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Ausgabe:

April/2013

Spalte:

436–439

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Poser, Ruth

Titel/Untertitel:

Das Ezechielbuch als Trauma-Literatur.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2012. VII, 738 S. m. Abb. = Supplements to Vetus Testamentum, 154. Lw. EUR 188,00. ISBN 978-90-04-22744-6.

Rezensent:

Karin Schöpflin

Die Arbeit wurde im Sommersemester 2011 als Dissertation am Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg angenommen. Betreut wurde sie von Rainer Kessler. Nach eigener Aussage im Vorwort wurde Ruth Poser durch die Beteiligung an der Übersetzung des Ezechielbuches im Rahmen des Projekts »Bibel in gerechter Sprache« angeregt, dem Thema der Gewalt in diesem Prophetenbuch nachzugehen. Zugleich sieht sie in der Bezugnahme auf Trauma-Konzeptionen eine interdisziplinäre Verbindung zu ihrer Tätigkeit als Ergotherapeutin (IX).
Im 1. Kapitel (»Einleitung: Das Ezechielbuch verwunde[r]t«, 1–9) benennt die Vfn. einige »Befremdlichkeiten« dieser Prophetenschrift (Struktur des Buches, Präsentation des Protagonisten Ezechiel, Sprache, Gottes- und Menschenbild), die sie einer schlüssigen Deutung zuzuführen sucht. Angesichts eines fehlenden literarkritischen Forschungskonsenses wendet sie sich der Endgestalt des Buches zu und plant den Versuch, »das Ezechielbuch als Trauma-Literatur zu lesen und zu analysieren, als literarisches Werk also, dem sich individuelle und kollektive Gewalterfahrungen eingeschrieben haben« (5). Kapitel 2 (»Die Befremdlichkeiten des Ezechielbuches im Spiegel der Forschung«, 11–55) stellt vier Lösungsansätze für die benannten »Befremdlichkeiten« vor: a) Diagnosen einer psychischen Erkrankung des historischen »Autor-Propheten« Ezechiel; b) Rückführungen auf das prophetische Amt, das den historischen Ezechiel als herausragenden Einzelnen in eine außergewöhnliche Gottesbeziehung stelle; c) literar- und redaktionskritische Wahrnehmungen des Stummheits- und Gebundenheitsmotivs; d) gemischte, vermittelnde und weitere Deutungen. Die kritischen Auswertungen dieser Erklärungsmodelle bestärken die Vfn. in ihrem Ansatz, den traumatisiert erscheinenden Propheten als literarisches Phänomen zu betrachten. Im 3. Kapitel (»Trauma – ein literarhistorisches Sensibilisierungs-, Beschreibungs- und Er­kenntnismodell«, 57–119) stellt sie Begriff und Konzeptionen des individuellen bzw. kollektiven Traumas sowie deren literarischen Niederschlag ausgiebig vor; den Abschluss bildet ein Abschnitt über Merkmale und Kennzeichen Trauma-bearbeitender zeitgenössischer Literatur.
Das 4. Kapitel (»Geschichtliche und psychotraumatologische Referenzpunkte des Ezechielbuchs«, 121–248) bietet einerseits (A) eine Darstellung der historischen Entwicklungen und (kriegerischen) Ereignisse in Juda vom ausgehenden 7. Jh. bis 582 v. Chr., die Kontext und Auslöser traumatischen Erlebens bilden; andererseits (B) wird unter Auswertung außerbiblischer Zeugnisse ausgeführt, dass antiker mesopotamischer Belagerungskrieg – speziell die Belagerung, Eroberung und Zerstörung Jerusalems – und antike Praxis von Massendeportationen – speziell die Verschleppungen von 598/97 und 587/86 v. Chr. in Juda-Jerusalem – aufgrund ihres traumatogenen Charakters als psychotraumatologischer Hintergrund des Ezechielbuches plausibel seien.
Insbesondere der zweite Abschnitt, die »sozialgeschichtliche Untersuchung« von Belagerungs- und Deportationspraxis, sucht die Schreckensszenarien und die Empfindungen der diesen ausgesetzten Zivilbevölkerung auszumalen. In diesem Zusammenhang hebt die Vfn. hervor, dass die Metapher der Stadt als Frau, die sexueller Gewalt und Demütigung (beides systematisch eingesetzte Kriegswaffen) ausgesetzt wird, faktisch die einschlägigen Gewalterfahrungen der weiblichen und männlichen Opfer ausdrücke. Hinsichtlich der Deportationen betrachtet die Vfn. neben der Situation der Migration selbst die Situation vor und nach der Migration, die etwa Migrationsstress und Akkulturationsstress erzeugten und sog. Coping-Strategien erforderten.
