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Ausgabe:

März/2013

Spalte:

380–382

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Brandner, Tobias

Titel/Untertitel:

Gottesbegegnungen im Gefängnis. Eine Praktische Theologie der Gefangenenseelsorge.

Verlag:

Frankfurt a. M.: Lembeck 2009. 276 S. m. Abb. Kart. EUR 19,80. ISBN 978-3-87476-588-6.

Rezensent:

Gerhard Sauter

Der Schweizer Theologe Tobias Brandner hat als Gefängnisseelsorger in der Schweiz und seit 1997 in Hongkong gearbeitet, wo er auch an der Divinity School der Chinese University of Hong Kong unterrichtet, die aus der Basler Mission hervorgegangen ist. Er schildert seine Erfahrungen in Hongkong und wertet sie didaktisch so aus, dass sie auch als Material für ein Lehrbuch mit internationalem Zuschnitt gelesen werden können. Hinweise am Ende jedes Kapitels verweisen besonders auf englische und nordamerikanische Sekundärliteratur, weil das Buch zuerst auf Englisch erschienen ist.
In Hongkong wurde nach der Angliederung an China nicht nur das Rechtssystem der früheren britischen Kronkolonie übernommen, sondern auch die Strafjustiz, die der Seelsorge an Gefangenen Raum bietet, einer Seelsorge, die von kirchlichen Institutionen und von Freiwilligen getragen wird. Allerdings hat sich der Strafvollzug in Hongkong viel zögerlicher verändert als in Europa und den USA während der letzten 200 Jahre: Auch noch heute bleibt eine Resozia­lisierung der Abschreckung, Bestrafung und der Verbesserung der inneren Sicherheit durch strenge Disziplin untergeordnet (73–76). Gründe dafür sind u. a. überfüllte Gefängnisse, die Gefahr des Bandenwesens, aber auch traditionelle Ordnungsvorstellungen, die dem Einzelnen wenig Freiraum gewähren.
»Resozialisierung bildet den bleibenden Kontext religiöser Programme« (72), für deren Verwirklichung beachtet werden muss, wie Religiosität unter den Bedingungen der Gefangenschaft lebendig bleibt oder wie sie wieder aufbricht – oder ob sie nur äußerlich angenommen und vielleicht sogar ausgenutzt wird (Kapitel III). B. möchte die Gefangenenseelsorge nicht auf einen Beitrag zur Resozialisierung beschränken, so wichtig sie ist, vor allem als Rahmenbedingung für Ansätze zur Vertrauensbildung. Er führt aus, wie Seelsorge von einer Spiritualität gespeist wird, die sich meistens zunächst nur indirekt mitzuteilen vermag und sich auf Verständigungsprobleme sprachlicher Natur und kultureller Herkunft einstellen muss. In Hongkong trifft sie auf Menschen, die zumeist durch das »autoritär-hierarchische« Seins- und Gesellschaftsgefüge des Konfuzianismus beeinflusst worden sind, das auch das Leben im Gefängnis weitgehend bestimmt.
Wer nun vermutet, den Ausschnitt aus einer exotischen Weltgegend vorgestellt zu bekommen, wird bald eines Besseren belehrt. Das Einfühlungsvermögen B.s und seine behutsamen Beobachtungen erschließen aus individuellen und kulturellen Besonderheiten allgemein menschliche Züge wie Freiheitsverlangen, Sinnsuche, Bewältigung von Schuld, Sehnsucht nach sozialer und geistiger Zugehörigkeit. Der Leser kann sich als Begleiter bei Ge­sprächen in der Zelle verstehen – oder durch Gitterstäbe der Zelle, wie einige Bilder zeigen; er wird vor Fragen gestellt, die ihn nicht nur als Besucher aus der Fremde betreffen. B. reflektiert in der Rechenschaft über Gespräche mit Gefangenen deren Reaktion ebenso wie die Rückwirkungen auf Seelsorger und deren Begleiter, oft Studierende aus seinen Lehrveranstaltungen.
Für sein theoretisches Gerüst bezieht B. sich vor allem auf den Befreiungstheologen Stephen Pattison (Pastoral Care and Liberation Theology, Cambridge 1994) und auf Dietrich Ritschls »Zur Logik der Theologie« (München 1984). Für das Buch als Ganzes scheint mir aber eher Paul Tillichs Verknüpfung von Theologie und Psychotherapie maßgebend gewesen zu sein. Als Praktischer Theologe folgt B. nicht überall den heute vorherrschenden Trends in diesem Fach, sondern bringt darüber hinaus differenzierte theologische Einsichten zur Geltung: etwa für das Gebet, insbesondere die Fürbitte, und für den Gebrauch religiöser Sprache. »Gottesbegegnungen im Gefängnis« erweisen sich in alledem als exemplarisch für eine kulturell vielfältige Lebenswelt, nicht etwa als Ausnahmefälle.
Jeglicher Evangelisation, d. h. einer »expliziten Einladung, den christlichen Glauben anzunehmen und sich christlicher Gemeinschaft anzuschliessen« (203), steht B. eher kritisch gegenüber und kommt nur vorübergehend auf sie zu sprechen. Dies ist im Blick auf die Situation in einem Gefängnis vor den Toren Hongkongs durchaus verständlich. Doch angesichts der religiösen Fragen, die B. dort gestellt wurden und von denen er berichtet, dürfte seine Bestimmung der Seelsorge problematisch sein. Sie stützt sich auf die Vermittlung von »Wahrheit« als (nicht nur: in) »Begegnung«: »Besucht zu werden und damit Wertschätzung zu erfahren, um­sorgt zu werden und damit Liebe zu empfangen – dies ist im besten Sinne Evangelium, die machtvollste und konkreteste Form der guten Nachricht.« (205) Das Verhältnis dieser Form zu ihrem Gehalt bleibt m. E. unbestimmt. B. kommt es weit mehr darauf an, den Eindruck zu vermeiden, »von oben herab« zu sprechen oder gar »anzupredigen«. Gewiss können und dürfen Seelsorger keine überlegene Position einnehmen wollen, gerade weil sie auch beim besten Willen nicht davon absehen können, dass sie sich in einem vielschichtigen »Kontext der Ungleichheit« befinden (201–203). Und ich stimme B. auch völlig darin zu, dass sich Seelsorge überall nach Kräften bemühen sollte, sprachfähig zu werden, der jewei­-ligen Situation entsprechend, die bei Gefangenen in Hongkong besonders diffus und konfliktgeladen ist. Was der Seelsorger aber entscheidend zu sagen hat, ist ein Wort von außen. Und dieses äußere Wort ist für beide: für den Seelsorger und für seinen Ge­sprächspartner. Er steht doch gemeinsam neben dem, mit dem er spricht, vor Gott. Er muss versuchen, dies nicht nur durch sein Verhalten zum Ausdruck zu bringen, sondern auch mitzuteilen, was die »gute Nachricht« zuspricht und zusagt. Sie schließt ein, dass Menschen sich selber gegenübergestellt werden und neu wahrnehmen, wer sie sind und sein werden.
B. schildert die Situation im Gefängnis anschaulich, er lässt an dem Leben und vielen Fragen der Gefangenen Anteil nehmen. Über die Möglichkeiten einer Seelsorge für sie gibt er einen gut lesbaren Überblick und erklärt Richtlinien, die sich praktisch bewährt haben. Darum kann diese Praktische Theologie der Gefangenenseelsorge auch für andere Formen der Seelsorge hilfreich sein.