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Ausgabe:

März/2013

Spalte:

382–383

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Henkel, Mathias

Titel/Untertitel:

Deutsche Messübersetzungen des Spätmittelalters. Untersuchungen auf der Grundlage ausgewählter Handschriften und vorreformatorischer Drucke.

Verlag:

Wiesbaden: Reichert 2011. 350 S. u. 8 Abb. = Imagines Medii Aevi, 27. Lw. EUR 78,00. ISBN 978-3-89500-758-3.

Rezensent:

Benedikt Kranemann

Messbuchübersetzungen sind sowohl für die Liturgie- als auch für die Literatur- und Sprachwissenschaft von Interesse. Sie geben Einblick in das zeitgenössische Verständnis der Messe, zum Teil auch ihrer Praxis, und sind als Übersetzungen wichtige Zeugnisse der Sprach- und Literaturgeschichte. Man merkt der vorliegenden Dissertation, die von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster angenommen wurde, an, dass ihr Autor Mathias Henkel in den genannten Disziplinen zuhause ist und eine profunde interdisziplinäre Forschung vorlegen kann. Er hat sich eine Quellensorte zum Thema gewählt, die trotz der imposanten Vorarbeit von Angelus A. Häußling ( Das Missale deutsch. Materialien zur Rezeptionsgeschichte der lateinischen Messliturgie im deutschen Sprachgebiet bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil. Teil 1: Bibliographie der Übersetzungen in Handschriften und Drucken. Münster 1984 [LQF 66]) nicht wirklich Gegenstand der liturgiewissenschaftlichen Forschung geworden ist.
Der Vf. ergänzt die genannte Bibliographie von Häußling um neue Quellenfunde, untersucht einzelne der muttersprachlichen Messübersetzungen und ediert diese auch auszugsweise, um schließlich die deutschsprachigen Übersetzungen mit ähnlichen Quellen aus anderen europäischen Ländern zu vergleichen. Warum hierfür Texte aber allein aus Frankreich und Schweden ausgewählt wurden, hat sich dem Rezensenten nicht erschlossen. Die Quellen sortiert er nach folgender Systematik: »Plenarien mit deutschen Messformularen« (21–117) (zugrundegelegt wird der Plenarienbegriff der Germanistik; P. meint muttersprachliche Übersetzungen der Messperikopen des Kirchenjahres [21], nicht der Liturgiewissenschaft – P. wäre dann ein Perikopenbuch oder Messlektionar [22]), »Deutsche Messbücher« (118–179), »Messübersetzungen in Ge­bets-, Andachts- und Erbauungsbüchern« (180–212) sowie »Mess­übersetzungen in Messerklärungen« (213–239). Inhalt und Buchmedium werden gleichermaßen untersucht. Der Vf. beginnt je­weils mit einem Referat über die Forschungssituation, beschreibt dann allgemein Material, Schrift, Aufbau und Inhalt sowie die Pro venienz, um schließlich zu speziellen Fragen u. a. des Inhalts, der Verwendung, aber auch der Verwandtschaft mit anderen Handschriften zu kommen. Erwähnt werden müssen die kleineren und größeren Editionen im Text, zum Teil Auszüge, zum Teil umfangreichere »Textproben«. Der Vf. gibt die verschiedenen Schreiber, Schriftgrößen, Initien usw. im Druckbild wieder. Es geht ihm nicht nur um den »Text«, sondern um das »Manuskript« (zur Me­thode: 16–18). Man kann eine gründliche und solide Bearbeitung bescheinigen, die auch immer sehr gut nachvollziehbar offenlegt, wie die einzelnen Forschungsergebnisse zustandegekommen sind. Dies ist nicht zuletzt deshalb wichtig, weil der Vf. wiederholt gängige Urteile über die Messübersetzungen in Frage stellt und diese begründet ersetzt. Was sind die Ergebnisse?
