Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/2013

Spalte:

451–453

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Schmeller, Thomas

Titel/Untertitel:

Der zweite Brief an die Korinther. Teilbd.1: 2Kor 1,1–7,4.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theologie; Ostfildern: Patmos-Verlag 2010. X, 387 S. = Evangelisch-Katho­lischer Kommentar zum Neuen Testament, VIII/1. Kart. EUR 59,00. ISBN 978-3-7887-2434-4 (Neukirchener Theologie); 978-3-491-52007-3 (Patmos-Verlag).

Rezensent:

Ulrich Heckel

Nach den Klassikern von Ph. Bachmann, C. F. G. Heinrici und H. Windisch sowie dem Fragment von R. Bultmann und einigen neueren Auslegungen (F. Lang, H.-J. Klauck, C. Wolff, E. Gräßer) er­scheint mit diesem Band nach langer Zeit erstmals wieder ein größerer deutschsprachiger Kommentar zum 2. Korintherbrief. Nicht nur zu den Problemen der Einheitlichkeit, der historischen Rekonstruktion der Korintherbriefkorrespondenz und der Herkunft der Gegner nimmt man den Band von Thomas Schmeller voller Spannung zur Hand, sondern auch im Blick auf Anthropologie und Amtsverständnis, Leidbewältigung und Eschatologie, die Deutung des Todes Jesu oder das Verhältnis von Altem und Neuem Bund. Durchgehend findet sich eine solide, textnahe Auslegung, die viele synchrone Querbezüge aufzeigt, einschlägige Forschungspositionen referiert und unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten nennt.
Angesichts einer zunehmenden Skepsis gegenüber komplizierten Teilungshypothesen wird die These literarischer Einheitlichkeit präferiert (36 f.). Daher beziehen sich auch die Versöhnungsaussagen in 2Kor 1–7 (bes. 7,5 ff.) im Vergleich mit den Kampfaussagen in den Kapiteln 10 bis 13 »lediglich auf verschiedene Aspekte des einen […] Konflikts« (40). Bei den Gegnern werden durchgehend dieselben Wandermissionare vermutet, die als traditionsbewusste Judenchristen (11,22) mit der Jerusalemer Gemeinde in Verbindung standen (vgl. 10,12–18 mit Gal 2,8 f.), aus der auch die Empfehlungsbriefe (3,1) stammen (16.174 f.180). Die Gegnerfront wird stets bedacht, jedoch ernst genommen, dass Paulus vor allem die korinthische Gemeinde für die Akzeptanz seines apostolischen Dienstes gewinnen will und muss.
Rhetorische Figuren werden benannt, aber nur wenig für das Textverständnis fruchtbar gemacht. Warum beim Trostmotiv in 1,3 ff. die Häufung der stammverwandten Wörter »stilistisch eher störend als eindrucksvoll« sein soll (59), wird nicht verständlich, da die Häufung der Wortfamilie doch »mit dem Anliegen von 2Kor (oder 2Kor 1–9) zu tun (hat)« (59). Angesichts dieser programmatischen Bedeutung hätte man gerne mehr über das paulinische Trostverständnis erfahren. Umso bedauerlicher erscheint es, dass selbst wichtige Begriffe in der Regel nur im unmittelbaren Kontext des 2Kor beleuchtet, im paulinischen Verständnis aber kaum weiter vertieft werden.
Der Band enthält zwei Exkurse zum »Wir« im 2Kor und zur Kontextstellung von 6,14–7,1 sowie diverse Abschnitte zur Auslegungs- und Wirkungsgeschichte. Altkirchliche und mittelalterliche Auslegungen, aber auch Luther und Calvin werden herangezogen, Deutungstypen oder größere Linien jedoch kaum aufgezeigt.
Stehen unterschiedliche Auslegungsmöglichkeiten zur Diskussion, ist das Urteil vielfach zögerlich und unentschieden. So er­scheint z. B. bei 1,8 »eine Entscheidung« zwischen Krankheit und Gefängnisaufenthalt »nicht möglich« (70). Da das Perfekt eschēkamen (1,9) sich jedoch nicht auf das Widerfahrnis der Todesnot in 1,8 bezieht, die Paulus über die Kraft »bedrückt hat« (Aorist), sondern als »theologische Interpretation der Notsituation« »ein sekundärer Akt« ist (71), entfällt diese Verbform als Argument für die »bleibende Gefährdung« (70) durch »eine schwere, wahrscheinlich chronische Krankheit« (69 f.; vgl. 12,7). Völlig unverständlich bleibt die Rede von »einem Krankheitsschub« (75), da Paulus nicht von einer Verschlimmerung spricht, sondern davon, dass Gott ihn aus dieser Todesnot »errettet hat« (wieder Aorist; 1,10). Zudem werden Krank heiten nicht durch Ortsangaben charakterisiert, und auch die Wortfamilie thlipsis wird nur für äußere oder innere Bedrängnisse gebraucht (vgl. 1,4.6.8; 2,4; 4,8.17; 6,4 sowie ThWNT III, 139–148). Diese Beobachtungen sprechen eher für einen Gefängnisaufenthalt in Ephesus, während dessen auch Phil und Phlm entstanden sein könnten.
