. Beitrag XII »Das Würzburger Sondersendrecht für christianisierte Slawen und sonstige Nichtfranken« bietet die Edition eines Rechts­textes der Zeit Konrads I. (918?) mit Übersetzung (456–464).
K. sieht in Beitrag XIV »Zum Geist der deutschen Slawenmission des Hochmittelalters« nicht nur auf unsere sächsischen und fränkischen Vorfahren – auch »Wilzen, Obotriten und wie sie alle hießen« sind Teil unseres Volkes (465). Boso hat stets die Freiwilligkeit des Übertritts beachtet und steht »neben einem Wynfrith-Bonifatius, einem Otto von Bamberg oder einem Wizelin« (474). Das Bild von einer Christianisierung nur mit Feuer und Schwert »gehört in das Reich der Legende«. Es gab viel Einsatz »um die friedliche Bekehrung ohne jede Zuhilfenahme weltlicher Zwangsmittel« (480). Beitrag XV »Compellere intrare« untersucht die Wendenpolitik Bruns von Querfurth im Lichte mittelalterlichen Missions- und Völkerrechts. Brun stand zwischen dem Po­lenherrscher Boleslav Chrobry und dem deutschen König Heinrich II., die gegeneinander Krieg führten. Heinrich hatte heidnische Liutizen im Kampf gegen die christlichen Polen eingesetzt. Brun fragt 1099 seinen König: »Ist es recht, ein christliches Volk zu bekämpfen und mit einem heidnischen Freundschaft zu halten?« (498). Dazu zitiert er das Wort Lk 14,23 »compellere intrare«: Gemeinsam sollten Christen die Abtrünnigen bezwingen. Brun folgt Augus­tins Auslegung jener Stelle im Kampf gegen die abtrünnigen Donatisten (503).
Beitrag XVI »Das Ende des Triglaw von Brandenburg« gilt der Zerstörung des Triglawheiligtums und der Machtübernahme Albrechts des Bären 1150. Beitrag XVII »Die Entwicklung des Bistums Brandenburg bis 1165« war ein Vortrag 1965 zum Domjubiläum in Brandenburg. (Wir warteten damals gespannt, ob K. einreisen dürfe!) Die Burg war 929 von Heinrich I. erobert worden, die Urkunde zur Bistumsgründung 948 regelte Grundbesitz und Zehnten (583). Nach dem Slawenaufstand 983 wurde den Liutizen ihre alte Religion zugestanden. Erst 1114 ging Bischof Hertberg gegen Götzenbilder vor und 1165 führte Bischof Wilmar seinen Konvent nach Brandenburg (603). Beitrag XVIII geht der Frage nach: »Wie kam das Prinzip der Zehntdrittelteilung in die Diözesen Brandenburg und Havelberg?« (605–622).
Beitrag XIX stellt sich dem Problem: Wie kam es zum »Wendenkreuzzug«? Ein Reichstag 1147 beriet über einen Kreuzzug nach Jerusalem. Die Sachsen lehnten ab, sie hätten Heiden vor ihrer Haustür. Bernhard von Clairvaux forderte, sie sollten dort »Kreuzzugsaktivitäten« entfalten (631). Er sah Kreuzzüge als »Auseinandersetzung der beiden civitates Augustins«, darin waren alle Heiden eine Einheit. Beitrag XX »... Auszujäten von der Erde die Feinde des Chris­tennamens« beruht auf Bernhards Brief 457 über Feinde Christi, »qui sunt ultra Albi«. Das Bild stammt aus den Sibyllinen, die im alten Rom vor Gefahren aus dem Norden warnten. Bernhard malt »in seinem Aufruf das Gespenst einer unermeßlichen Bedrohung an die Wand« (659). Beitrag XXI »Zum Ergebnis des Wendenkreuzzugs von 1147« zitiert Hemolds Chronik: »Endlich, als unsere Leute schon durchaus keine Lust mehr hatten, kam eine Übereinkunft zustande in dem Sinn, daß die Wenden den christlichen Glauben wieder annehmen«. K. zeigt die Umbiegung in weltliche Ziele durch Albrecht den Bären und Bischof Anselm von Havelberg. Der Kreuzzug hat »in weitem Umfang das Ziel erreicht«, das ihm gesteckt war (699). Beitrag XXII »Vom Wendenkreuzzug nach Siebenbürgen« berichtet skeptisch über eine These: Kolonisten aus Flandern, die einem Ruf des Magdeburger Erzbischofs folgten, hätten 1147 ihr Ziel geändert und seien einem Ruf des ungarischen Königs Geza gefolgt. Eher könnten andere Kreuzfahrer dort geblieben sein (729).
