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Ausgabe:

März/2013

Spalte:

386–388

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Loffeld, Jan

Titel/Untertitel:

Das andere Volk Gottes. Eine Pluralitätsherausforderung für die Pastoral.

Verlag:

Würzburg: Echter 2011. XXVIII, 327 S. = Erfurter Theologische Studien, 99. Kart. EUR 24,00. ISBN 978-3-429-03367-5.

Rezensent:

Gerald Kretzschmar

»Das Christentum in unseren Breiten tritt […] für den Großteil der getauften ChristInnen in erster Linie kasualisiert auf: Die Kirche wird mit ihrer Infrastruktur Gemeinde dann interessant, wenn sie aus der Perspektive der meisten ihrer Mitglieder etwas nach deren Maßstäben spezifisch Gutes zu bieten hat.« (2) So lautet die Ausgangsbeobachtung der vorliegenden Studie. Auf dieser Grundlage beschreibt sie für das gegenwärtige kirchliche Handeln der katholischen Kirche eine spezifische Problemlage. So handle es sich bei der »Fernstehenden- und Kasualpastoral« um eine »Grauzone«, »für die kein rechtes pastorales Handwerkszeug zur Verfügung scheint« (ebd.). Hinzu komme, »dass diese pastoralen Aufgabenfelder, auf denen es zu tatsächlichen, aber zumeist punktuellen Begegnungen mit der Mehrheit des Volkes Gottes kommt, einen merklichen Teil des generellen pastoralen Arbeits- und Zeitaufwandes ausmachen. Zugleich wird faktisch der Hauptteil des kontinuierlich stattfindenden kirchlich-gemeindlichen Lebens unter hohem Zeit-, Personal- und Finanzaufwand meist unhinterfragt mit einer deutlichen Minderheit der Getauften gestaltet und ausschließlich für diese organisiert« (ebd.). Diese Problemlage verschärfe sich umso mehr, als sich die »derzeit allenthalben praktizierten Umstrukturierungen der Gemeindepastoral […] an einem Gemeindebild [sc. orientieren], das dem Großteil der Getauften und ihrer Kulturlogik völlig fremd« (3) sei und »sodann auf anderer Strukturebene mit neuem Leben erfüllt werden« (ebd.) solle. Als Fazit dieser Problembeschreibung stellt die Studie fest: »So vergisst man schlichtweg den Großteil des Volkes Gottes.« (Ebd.)
Gegen dieses Vergessen der Mehrheit der katholischen Kirchenmitglieder erhebt Jan Loffeld mit seiner Erfurter Dissertation Einspruch, indem er als leitende Fragestellung formuliert: »Hat der Großteil des Volkes Gottes, welcher sich nicht kontinuierlich in gemeindekirchliche Vollzüge einbindet, eine generelle Botschaft für gegenwärtige pastorale Neuorientierungen? Genauso umgekehrt: Welche theoretischen wie praktischen Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit eine gegenwartsorientierte Pastoral diesen Menschen etwas zu sagen bzw. evangelisierend anzubieten hat?«
Methodisch bearbeitet die Studie diese Fragestellung in einem Dreischritt. Er umfasst eine Kairologie im Sinne einer empirisch rückgebundenen Situationsanalyse, eine Kriteriologie im Sinne einer systematisch theologischen Reflexion der kairologischen Be­funde und eine Praxeologie, die Konsequenzen für einen geänderten theologischen und praktischen Umgang mit der spezifischen Kirchlichkeit der Mitgliedermehrheit benennt.
Die Kairologie (vgl. 25–95) stellt die Ergebnisse zweier neuerer empirischer Studien zur Kirchlichkeit der katholischen Kirchenmitglieder in den Mittelpunkt. Es handelt sich um die Studien »Die unbekannte Mehrheit« von Johannes Först und Joachim Kügler sowie die Studie »Was Menschen in der Kirche hält« von Elisabeth Anker. Die Studien stammen aus den Jahren 2006 und 2007 und präsentieren weitgehend Befunde, die in großer Nähe zu den empirischen Befunden stehen, die im evangelischen Bereich unter dem Stichwort der distanzierten Kirchlichkeit seit 1972 von den Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen der EKD erhoben werden. Zusätzlich er­schließt die vorliegende Studie das Profil der distanzierten Kirchlichkeit der katholischen Mitgliedermehrheit zum Beispiel durch Ausführungen zum Weihnachtschristentum und zum Phänomen des Pilgerns. Als Ergebnis der kairologischen Phänomenanalyse stellt die Studie eine Diskrepanz fest. Nimmt die Kirche als religiöse Institution die Kirchlichkeit der großen Mitgliedermehrheit als »eklatanten Relevanzverlust« (94) wahr, so lassen sich den Befunden der neueren empirischen Studien Indizien entnehmen, die dieser Form der Kirchlichkeit zumindest während »des selektiven Ritualgebrauchs sowie ihrer Vor- und Nachbereitung […] eine hohe Identifikation mit der Kirche« (94 f.) bescheinigen. Jenseits des Kasualkontextes wolle man »die Verbundenheit zu ihr [sc. der Kirche] zwar nicht missen«, man wolle sie jedoch »nicht dauerhaft praktizieren müssen« (95). Hier bestehe ein »Dilemma« zwischen kirchlicher Selbstauffassung und Fremdbild (ebd.). Somit bedürfe es der »theologischen Reflexion einer Logik von Kirchlichkeit, die sich in einem Ritualbedürfnis zeigt und als projekthaft-situatives und ereignis- bzw. erlebnisbezogenes Bindungsverhalten ganz anders als das kirchliche Leben in den Gemeinden angelegt ist« (ebd.).