Auch bei der Deutung der Christusleiden in 1,5 (64) und des Sterbens Jesu in 4,10 (263) werden unterschiedliche Interpretationen einfach aufgeführt, aber nicht gewichtet: So begegnet z.B. der Nachahmungsgedanke (263) bei Paulus nur als Aufforderung in der Paränese (1Kor 4,16; 11,1; Phil 3,17; 4,9; 1Thess 1,6), aber nicht zur Deutung der Leiden. Auch der Hinweis auf die Verbindung mit Christus durch die Taufe in Röm 6 (64.263) ist unzureichend, da die Aoristformen dort an den in der Taufe vollzogenen Herrschaftswechsel erinnern, die Gemeinschaft mit Christus im Leiden jedoch präsentisch ausgedrückt wird. Hier hätte der Vergleich mit dem sonstigen Sprachgebrauch bei Paulus eine differenziertere Abwägung ermöglicht.
Beim Vergleich mit Mose (3,7–18) wird mit den meisten neueren Auslegungen davon ausgegangen, dass die Gegnerproblematik zwar den Ausgangspunkt bildet, aber nicht den Gedankengang bestimmt (194.205). Wichtig erscheint, dass vom Gesetz (nomos) im 2Kor nirgends die Rede ist, in 3,3.7 aber unverkennbar auf die Gesetzestafeln vom Sinai hingewiesen wird (186). Die Ausführungen »dienen nicht der Abwertung des unterlegenen mosaischen, sondern der Aufwertung des überlegenen paulinischen Dienstes« (231). Die doxa des Mose wird nicht geleugnet, aber in mehrfacher Hinsicht übertroffen und mit einem »deutliche(n) Exklusivitätsanspruch« verbunden durch »den weit stärkeren Glanz eines anderen Gottesboten, Jesus Christus« (231 f.).
Bei den Peristasenkatalogen orientiert sich der Vf. »vor allem an der ausgezeichneten Analyse von Ebner« (Leidenslisten und Apostelbrief, fzb 66, Würzburg 1991) und folgt dessen »relativ eindeutigen Entscheidung […] für den stoischen Typ« (259 f., Anm. 531 u. 535). Dass zur stoischen Tradition auch gewichtige Unterschiede bestehen, wird mit diversen Rückverweisen auf Kapitel 1 und 4 leider erst zu 6,3 ff. ausgeführt in der »Zusammengehörigkeit seiner großartigen Berufung und seiner armseligen Erscheinung« (349), in der »Teilhabe am Leiden Christi« (350), im Zutrauen auf die Kraft Gottes (354.361) sowie in der – christologisch begründeten (8,9) – »Bereicherung anderer« (359). Umso mehr fällt auf, dass Paulus selbst im Kontext der Peristasenkataloge wiederholt aus dem Psalter zitiert (Ps 43,23 LXX in Röm 8,36; Ps 115,1 LXX in 2Kor 4,13; Ps 117,17 f. LXX in 2Kor 6,9), sich in der Briefeingangseulogie (1,3–11) »in der Sprache der Psalmen ausdrückt« (46) und hier auch die Got tesbezeichnungen »in langer jüdischer Tradition (stehen)« (58). Daher wäre – zumal angesichts der judenchristlichen Gegner! – nicht nur nach stoischen Parallelen, sondern stärker auch nach alttestamentlich-jüdischen Traditionen zu fragen, die Paulus im Um­gang mit dem Leiden geprägt haben. Völlig zu Recht wird einem verbreiteten Missverständnis gegenüber hervorgehoben, »dass das Leiden zwar ein, aber nicht der einzige Ort ist, an dem Paulus die Kraft Gottes erfährt« (354). In 4,16 werden beim Gegensatz von äußerem und innerem Menschen Gemeinsamkeiten mit der philosophischen Tradition und wesentliche Unterschiede der paulinischen Verwendung differenziert herausgearbeitet (272 ff.). »Ein besonders dorniges Problem« ist die Deutung der Nacktheit in 5,3, die »als ein von Paulus gefürchteter leibloser Zwischenzustand zwischen Tod und Auferstehung zu verstehen ist« (293.296).
Bei den christologischen Aussagen wird das kata sarka in 5,16 zu Recht adverbial auf die weltliche Erkenntnisweise bezogen, nicht auf die Bekanntschaft mit dem irdischen Jesus (324 f.). Ansonsten werden Fragen der Christologie in 5,14–21 eher angeschnitten als diskutiert. Als Anlass für die Versöhnungsthematik wird zutreffend die konfliktbeladene Briefsituation genannt. Erstaunlich de­zidiert wirkt angesichts der sonstigen Unentschiedenheit jedoch die Zusammenfassung, dass die Textaussagen zum Heilsgeschehen hier »kein eigenes Gewicht (tragen). Es geht dem Text nicht um Soteriologie« (340). Wirklich? Auch nicht bei den Stellvertretungsaussagen (5,14 f.), auch nicht beim Versöhnungsgedanken (5,18 f.), auch nicht beim Tausch von Sünde und Gerechtigkeit (5,21)?