Zunächst wird das Wissen um die erhaltenen Quellen deutlich erweitert. Waren für Häußling 31 vorreformatorische Übersetzungen greifbar, so kommt der Vf. auf über 100, die noch um Frühdrucke zu ergänzen wären. Die Bedeutung des Phänomens wird sichtbar. Eine breite Rezeption ist wahrscheinlich. Die Übersetzungen erweisen sich in jeder Hinsicht als vielfältig: Die Sprachgestalt entwickelt sich, zunächst sind nur gereimte Formulare überliefert. Der Umfang der übersetzten liturgischen Texte wächst, bis vor 1500 »nahezu alle Texte der lateinischen Missalien auch auf Deutsch vorlagen« (246). Unterschiedliche Buchtypen, aber ebenso vielfältige Nutzungen begegnen; Letztere reichen von der Tischlesung über die Vorbereitung der Predigt bis hin zur privaten Erbauung. Dass die Texte »hin und wieder aber wohl auch von Priesteramtskan­didaten in ihrer Ausbildungszeit« (247) verwendet wurden, ist da­- gegen doch ebenso fraglich wie die Hypothese, sie hätten »als Grundlage für eine Simultanübersetzung der lateinischen Liturgie ge­dient« (247). Plausibel macht der Vf., dass die Bezeichnung »Volksmissale« für die Quellen nicht sachgerecht ist (58 u. ö.). Laien waren nicht die eigentlichen Adressaten der hier untersuchten Messübersetzungen. Für die Liturgiegeschichtsforschung ist ein wichtiges Ergebnis der Studie, dass die Quellen Einblick in die jeweilige Diözesan- und Ordensliturgie geben. Man kommt bei aller Vorsicht der wirklichen Praxis des Gottesdienstes ein Stück näher. Allerdings lässt im 15. Jh. das Interesse an einer allegorischen Betrachtung der Liturgie deutlich nach, der Vf. spricht von einem »Paradigmenwechsel auf dem Feld der liturgischen Bildung« (239).
Ein eigenes Kapitel widmet sich Messerklärungen in den Quellen und damit der Liturgieallegorese, die sachgerecht dargestellt wird. Leider sind die neueren Arbeiten von Thomas Lentes (A maioribus tradita. Zur Kommunikation von Mythos und Ritus im mittelalterlichen Messkommentar, in: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 2006, hrsg. von Peter Strohschneider, Berlin 2009, 324–370) u. a. nicht mehr berücksichtigt worden. Im Einzelfall kann in den Quellen auch ein historisches Interesse nachgewiesen werden. Außerdem tauchen wieder Details der regionalen Liturgiepraxis auf. Wo es, wie in der Messpredigt des Berthold von Regensburg, doch um Laienunterweisung geht, macht der Vf. den Unterschied zum heutigen Verständnis der Beteiligung an der Liturgie ( participatio actuosa) deutlich (228). Eigens hingewiesen sei auf den umfangreichen Anhang mit Editionen (281–347).
Das durchaus hypothesenfreudige Buch regt hier und dort zu Nachfragen an, so u. a.: Weshalb sich die Anbindung an die »autoritativen liturgischen Texte« in der Verwendung lateinischer Initien äußern soll (49), ist nicht nachvollziehbar. Sollten die Initien vielleicht die Orientierung im Deutschem mit Blick auf den lateinischen Text erleichtern? Kann man für das Mittelalter Liturgie daran festmachen, was dem »›offiziellen‹ liturgischen Buch« folgt (51)? Wenn man Fußnote 152 hinzunimmt, scheint der Vf. hier selbst im Zweifel zu sein. Die Vorstellung einer »meditativ-kontemplativen ›Nachbereitung‹ der Meßliturgie« (56) ist für das Mittelalter erläuterungsbedürftig. Zur Bibliotheca Amploniana und der mittelalterlichen Universität Erfurt (90) sind Erich Kleineidam, Universitas Studii Erffordensis. Überblick über die Geschichte der Universität Erfurt im Mittelalter 1392–1521. Teil I: 1392–1460. Leipzig 1964 (Erfurter theologische Studien 14) sowie Die Bibliothek des Amplonius Rating de Berka und ihre verborgenen Schätze. Anmerkungen zur Wiederentdeckung »Erfurter« Augustinus-Predigten. Hrsg. von Josef Pilvousek und Josef Römelt. Würzburg 2010 (Erfurter theologische Schriften 39) zu nennen. Erörterungen zu einzelnen Thesen für die Entstehung und Abhängigkeit der untersuchten Handschriften bleiben der wissenschaftlichen Diskussion überlassen.
Mit diesem Buch liegt eine zweifellos wichtige Studie vor, die für die weitere Erforschung deutscher Missaleübersetzungen nicht nur wichtige Beobachtungen zusammenträgt, sondern diese Forschung hoffentlich auch anregen wird.