Der längste Beitrag XXIII »Die Anfänge Schwerins« (737–880) beginnt 1018 mit Thietmars Nennung des wendischen Ortsnamens Zverini. 1155 ist Schwerin als Stützpunkt für Bischof Berno »nicht bezeugt, aber sehr wohl denkbar« (778). Wendenfürst Niklot gab 1160 den Ort dem Feuer preis. In den Jahren 1160–1186 wurde Schwerin ein »Vorposten der Deutschen« (781). Saxo grammaticus nannte 1164 Schwerin eine civitas, aber das war keine Stadtgründung nach deutschem Recht, civitas bedeutet hier »Bischofssitz« (785). Helmold von Bosau nennt Schwerin in seiner 1172 abgeschlossenen Chronik ein castrum und be­gründet, weshalb hier ein Bischof wirkt (825). Das älteste Stadtsiegel zeigt Heinrich den Löwen, der 1180 gestürzt wurde. Schwerin wurde also zur Stadt zwischen den »Urkunden, die das Bistum 1171 vom Herzog und 1178 von Papst Alexander III. erhielt« (844). Dazwischen lag eine »rasante Entwicklung« (865).
Beitrag XXIV »Zur kulturellen Stellung der Deutschordensritter in Preußen« zeigt Bezüge zwischen Ordensrittern und Bürgerkultur. Unklar ist, wie viele Ritterbrüder sich »aktiv fördernd an diesen Entwicklungen« beteiligten (905). Beitrag XXV untersucht die völkerrechtliche Lösung der »Heidenfrage« bei Paulus Vladimiri von Krakau († 1435). Vladimiri warf dem Deutschorden vor, einen direkten Missionskrieg zu führen. Aber viele kritische Wendungen über Eroberungskriege sind praktisch »so gut wie bedeutungslos« (921). Um 1170 bot das Versepos »Graf Rudolf« ein ritterliches Ideal auch für Muslime. Das Rolandslied könnte Bezüge zum Wendenkreuzzug 1147 enthalten (939). Der Ludus de Antichristo vertritt kaiserliche Ideale gegenüber Bernhards Kreuzzugsidee (946). Wolfram von Eschenbach enthält Bemerkungen zu einem Völkerrechtsprogramm für Heiden: Sie sind als »Menschen – die Scho­-las­tik würde sagen von Natur – einander gleich« (948).
Beitrag XXVI enthält Worte des Jubilars zu seinem 80. Geburtstag über die Möglichkeiten der Geschichtswissenschaften, »Brücken zwischen Völkern schlagen zu helfen« (958). Hinsichtlich der für Deutschland verlorenen Ostgebiete erinnert er an historische Katastrophen, die unumkehrbar sind. »Konstantinopel ist seit 1453 eine türkische Stadt und ein islamisches Zentrum, auch wenn es bis dahin weit über ein Jahrtausend lang christlich-byzanti­nische Kaiserstadt war.« Für die Bevölkerung im Elberaum gilt: »Es ist wichtig, ein Eigenes zu haben, in dem man wurzeln kann. Aber alles Eigene fußt auf Mischtraditionen, die weiter veränderbar sind, und ich vermag nicht einzusehen, warum man nicht fest in diesem Eigenen leben kann, ohne Anderes und Neues feindselig abzuwehren. Der Glaube an unabänderliche Statik ist ganz sicher eine unhistorische, eine widerhistorische Vorstellung.« (960 f.)
Die quellengesättigten Einzeluntersuchungen zum Mittelalter liest man ebenso mit Gewinn und Dank wie die klare Schlussfolgerung für die Gegenwart.