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Ausgabe:

Januar/1999

Spalte:

26–28

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Helle, Jürgen

Titel/Untertitel:

Religionssoziologie. Entwicklung der Vorstellungen vom Heiligen.

Verlag:

München-Wien: Oldenbourg 1997. X, 168 S. m. Abb. gr.8. ISBN 3-486-23204-5.

Rezensent:

Hubert Knoblauch

Seit ihren Anfängen hat die Religionssoziologie die Frage nach der Entwicklung der Religion und ihrem Schicksal in der modernen Gesellschaft zu einem ihrer zentralen Gegenstände erklärt, und ihre Analysen haben bis weit über die Fachgrenzen hinaus Anerkennung gefunden. Auch wenn die Religion in der gegenwärtigen Soziologie nicht mehr diese zentrale Rolle spielt (was auch ihr Schicksal in spätmodernen Gesellschaften reflektiert), so haben doch prominente Soziologen wie Peter Berger, Thomas Luckmann oder Niklas Luhmann bedeutende Beiträge zur Analyse der gegenwärtigen Religion geliefert, die nicht nur in den benachbarten Fächern, sondern auch in der Theologie und in der öffentlichen Debatte rezipiert werden. Das gilt sicherlich auch für die zahlreichen empirischen Arbeiten, die sich mit dem Zustand der Kirchen oder den Ausprägungen neuer Religiosität auseinandersetzen.

Wer nun jedoch erwartet, daß ein Buch, das den Begriff "Religionssoziologie" im Titel führt, auf diese Entwicklungen eingeht, sieht sich sich von diesem Band bald enttäuscht. Helles Buch behandelt zwar kurz einige wichtige Klassiker der Religionssoziologie von Auguste Comte bis Max Weber. Davor noch identifiziert er verschiedene Funktionen der Religion, die allesamt in der Überbrückung von Differenzen liegen: zwischen dem Abstrakten und dem Personalen, zwischen Möglichem und Wirklichen, zwischen Zeitlichem und Ewigem, Gleichheit und Gerechtigkeit, Individualität und Allgemeinheit. Doch der gesamten Entwicklung seit den 20er Jahren dieses Jahrhunderts widmet er gerade einmal auf sechs Seiten "Thesen zur neueren Religionssoziologie", die deren Ergebnisse und Konzeptionen nicht einmal umrißhaft erkennen lassen. Um so ausführlicher wendet er sich dagegen ab S. 75 ausschließlich seiner eigenen Theorie zu, die er im Untertitel des Buches andeutet.

Das Ziel dieser "evolutionistischen Theorie vom Heiligen" besteht darin, die Entwicklung der Vorstellungen vom Heiligen nachzuzeichnen. H. vertritt dabei das, was er einen (an Simmel anschließenden) "verstehenden Ansatz" nennt. Ihm geht es um die "transzendenten Sozialbeziehungen", also um die personalen Beziehungen zu jenseitigen Personen, die seiner Auffassung nach die meisten Religionen auszeichne. Das Heilige setzt er dabei substantialistisch mit der Religion gleich und versteht es als das, was als höchste Steigerung des Guten und Realen erlebt wird und sich rationaler Erklärung völlig entzieht.

Ohne weitere Erläuterung beschränkt er sich im weiteren fast ausschließlich auf das Opfermahl. Dabei versucht er die These zu belegen, daß das Opfern anthropologisch eine religiöse Bedeutung habe, weil Töten als Quelle des Lebens angesehen wurde. Zunächst werde das nahrungsspendende Tier zur Gottheit. Im Laufe verschiedener Übergangskrisen jedoch werde es zunehmend durch Menschen ersetzt, wie etwa in der Kopfjagd und im Jungfrauenopfer. Dabei geht er von der "Ur-" und "Jägerreligion" über die sumerische bis zur israelitischen und frühchristlichen Religion. Daß er mit dem frühen Christentum abschließt, wird nicht gesondert begründet, hängt aber sicherlich damit zusammen, daß H. bewiesen zu haben glaubt, die "gottesdienstliche Feier der Erlösung" sei "auf neue Weise überzeitlich".

So ehrenwert sich diese Absicht in den Augen eines guten Teils der Christen ausnehmen mag, aus wissenschaftlicher und soziologischer Perspektive wirft das Buch doch einige Probleme auf. Zum einen bleibt H. selbst der von ihm beschrieben religionssoziologischen Methode nicht immer treu. So betont er in seiner Behandlung des Frühchristentums, daß die Vorstellungen, die zu Jesu Lebenszeiten in der Bevölkerung über Jesus kursierten, die "objektiven Tatsachen" der Religionssoziologie seien. Dann aber zitiert er aus den Evangelien, als ob es sich dabei um Feldprotokolle neutraler wissenschaftlicher Beobachter handelte (155 f.). Und obwohl H. selbst die Meinung vertritt, daß der Vergleich von ethnologischem und frühgeschichtlichem Material problematisch sei, greift er selbst auf eine - im übrigen äußerst umstrittene - ethnographische Beobachtung Malinowskis zurück, um eine seiner zentralen Behauptungen zu begründen: daß die physische Vaterschaft eine späte Entdekkung in der Menschheitsgeschichte sei.

Nicht nur bleibt der naheliegende Blick auf den ’Sitz im Leben’ der religiösen Quellen aus, H. greift auch oft auf veraltete oder keineswegs immer wissenschaftlich ausgewiesene Fachtexte zurück. Obwohl er z. B. der Religionssoziologie vorhält, sich selten für die Frühgeschichte der Religion zu interessieren, finden etwa die einschlägigen Arbeiten Leroi-Gourhans (die H.s Annahme einer "Urreligion" deutlich in Frage stellen) keine Beachtung. Zudem zitiert er seine Sekundärquellen nicht nur häufig in einer anstrengenden Ausführlichkeit (oft liest man seitenlange Zitate, die nur mit wenigen Kommentaren des Autors durchsetzt sind), er liefert auch fast ebenso häufig lange Paraphrasen von Texten.

Schwer wiegt aber auch, daß seine "evolutionistische Theorie" weder von älteren noch von gegenwärtigen (etwa der Luhmannschen) soziologischen Evolutionstheorien Notiz nimmt. Zwar könnten Außenstehende behaupten, daß die Auslassung dieser und anderer Theorien und Forschungsergebnisse zur Verständlichkeit beitrage, die das Buch über weite Strecken auszeichnet. Daß jedoch die erwähnten und weitere Mängel H.s Theorie den Charakter einer etwas willkürlichen und übersimplifizierten Bilderbuch-Evolution verleihen, fügt nicht nur seinem eigenen Beitrag Schaden zu. Indem er seine in der Disziplin keineswegs zentrale Theorie unter den Titel der Religionssoziologie stellt, leistet er der gesamten Disziplin einen Bärendienst.