Eine solche theologische Reflexion leistet der zweite, kriteriologische Hauptteil der Studie (vgl. 97–255). Als Bezugspunkte für die theologische Reflexion moderner Volkskirchlichkeit wählt die Studie die Ideale der Gemeindetheologie auf der Basis der Würzburger Synode (1971–1975) sowie die Volk-Gottes-Theologie des II. Vatikanums. Hinsichtlich des gemeindetheologischen Ansatzes kommt die Studie zu dem Ergebnis, dass er nicht in der Lage ist, volkskirchliche Muster der Kirchenbindung in ihrer Pluralität zu be­greifen. Anders ist das bei der Volk Gottes-Theologie des II. Vatikanums. Sie rechne mit der Vielfalt der »Gaben des Geistes Gottes« (251) und sei mit einem »postmodernen Paradigmenpluralismus kompatibel« (ebd.). Als Fazit der theologischen Reflexion hält die Studie fest: »Einer evangelisierend ausgerichteten Anknüpfung an die postmoderne Volkskirche bzw. einer ihr angemessenen Bewertung dienen weder Uniformitätsforderungen für das Volk Gottes, noch binnenorientierte Communio-Beschaulichkeiten […]«. Vielmehr gelte es, »die Vielfalt der Charismen im Gottesvolk im Sinne eines Paradigmenpluralismus anzuerkennen und zu fördern, die Communio als transversal angelegte Sammlungs- und Sendungswirklichkeit zu gestalten und damit in den Laien ihre Berufung zur Weltheiligung als Evangelisierung zu wecken« (254 f.).
Welche Konsequenzen diese Form der theologischen Würdigung moderner distanzierter Volkskirchlichkeit für die Praxis des kirchlichen Lebens hat, entfaltet der dritte Hauptteil der Studie unter der Überschrift Praxeologie (vgl. 257–327). Hier nennt die Studie Voraussetzungen und ausgewählte Konkretionen, die die Möglichkeit eröffnen sollen, postmodernen distanzierten Kirchlichkeitsformen »evangelisierend« zu begegnen. Neben konkreten Praxisphänomenen, wie zum Beispiel Initiativen der Citypastoral in Großstädten, der Taizébewegung sowie der Gemeinschaft von Sant’Egidio und den KISI-Kids, denen eine hohe Kompatibilität zur postmodernen Volkskirchlichkeit bescheinigt wird, bietet das Schlusskapitel vor allem ein Plädoyer für einen grundlegend veränderten theologischen und praktischen Umgang mit der distanzierten Kirchlichkeit der Mitgliedermehrheit.
L.s Studie ist ein wichtiges Buch. Es klärt über die Diskrepanz zwischen den normativen Leitvorstellungen kirchlicher Organisationen und Mitarbeiter in Bezug auf die vermeintlich optimale Gestaltung von Kirchlichkeit einerseits und der faktisch gelebten Kirchlichkeit der Mitgliedermehrheit auf und unterbreitet sowohl dogmatische als auch praktische Vorschläge zur Überwindung dieser Diskrepanz. Indem die Kirchlichkeit der Mitgliedermehrheit als theologisch legitime Form von Kirchlichkeit begreifbar dargestellt wird, weist die Studie einen Ausweg aus der Selbstparalysierung der Institution Kirche: In den postmodernen Formen der Kirchlichkeit müssen keineswegs mehr ausschließlich Phänomene eines gravierenden Traditionsabbruchs und Relevanzverlustes der Kirche gesehen werden. Vielmehr zeigt die Studie, dass es seitens der Institution Kirche durchaus Denk- und Praxiswege gibt, auch unter postmodernen Bedingungen Kirche für die Menschen zu sein.
Kritisch anzumerken bleibt zum Schluss zweierlei. Zum einen verzichtet die Studie gänzlich auf den Austausch mit der empirischen Kirchlichkeitsforschung im evangelischen Bereich. Insbesondere die seit 1972 im Zehnjahresturnus durchgeführten EKD-Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen und deren umfassende Kommentierung hätten die Studie inspirieren und auf eine deutlich weiterreichende empirische Basis stellen können. Die vorliegende Studie lässt eindeutig erkennen, dass es zwischen den Mitgliedschaftsmustern evangelischer und katholischer Christen um­fassende Übereinstimmungen gibt. So hätte der Blick auf die evangelischen Forschungsaktivitäten zum Beispiel zeigen können, dass distanzierte Kirchlichkeitsformen keineswegs ausschließlich von der Partizipation am Kasualhandeln der Kirche getragen werden, sondern auch von Bindungsphänomenen im Kontext des kirchlichen Wertekanons oder der Verbundenheit mit Kirchengebäuden. Zum anderen bleibt am Schluss die Frage, ob die Studie nicht doch tendenziell eine gewisse normative Prägung postmoderner Kirchlichkeitsformen anstrebt, die den theologischen Eigenwert der je subjektiv ausgestalteten Kirchlichkeit ein Stück weit in Frage stellt. Die Prägung durch die protestantische liberale Theologie lässt den Rezensenten in Bezug auf die hohe Bedeutung, die die Studie dem Stichwort der Evangelisierung beimisst, diese kritische Rückfrage stellen. Nichtsdestotrotz: Mit der Studie von L. ist nun auch in der katholischen Kirche der Diskurs zum Thema distanzierte Kirchlichkeit eröffnet. Und das ist ein Gewinn, sowohl für die katholische als auch für die evangelische Pastoraltheologie und Praktische Theologie empirischer Prägung.