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Ausgabe:

April/2013

Spalte:

439–442

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Deines, Roland, Herzer, Jens, u. Karl-Wilhelm Niebuhr [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Neues Testament und hellenistisch-jüdische Alltagskultur. Wechselseitige Wahrnehmungen. III. Internationales Symposium zum Corpus Judaeo-Hellenisticum Novi Testamenti 21.–24. Mai 2009, Leipzig.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2011. XXI, 493 S. m. Abb. 23,0 x 15,5 cm = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 274. Lw. EUR 129,00. ISBN 978-3-16-150170-8.

Rezensent:

Markus Öhler

Der Sammelband geht auf eine Tagung aus dem Jahr 2009 zurück, die sich mit »der nicht-literarischen und materialen Kultur des hellenistischen Judentums und deren Bedeutung für die Erforschung des Neuen Testaments« beschäftigte (V). So klar diese Ausrichtung formuliert ist, die hier versammelten Aufsätze haben sich diesem Vorhaben nicht gleichermaßen angeschlossen.
Mit der im Bandtitel genannten Alltagskultur im engeren Sinn beschäftigen sich die einleitenden Beiträge von Eric M. und Carol Meyers sowie Roland Deines. Die Übersicht zur jüdischen materialen Kultur im späthellenistischen und frührömischen Palästina, die die beiden Meyers bieten (3–23), stellt die Ergebnisse aus Jahrzehnten der Forschung dar, ist allerdings sehr allgemein gehalten. Spezifischer sind die Ausführungen von Deines, der sich ausdrücklich mit nicht-literarischen Zeugnissen beschäftigt und dabei auch methodologische Einsichten diskutiert (25–66). Zu letzteren gehören etwa die ausdrückliche Beachtung des Kontextes von Inschriften oder die Einordnung von Artefakten in die materiale Kultur der Antike. Vor allem die unterschiedlichen Rollen von nichtliterarischen Hinterlassenschaften der Antike in der neutestamentlichen Exegese werden von Deines detailliert an Beispielen vorgeführt (Jak 2,2f.; 3,2f.; Mk 2,1–4; 4,38; Joh 3,25–27; 9,6 f.11; 11,55; 13,10). Ergänzend, aber wohl durchaus im Sinne des Autors könnte man noch anführen: Die Interpretation der jeweiligen »Text«-Sorten – literarische wie nichtliterarische – sollte zunächst unabhängig voneinander durchgeführt werden, bevor sie in einer gemeinsamen Be­trachtung ausgewertet werden können.
Ausdrücklich um Alltagskultur geht es auch in der den Band abschließenden Untersuchung Martin Meisers, der Reinheitsfragen und Begräbnissitten im Markusevangelium (Mk 7,1–23; 15,42–47) und frühen Judentum behandelt (443–460). Er zeigt darin vor allem aufgrund von Mk 7, dass der Vf. auf einer vertieften Kenntnis spezifisch pharisäischer Alltagsvorschriften aufbaut. Daher sei nicht nur dessen jüdische Herkunft sehr wahrscheinlich, sondern das Evangelium auch als Text zur jüdischen Alltagskultur insgesamt auswertbar.
Angeschlossen an die Einleitungen von Meyers und Deines ist eine Reihe von Doppelbeiträgen, mit denen aus althistorischer bzw. exegetischer Perspektive Einzelfragen besprochen werden. Eine zahlreich bebilderte Übersicht über die wenigen – gänzlich bereits bekannten – archäologischen und inschriftlichen Zeugnisse des antiken Judentums aus Ephesus, erweitert um Beispiele aus Kleinasien, gibt Renate Pillinger (85–98). Mehr Neues zu sagen weiß Jörg Frey, der ausführlich die Gemeinden des Johannesevangeliums auf dem Hintergrund der jüdischen Diaspora Kleinasiens untersucht (99–132), auf Pillingers epigraphische und archäologische Ausführungen allerdings nicht Bezug nimmt. Interessant, wenn auch mit einem erheblichen Anteil an Spekulation verbunden, sind Freys Ausführungen zur diasporajüdischen Prägung des Johannesevangeliums, die er nur in Spuren nachweisen kann: Ab­grenzung von Verunreinigung durch Götzendienst (3Joh 7; 1Joh 5, 21), die gegenseitige Unterstützung (1Joh 1,3.6 f.; 2,7–11) und die Metaphorisierung des Tempels (Joh 4,23).