Mit Kapitel 5 (»Das Ezechielbuch als [Trauma-]Literatur«, 249–339) will die Vfn. das anschließende Kapitel vorbereiten. Sie widmet sich zunächst dem Genre des Ezechielbuches (A), das sie als fiktionale Erzählung bestimmt sowie als diegetische Ich-Erzählung. Als fiktionale Trauma-Literatur vermittle es wie der zeitgenössische Trauma-Roman nicht nur das Geschehen an Außenstehende, sondern Schreiben und Lesen derselben führe zur Bewältigung des Traumas. Als Schlüsseltext für die Erzählsituation wird Ez 1,1–3 betrachtet. Aufgrund der Datierungen im Buch liege der Erzählzeitpunkt nach 571 v. Chr., wegen des Lebensalters des Propheten (vgl. das 30. [Lebens-]Jahr in Ez 1,1) müsse die Erzählung spätestens zwischen 550 und 540 v. Chr. erfolgt sein. Der Ort des Erzählens bleibe hingegen unmarkiert. Zudem sei das Buch von vornherein als schriftliche Erzählung konstruiert. Schriftrollenszene und Sprachlosigkeit des Propheten werden hier als metatextuelles Signal gedeutet. Abschnitt B formuliert fünf Leitfragen (290); um die Tragfähigkeit des »Trauma-Ansatzes« zu erweisen, folgt eine exemplarische Untersuchung von Ez 7, wo es um den Tag der Katastrophe gehe (betrachtet werden Textstruktur, traumatische Situationen und Symptomsprache, die Rolle Gottes), und der Wurzel םמשׁ als »Trauma-Wort«, welches mit 57 Vorkommen das Buch durchziehe. Schließlich stellt Abschnitt C Granofskys »trauma-response-Modell« vor: Danach umfasse der moderne Trauma-Roman als literarische Struktur die sich gegenseitig durchdringenden Phasen-Elemente fragmentation, regression und reunification.
Das umfangreichste – und nach Aussage der Vfn. das »eigent­liche Hauptkapitel« (8) – sechste Kapitel (»Das Ezechielbuch als trauma response – eine kursorische Lektüre mit Vertiefungen«, 341–637) bietet einen Durchgang durch die gesamte Schrift in der hebräischen Buchgestalt, die aufgrund der enthaltenen Datierungen in 14 Ab­schnitte untergliedert wird. Ziel ist, »die fragmentation-, regression- und reunification-Momente der jeweiligen Passage herauszuarbeiten, diese in ihrem Verhältnis zueinander zu beleuchten und, bezogen auf die Ezechielerzählung als Ganze, traumatologisch interessante und relevante Entwicklungen aufzuzeigen.« (341) Zum Vorgehen schreibt die Vfn.: »Zum Teil sind meine Ausführungen stärker an den drei Strukturelementen, denen Momente des Textes zugeordnet werden, orientiert […], zum Teil gehe ich eher von den Texten aus und weise diesen die entsprechenden Elemente der trauma response zu« (341). Der kursorische Durchgang durch die umfangsmäßig stark divergierenden Ezechiel-Abschnitte erfolgt relativ knapp, um nicht zu sagen oberflächlich.
Einige Passagen werden herausgegriffen und in neun »Vertiefungen« behandelt: das Verspeisen der Schriftrolle (Ez 2,8b–3,3) als »Schlucken des Traumas«; Ez 16,1–43 zum Aspekt »(Kriegs-)Traumata und Geschlecht«; Ez 21 (»Bildüberfälle – Bildüberfülle«) und 23 (»Geschichtsklitterung und exzessiver Realismus einer Metapher«); Ez 24,1–25,17 wird im Blick auf »Traumatische Rache-Impulse« vertieft; zu Ez 33,21–39,29 erfolgen gleich drei Vertiefungen (»Beschämung und Scham«, »Re-Symbolisierung am Beispiel von חור; Re-Inszenierung der traumatischen Katastrophe mit anderen Ausgängen« – Letzteres zu Ez 38–39). Die letzte Vertiefung gilt Ez 40–48 als literarischer Raumdarstellung, die einen »sicheren Ort« imaginiere.
Das 7. Kapitel (»Schlussbetrachtung: Das Ezechielbuch in trauma-t(he)ologischer Perspektive«, 639–686) will die Ergebnisse der Textbetrachtungen aus den Kapiteln 5 und 6 mit dem in Kapitel 3 beschriebenen literarischen Trauma-Modell zusammenführen, indem die Textbefunde noch einmal der Phänomenologie des individuellen und kollektiven Traumas zugeordnet werden (A und B).
