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Ausgabe:

März/2013

Spalte:

379–380

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Witschen, Dieter

Titel/Untertitel:

Gewissensentscheidung. Eine ethische Typologie von Verhaltensmöglichkeiten.

Verlag:

Paderborn u. a.: Schöningh 2012. 132 S. Kart. EUR 16,90. ISBN 978-3-506-77404-0.

Rezensent:

Fabian Kliesch

Die Berufung auf das Gewissen kann leicht als Diskussionsbremse missbraucht werden und das Gegenüber mundtot machen. Wie soll und wie kann man überhaupt reagieren, wenn sich jemand bei einer Handlung auf eine Gewissensentscheidung beruft? Diese Frage reizte Dieter Witschen zur vorliegenden Untersuchung. In W. begegnet man einem katholischen Theologen, der sich mit ethischen Grundfragen vielfältig auseinandergesetzt hat, zuletzt in einer Monographie zur Tugendethik. Auch was im Speziellen das Themenfeld des Gewissens angeht, sind einige einschlägige Aufsätze W.s zu verzeichnen.
Seinen Ausgang nimmt das Buch bei der Beobachtung, dass »Gewissensentscheidungen« im Sprachgebrauch zwar weit verbreitet, aber von ihrer Definition her schwer zu fassen seien. Den Diskussionsstand reißt W. nur knapp in der ersten Fußnote durch einschlägige und ökumenisch ausgewogene Literaturverweise an. Die recht junge und lexikalisch noch nicht einschlägige Rede von »Gewissensentscheidungen« sei daraufhin zu untersuchen, wie sich diese ethische Kategorie phänomenologisch ausgestaltet.
Es ergeben sich zwei Klärungsperspektiven: die aus Sicht des Handlungsakteurs und die aus Sicht des Beobachters. Bereits die Einleitung lässt durchblicken, dass es sich bei der letztgenannten Perspektive um die vorrangige handelt, und auch der Buchunter­titel setzt diesen Schwerpunkt. Es ist also das Hauptanliegen des Buches aufzuzeigen, mit welchen Verhaltensmustern Menschen gegenüber Ge­wissensentscheidungen anderer reagieren können und wie sich diese Verhaltensmuster voneinander abgrenzen.
Diese Grundsatzentscheidung für die Sicht der anderen bringt es mit sich, dass die Akteursperspektive relativ wenig Raum im Buch einnimmt. Nichtsdestotrotz liefert das erste Kapitel mit seinen gut 20 Seiten differenzierte Beobachtungen und Denkanstöße zu Gewissensentscheidungen aus Sicht der Handelnden. Die ersten fünf Unterkapitel (1.1–1.5) folgen einem logisch gegliederten Fragenkatalog: Wer? Tut? Was? Wem gegenüber? In welchem Kontext? In 1.6 findet sich ein neunseitiger Exkurs, der die Individualgebundenheit des Gewissens gegenüber zwei schwerwiegenden Einwänden profiliert und dadurch die Legitimität der Akteursperspektive untermauert.
Das zweite Kapitel löst mit seinen fast 90 Seiten die Versprechung des Buchtitels ein und präsentiert zehn Verhaltensmöglichkeiten (Kap. 2.1–2.10) gegenüber Gewissensentscheidungen, die auf einer fein eingeteilten absteigenden Skala angeordnet sind. Die Reihe beginnt mit der positivsten Verhaltensvariante, dem Bewundern, und endet mit den negativsten, dem Hindern und dem Zwingen. Innerhalb der einzelnen Kapitel werden die Varianten in verschiedene Unterformen aufgeteilt und an verschiedenen Beispielkategorien durchgespielt.
Das Buch beeindruckt durch präzisen Sprachduktus, klare Struktur und wissenschaftliche Genauigkeit. Ein Mangel sind allerdings die fehlenden Belege der angeführten Beispiele. Es entsteht der Eindruck, als gehe W. von einem Common Sense aus, was Art und Bewertung von Gewissensentscheidungen angeht. Stilis­tisch auffällig ist der Hang zu langen und teils umständlich konstruierten Sätzen. Befremdlich erscheint auch die abwesende Gendergerechtigkeit der Sprache.
Das Buch fasziniert durch den originellen Blickwinkel auf das Gegenüber der Gewissensentscheidungen anderer. Das Gewicht einer solchen Entscheidung und die legitime Macht des Gewissens überhaupt werden dadurch nicht relativiert. Aber die Person, die sich demgegenüber verhalten muss, erfährt einen Gewinn an Verhaltensmöglichkeiten und erhält ein Instrumentarium für ihre genaue Beschreibung. Die Schwäche des Buches liegt neben der zähen Lesbarkeit in der vermeintlichen Eindeutigkeit der Beispiele. Insgesamt aber ist es ein sehr interessanter »Diskussionsbeitrag zum Zweck systematischer Klärungen« (130).