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Ausgabe:

März/2013

Spalte:

375–376

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Bieler, Andrea, Bingel, Christian, u. Hans-Martin Gutmann [Eds.]

Titel/Untertitel:

After Violence. Religion, Trauma and Reconciliation.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2011. 244 S. m. Abb. Kart. EUR 28,00. ISBN 978-3-374-02919-8.

Rezensent:

Ralf K. Wüstenberg

Der Umgang mit Schuld und Perspektiven für Versöhnung nach politischen Umbrüchen hat unter dem Stichwort transitional jus­tice eine Fülle an Literatur inzwischen auch im deutschsprachigen Raum hervorgebracht. Zunehmend stoßen auch theologische Studien in diesen interdisziplinären Diskurs. Der Sammelband After Violence geht vom Phänomen des Erinnerns nach dem historischen Ende einer Gewaltphase aus und prüft auch Religion als Ressource zur Überwindung von Traumata und zur Ermöglichung von Versöhnung. Dabei steht zumeist die individuelle, ja intrapersonale Dimension von Versöhnung, das »coming to terms with the painful past« – wie es im Abschlussbericht der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission hieß – im Mittelpunkt der Betrachtung. Es geht um den Umgang der Überlebenden mit den Erinnerungen an erlittene Gewalt – so auch im vorliegenden Sam melband: »The authors ask what it means to open up space of remembrance and mourning which interrupt the mimenic reproduction of violence. If the realities of trauma are taken into account, practices of remembrance and reconciliation appear as a particular challenge. Yet, from a Christian perspective, theological insights on the transformation of violence and the necessity of remembrance are at the heart of the Gospel.« (10)
Bei der Lektüre des Bandes werden folgende Kriterien für den gewaltüberwindenden Umgang mit individuell Erlebtem und der Rolle von Religion in diesen Transformationsprozessen erkennbar: Raum für Erinnern schaffen mit dem Ziel einer gemeinsamen Geschichte; Begegnung mit den »narratives« von Betroffenen und Tätern und Schaffung von Interaktionen mit biblischen »narra­tives«; sich wechselseitig der Authentizität des Erlebten aussetzen; die Bedeutung von Symbolik, Ritual und Liturgie in Prozessen der Aufarbeitung; schließlich das Erkennen von Grenzen von politisch Erreichbarem verbunden mit der Forderung nach einem Minimum an materieller Wiedergutmachung.
Der Band, der auf einer Konferenz in Hamburg aus dem Jahr 2010 fußt, vereint dabei Beiträge aus unterschiedlichen Disziplinen und religiösen Denominationen und zieht disparate Länderbeispiele heran: Südafrika nach dem Ende der Apartheid, Ruanda nach dem Genozid, das postkoloniale Neuguinea, Nordirland nach dem »Good-Friday-agreement«, Argentinien nach der Militärdiktatur; Westafrika nach den Bürgerkriegen und Deutschland nach der Shoah.
Den Auftakt gibt der bekannte südafrikanische Theologe Tinyiko Maluleke, der am Beispiel der politischen Transformation seines Landes nach 1990 die fundamentale Frage stellt, ob es überhaupt möglich ist, von After Violence zu sprechen. In politischer Hinsicht wird man nicht von einem Ende der Gewalt sprechen können. Das sei nach Maluleke einer eschatologischen Dimension vorbehalten. Eine Ontologie der Gewalt halte sich in Südafrika auch nach dem Ende der Apart­heid durch. Studien des Centre for the Study of Violence and Reconciliation (Johannesburg) belegen: »After the violence of Apartheid, there remains much violence in post-Apartheid South Africa.« (31) Hinzu tritt in der Wahrnehmung der Betroffenen, dass der Repa­ rationsausschuss der Wahrheits- und Versöhnungskommission zwar Vorschläge zur Entschädigung der Op­fer von Apartheidunrecht unterbreitet hat, diese aber politisch nur schleppend implementiert wurden. So setzt sich im Bewusstsein der Überlebenden der Apartheid strukturell die erfahrene Gewalt fort. Zentral an Malulekes Beitrag bleibt die Differenzierung zwischen politisch erreichbarem Umgang mit Gewalt und eschatologisch erhoffter Versöhnung.
Der zweite Teil des Bandes (unter dem Titel »Memory and Trauma«, 39–165) konzentriert sich auf Reaktionen auf erlittenes Unrecht und bringt verschiedene Formen von Erinnerungspraktiken miteinander ins Gespräch (theologische, symbolische, psychologische, sprachanalytische).
Beispielsweise stellt die Praktische Theologin Andrea Bieler (Berkeley) psychoanalytische und theologische Einsichten der Traumaforschung zusammen und fordert die Wiederentdeckung genuiner theologischer Praktiken von Erinnerung, wie z. B. die des Abendmahls. Die Bedeutung von theologischen Praktiken und Ritualen für die Prozesse intrapersonaler Versöhnung wird auch in anderen Beiträgen unterstrichen. So reflektiert Sabine Förster (Hamburg) am Beispiel von Erzählungen von Frauen nach dem Ende der Gewalt in Liberia, inwiefern Gottesdienste sowie Selbsthilfegruppen kathartische Prozesse der Heilung von Erinnerungen einleiten können. Dabei nimmt das Erzählen und Teilen von Erlebtem eine entscheidende Rolle in der Überwindung von Scham und Isolation ein. Ebenfalls aus der Perspektive der Praktischen Theologie beleuchtet Hans-Martin Gutmann (Hamburg) reziproke Prozesse von imaginativer, mimetischer Dimensionen in der Kommunikation und Begegnung mit biblischen Geschichten bei der Überwindung von Traumata. Gutmann schreibt: »I have recognized the powerful impact of connect­ing individuals both with a nexus of interactions and trustworthy relations as well as Biblical stories, symbols, and rituals that give witness to the transformation of violence into grace« (138). Der Beitrag liefert zentrale Einsichten zur Frage: »How can the mimetic power of reciprocity work to evoke the gift of grace instead of reciprocal violence?« (139)
Der letzte Teil thematisiert unter der Überschrift »The fragile path towards reconciliation« (167–241) Perspektiven für Versöhnung und Heilung u.a. am Beispiel des Nord-Irland-Konflikts.
Die Praktische Theologin Siobhán Garrigan (Exeter) unterstreicht, dass an die Stelle von einem angeordneten »forgive and forget« im Fall Nordirlands wahre Vergebung und Versöhnung treten müssen. Die Kirchen seien besonders herausgefordert, ihre Praxis von Gebet, Ritual und Liturgie zu überdenken. An die Stelle von Ausgrenzung müsse der Logik der Inklusion gefolgt werden; dazu gehöre, dass vergessene Wahrheiten der Geschichte genannt werden dürfen und das liturgische Kirchenjahr auch um die Erinnerung an zentrale Gedenktage erweitert würde. Den Schlusspunkt des letzten Kapitels setzt der systematisch-theologische Beitrag von Ulrike Link-Wieczorek (Oldenburg) – eine hochinteressante und zugleich brisante Re-Lektüre des Satisfaktionsgedankens des Anselm von Canterbury für politische Versöhnungsprozesse.
Insgesamt handelt es sich um einen gut edierten Band, der Theologie in zentralen politischen und gesellschaftlichen Diskursen ins Gespräch bringt und eine Fülle an Impulsen für weitere Forschungen im Hinblick auf angewandte Ethik im Allgemeinen und Versöhnungs- und Traumaforschung in theologischer Perspektive im Besonderen bereithält.