Außerdem (C) wird das Verhältnis von Literatur und Geschichte im Ezechielbuch beleuchtet: Es handele sich um einen literarischen Bearbeitungsversuch der Katastrophe, dessen sprachlich-narratologische Gestaltungsmittel nochmals benannt werden; mit dem einschneidenden historischen Ereignis befasse sich das Buch dezidiert literarisch und hebe die Trauma-typische Dialektik zwischen Schweigen und Aussprechen in sich auf, indem das Ereignis selbst nirgends direkt beschrieben werde. Der fiktive Erzähler Ezechiel ist als repräsentativer Augenzeuge Identifikationsangebot für die Leserschaft. Der letzte Abschnitt (D) kommt auf die »Befremdlichkeiten« des Ezechielbuches (vgl. 1. Kapitel) zurück, für die die Vfn. nun vor dem Hintergrund ihres Ansatzes Lösungsvorschläge unterbreitet.
Ein umfangreiches Literaturverzeichnis sowie ein Bibelstellen- und Sachregister runden den Band ab.
Der Grundgedanke, dass der Untergang Jerusalems für das Gottesvolk Israel eine einschneidende, eben »traumatische« Erfahrung war – welche zudem die Gottesbeziehung in Frage stellte –, die literarisch-theologisch – nicht zuletzt durch deuteronomistische Kreise – verarbeitet wurde, ist nicht neu. Neu an dieser Untersuchung ist es, zeitgenössische Traumaforschung zum Auslegungsansatz für das gesamte Ezechielbuch zu machen. Mit modernen Modellen antike Texte auszulegen, ist methodisch nicht unumstritten. Lässt man sich in diesem Falle auf eine derartige psychologische Deutung nebst einer synchronen Lektüre des Buches als literarischer Einheit ein, so zeigt sich, dass auf diese Weise zumindest auf einen Teil des Buches interessante Schlaglichter geworfen werden. Dies gilt vor allem für die Passagen, die als »Vertiefungen« im 6. Kapitel untersucht werden und hier insbesondere für die Bilder der Ge­walt, wie sie in Ez 16 und 23 auftreten. Als flächendeckender Zu­gang überzeugt das Trauma-Konzept nicht durchweg; manches wirkt dann doch gepresst, z.B. das In-Bezug-Setzen des Verzehrs der Schriftrolle (Ez 2,8–3,3) mit der Vision fruchttragender Bäume (Ez 47,12) über die Essensmotivik, die zum zeitgenössischen Trauma-Roman gehöre (358–360.666). Der Trauma-Ansatz wird eng verbunden mit narratologischen Aspekten der neueren Literaturwis senschaft und die Fiktivität des Buches hervorgehoben. Die Auf­-fassung des Ezechielbuches als eines fiktiven Werkes, das im Rückblick auf die Ereignisse verfasst wurde und insofern keine vorausblickenden Prophezeiungen bietet, ist allerdings ebenfalls nicht grundsätzlich neu – man denke an all die Forschungsbeiträge, die das Buch als Pseudepigraphie lesen. Das innovative Element ist hier wiederum insofern dem traumatologischen Ansatz ge­schuldet, als dem zeitgenössischen Trauma-Roman literarische Merkmale zu­geschrieben werden, die im Dienste der Trauma-Verarbeitung stünden und bei Ezechiel ebenfalls zu finden seien. Die fiktive Erzähler-Figur Ezechiel repräsentierte die traumatisierte Leserschaft, der das Buch zur Aufarbeitung des Traumas dienen wolle. Damit wäre die Schrift vorrangig für diesen Leserkreis der ersten Stunde relevant. Die Vfn. datiert das Buch auf den relativ engen Zeitraum zwischen 570–540 v. Chr. Der erzählte Zeitraum, also der fiktionsinterne, ist eng bemessen; vom potentiellen Le­bensalter des Erzählers, eben des fiktiven Propheten, auf die Entstehung des Buches zu schließen, erscheint zweifelhaft, zumal ihr zusätzliches Argument, dass Ez 40–48 die Nicht-Existenz eines Tempels voraussetze, ebenso wenig zwingend ist.
Die Studie besitzt mit knapp 700 Seiten einen erheblichen Umfang und folgt damit einer Tendenz, die bei Qualifikationsarbeiten in jüngerer Zeit öfter zu verzeichnen ist. Die Vfn. nimmt einen (zu) langen Anlauf, bis sie zum Kern ihrer Untersuchung der Texte des Buches (Kapitel 5 und 6) kommt. Angesichts mancher Redundanzen, die die Vfn. selbst immer wieder einräumt (»noch einmal sollen«), hätten Straffungen der Darstellung gut getan. Diejenigen, die sich der umfangreichen Lektüre aussetzen, wird dieser Beitrag sicherlich zur Debatte anregen und herausfordern.