Um Architektur geht es bei Achim Lichtenberger (133–164, mit Abb.), der zeigt, dass gerade jene Bauelemente (Peristylhöfe, römische Badgestaltung, Opus reticulatum und Schwarz-Weiß-Mo­saiken), die Herodes in seinen eigenen Bauten verwendete, von seinen Zeitgenossen nicht übernommen wurden. Religiöse (wie bei den Bädern) und finanzielle Gründe (etwa bei den Mosaiken) mögen hier tatsächlich eine Rolle gespielt haben. Rainer Riesner definiert in seinem Beitrag herodianische Architektur freilich als jene »aus herodianischer Zeit« und geht auf Gebäude näher ein, die im Neuen Testament eine gewisse Rolle spielten (165–196, mit Abb.). Riesner schließt aus den Berichten in Lk/Act, dass Lukas den Tempel nicht nur kannte (was an sich schon kontrovers diskutiert wird), sondern »wirklich geliebt hat« (176). Dies lässt sich freilich nicht mit Lk 19,41–44 begründen: Jesus weint über die Stadt, nicht über den Tempel, wie auch Riesner zugestehen muss (177). Die weiteren Ausführungen zu Räumen, die in der Apg begegnen, oder zu den beiden Teichen im JohEv sind reich an Details, wenngleich recht spekulativ.
Dass Namen ein wesentlicher Aspekt von persönlicher und sozialer Identität von Juden und Jüdinnen waren, wird in den Arbeiten von Tal Ilan deutlich (Lexicon of Jewish Names in Late Antiquity, 2002–2011), deren Ergebnisse in diesem Band aufgenommen sind (197–212). Ilan zeigt die hohe Bedeutung der Namen hasmonäischer Herrscher in Palästina ebenso auf wie die abgrenzende Funktion bestimmter Namen. Abgesehen von dem Versehen, Sigmund Freud zu einem Deutschen gemacht zu haben (197), handelt es sich um einen ausgesprochen erhellenden Beitrag. Gänzlich theologisch ausgerichtet und ohne jeden Bezug auf materiale Kultur ist Dieter Sängers Untersuchung zu Gal 4,21–31, die zu dem Ergebnis kommt, dass die Namensallegorese die Identität der Adressaten des Briefes stärken soll (213–239). »Dass Sara ungenannt bleibt, ist Programm« (238), denn es gehe nicht um die Person, sondern um die mit ihr verbundenen Prädikate, von denen »die Freie« entscheidend für die christliche Identität gewesen sei.
Enger aufeinander bezogen und auch tatsächlich relevant hinsichtlich der Alltagskultur sind die Beiträge von Walter Ameling und Karl-Wilhelm Niebuhr. Ameling geht unter dem Titel »Paränese und Ethik in den kleinasiatischen Beichtinschriften« (241–249) den Gemeinsamkeiten jüdischer, christlicher und paganer Ethik nach. Er kommt aufgrund der Bearbeitung lydisch-phrygischer Zeugnisse des 2./3. Jh. – wenn auch leider nur auf knappem Raum – zu Schlüssen, die an der Besonderheit jüdisch-christlicher Ethik zweifeln lassen. Daran schließt sich Niebuhr mit einer Untersuchung des Jakobusbriefes an, die jüdisches, jesuanisches und in Inschriften erkennbares paganes Ethos als Vergleichsmaterial heranzieht (251–274). Gerade hier wird wieder deutlich: An­schlussmöglichkeiten boten sich zumindest für das Ethos in verschiedenen Richtungen. Dass Zeugnisse wie jene Beichtinschriften näher an der Erfahrungswelt der Menschen sind und gerade dort sehr ähnliche Grundhaltungen auftauchen, lässt sich wohl noch weiter vertiefen.
Adela Yarbro Collins widmet sich unter dem Stichwort »Numismatik« Be­schreibungen von Herrschern in der Johannesapokalypse (275–299). Yarbro Collins geht sehr ausführlich auf Apk 17 f. ein, größtenteils allerdings ohne konkreten Bezug auf Münzen. Vielmehr werden jene alttestamentlich-jüdischen und paganen Texte ausführlich diskutiert, die den Hintergrund für die Ausführungen in der Apokalypse des Johannes bilden.
Eng aufeinander bezogen sind die Beiträge, die auf dem Hintergrund der Papyrusfunde die Pastoralbriefe beleuchten. Peter Arzt-Grabner kommt in seiner formkritisch orientierten Untersuchung (301–317) zu einem durch zahlreiche Belege unterstützten und unbestreitbaren Ergebnis: »Echte Parallelen […] bieten die dokumentarischen Papyri nicht« (317). Diese zeigen vielmehr, dass Verhaltensregeln in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Kontexten üb­lich waren. Jens Herzer nimmt diesen Befund auf und führt die Überlegungen bezogen auf die Pastoralbriefe weiter (319–346). Wesentlich sind hier u. a. seine methodischen Überlegungen zum Vergleich von literarischen Texten und nichtliterarischen Alltagszeugnissen wie den Papyrusdokumenten. Für 1Tim und Tit zieht Herzer kaiserzeitliche Hypomnemata als Vergleichsmaterial heran (v. a. P. Tebt III 703), die freilich für die Frage nach den Entstehungsverhältnissen der Briefe nichts hergeben. Inhaltlich aufschlussreicher sind die Wortuntersuchungen zu πίστις und διπλῆ τιμή, sodass auch hier insgesamt deutlich wird, wie eng »jüdische [und christliche! M. Ö.] Alltagskultur mit der paganen griechisch-römischen Alltagswelt verbunden war« (346).
Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Irina Levinskaya in einem (sehr knappen) Überblick über das kleinasiatische Judentum (347­­–357), der auch interessante statistische Details bietet. Die Inschriften zeigen recht eindrücklich, dass das Judentum in allen Bereichen antiker Lebenswelt verankert und gerade hinsichtlich des Alltags kaum von der paganen Umwelt zu unterscheiden war. Mit der Apostelgeschichte und der Darstellung der jüdischen Diaspora durch Lukas beschäftigt sich Jens Schröter (359–379). Seine etwas oberflächliche Übersicht kommt zu dem Ergebnis, dass die unterschiedliche Rezeption von Lokalkolorit durch Lukas nicht ausreiche, um ein spezifisch theologisches Profil des Diasporajudentums bzw. von dessen Alltagskultur erkennen zu können. Innerhalb der Apostelgeschichte bestehe die Funktion des Diasporajudentums vor allem darin, dessen Ablehnung der Evangeliumsverkündigung und die Hinwendung vor allem des Paulus zu den Völkern narrativ darzu-stellen.
Sehr ausführlich ist die Abhandlung von Andrew Chester »Jewish Inscriptions and Jewish Life« (383-441), der einen gut ausgearbeiteten und teilweise (etwa zur Aphrodisias-Inschrift IJO II 14) ausgesprochen differenzierten Forschungsbeitrag vorlegt, dem eine breite Rezeption und Diskussion zu wünschen ist. Zu nennen ist schließlich auch eine Darstellung von R. Scholl zur Geschichte der Leipziger Papyrussammlung (67-82).
Der Band enthält eine Reihe von weiterführenden Beiträgen, die für die Forschung interessante Anstöße geben, und solche, die mehr den Charakter eines Überblicks haben. Er ist durch Register vorbildlich erschlossen. Zwei Bemerkungen seien aber zum Cha­-rakter des Gesamtbandes noch angefügt, die dessen Verdienst jedoch keineswegs schmälern sollen:
Die Beschäftigung mit dem alltäglichen Leben in der Antike birgt eine große Reihe von Möglichkeiten, von denen im vorliegenden Band nur ein kleiner Ausschnitt aufgegriffen wird. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass die im Titel genannte »Alltagskultur« nicht definiert wird, wobei der Beitrag von J. Herzer die einzige Ausnahme darstellt (325). So finden sich etwa unter den Aufsätzen auch Artikel, die man unter dem Stichwort »Alltagskultur« nicht erwartet. Zudem orientiert sich das Verständnis von »Alltag« in einigen Beiträgen beinahe ausschließlich an literarischen Quellen. Hier stellt sich u. a. das Problem, dass in diesen Quellen überwiegend die Perspektiven und Ansichten der Eliten zu erkennen sind, die für das frühe Judentum wie Christentum und ihre Alltagskultur kaum relevant waren. Der Bezug auf diese Texte ist m. E. nicht ausreichend, um das alltägliche Leben auch nur annähernd in den Blick zu bekommen. Und schließlich kommen wichtige Bereiche des Alltags wie etwa Familie und Haus, Sexualität und Geschlecht, die tägliche Ausübung von Religiosität usw. in diesem Band leider kaum in den Blick.
Ein zweites Monitum betrifft ebenfalls den Titel: Ausgehend vom Projekt des Corpus Judaeo-Hellenisticum Novi Testamenti ist es sehr gut verständlich, dass eine Konzentration auf hellenistisch-jüdische Vergleichszeugnisse vorliegt. Es ist nun aber so, dass etliche Beiträge aus althistorischer Sicht nicht den jüdischen As­pekt im Zentrum haben, sondern vielmehr ganz selbstverständlich auch oder sogar ausschließlich nicht-jüdische Dokumente in den Blick nehmen (etwa in den Beiträgen von W. Ameling und P. Arzt-Grabner). Es zeigt sich auch in diesem Band immer wieder, dass eine Trennung zwischen jüdischem und paganem Umfeld gerade im Blick auf Alltagskultur wenig zielführend ist (vgl. etwa 259.266.323), da sich gerade im Alltäglichen kaum Unterschiede zwischen Juden und Nicht-Juden festmachen lassen. Die verbindende hellenistische Kultur war schlichtweg so prägend, dass eine entsprechende Differenzierung in diesem Bereich schwer durchzuhalten ist.