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Ausgabe:

März/2013

Spalte:

370–372

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Zarnow, Christopher

Titel/Untertitel:

Identität und Religion. Philosophische, so­ziologische, religionspsychologische und theologische Di­men­sionen des Identitätsbegriffs.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2010. IX, 394 S. = Religion in Philosophy and Theology, 48. Kart. EUR 64,00. ISBN 978-3-16-150142-5.

Rezensent:

Ulf Liedke

»In der Identitätsthematik schließen sich modernitätsspezifische Sinn- und Gesellschaftsfragen mit grundsätzlichen Überlegungen zum Wesen menschlicher Existenz zusammen.« (357) Diese Beobachtung bildet für Christopher Zarnows Dissertation, die von Ul­rich Barth begleitet und 2008 von der Martin-Luther-Uni­versität Halle-Wittenberg angenommenen worden ist, den Ausgangspunkt dafür, eine differenzierte »Verhältnisbestimmung von Identität und Religion in der Polyvalenz ihrer Beziehung« (4) vorzunehmen und »in Form einer systematischen Entfaltung übergreifender Problemaspekte zur Darstellung [zu] bringen« (56). Nach einem ausführlichen Forschungsüberblick beginnt Z. seine Analyse mit dem Auftakt der Identitätsdebatte bei Locke und Leibniz (Kapitel I), widmet sich danach der subjekttheoretischen Grundlegung bei Kant (Kapitel II) und erörtert wichtige Theoriezusammenhänge des sozialpsychologischen Identitätsdiskurses (Kapitel III). Mit einem Blick auf Schwerpunkte der neueren religionssoziologischen und -psychologischen Debatte wird anschließend der Bezug zum Religionsthema intensiviert (Kapitel IV). Im Schlusskapitel legt Z. das Identitätsthema »in den Horizonten der materialdogmatischen Symbolbildung« (57) aus (Kapitel V).
In Anknüpfung an eine zu Beginn getroffene »Unterscheidung dreier Dimensionen des Verhältnisses von Identität und Religion« (4) sind in Z.s Untersuchung thematische Konstellationen auszumachen, die für den Identitätsdiskurs, seine Verknüpfung mit dem Religionsbegriff und schließlich die materialdogmatische Reflexion maßgeblich sind. Ihnen folge ich in meiner Darstellung.
Der erste Sachzusammenhang gründet in der Beobachtung, »dass der Identitätsbegriff eine transzendentale Bedeutungsdimension beinhaltet, die sich am Ort des konkreten Identitätsbewusstseins als ein Moment der Transzendenzverwiesenheit zur Geltung bringt« (358). In den neueren sozialpsychologischen Identitätstheorien kommt dieser Gesichtspunkt besonders bei G. H. Mead zum Tragen, in dessen Konzept das »I« als reflexiv nicht einholbare Voraussetzung für den Aufbau des individuellen Selbstverhältnisses gedacht wird. »Das I ist das transzendentale Ich Kants« (212). Innerhalb der sozialwissenschaftlichen Theorien bleibt das transzendentalphilosophische Erbe allerdings »in Gestalt einer spezifischen Leerstelle« (57). Um diese Theorielücke zu schließen und die nicht-empirischen Voraussetzungen dieser Diskurse in den Blick zu nehmen, arbeitet Z. insbesondere an Kants Subjektphilosophie die transzendentalen Voraussetzungen der Identität heraus. Daneben macht er mit Dieter Henrichs Analyse der un­mittelbaren Selbstvertrautheit des Ich auf eine »dem Identitätsbewusstsein eigentümliche Tendenz der Selbstüberschreitung« (358) aufmerksam und stellt den Zusammenhang zum Religionsthema her: »Das Religiöse in der Selbstdeutung kann im Ausgriff auf einen Horizont der Selbstauslegung erblickt werden, welcher den konkreten Vermittlungszusammenhang der Identität transzendiert« (359). In der materialdogmatischen Auslegung verknüpft Z. diesen Zusammenhang mit dem Schöpfungsglauben und dem »Gedanken einer ursprünglichen Verdanktheit des je eigenen Daseins« (307). Zugleich gewahrt er im individuellen Gegebensein für sich selbst die Möglichkeit zur Selbsttranszendenz, die durch Gedanken der Gottebenbildlichkeit gedeutet werden könne (312). Das mit dem Sich-Gegebensein verbundene Kontingenzbewusstsein lasse sich darüber hinaus theologisch mit dem Vorsehungsgedanken in Verbindung bringen, der Erfahrungen radikaler Differenz »in die Perspektive eines überzufälligen Sinns« (317) rücke.
Die zweite maßgebliche Theoriekonstellation hat ihren Aus­gangspunkt im sozialpsychologischen und religionssoziologischen Identitätsdiskurs, der die Spannung zwischen den generalisierten Erwartungen anderer und den subjektiven Stellungnahmen her­-ausgearbeitet hat. So besteht die Aufgabe der Iden­titätsarbeit nach L. Krappmann, darin, dass das Subjekt die doppelte Forderung, »zugleich ein rollenkonformes und ein besonderes Wesen zu sein« (236), ausbalancieren muss. Die »Ambivalenzen der modernen Individualitätskultur« (262) bestehen darüber hinaus in der »Fragmentierung des individuellen Lebenszusammenhangs in eine disparate Vielzahl von Bezügen und Phasen« (266), durch die das Subjekt lediglich »als Träger einer je kontextabhängigen Rolle« (263) exis­tiert. Demgegenüber thematisiere Religion das Individuum jenseits bestimmter Rollenfunktionen als Individuum und ermög­liche so seine »Selbstunterscheidung […] von der Gesamtsphäre seiner empirischen Rollenselbste« (268). Sie sei deshalb »als (biographische) Integrationsleistung« und zugleich »als (soziale) Differenzverstärkung zu bestimmen« (268 f.). In dogmatischer Per spektive lasse sich dieser Zusammenhang mit der Unterscheidung von in­nerem und äußerem Menschen aufgreifen. Der innere Mensch, dessen Gewissen als »in­ternes Individuationsprinzip personaler Identität« (320) fungiere, sei als »die materiale Symbolisierung jener potentiell unendlichen Selbstunterscheidbarkeit des Selbst von seinen Außenrelationen« (321) zu verstehen. Der doppelte Reflexionshorizont menschlicher Identität coram Deo und coram mundo wird von Z. überdies in der Perspektive von Sünde und Erlösung reflektiert.
Die dritte Sachkonstellation ergibt sich aus den Folgen der bereits angedeuteten, spätmodernen »Fragmentierung des individuellen Lebenszusammenhangs«. Diese führen zu einem »rollenspezifischen Kommunikations- und Integrationsbedarf«, ohne dass die Gesellschaft »am Ort des konkreten Rollenhandelns die Mittel« bereitstellen könnte, »diesen Bedarf zu decken« (264). In der Religion begegnet demgegenüber eine nichtpartikulare Unbedingtheitsperspektive. Den damit entstehenden Konflikt zwischen »empirischer Fragmentaritätserfahrung […] und Ganzheitsanspruch des religiösen Bewusstseins« (ebd.) greift Z. dogmatisch im Symbol einer (präsentischen) Eschatologie auf, in der die Rechtfertigungslehre im Mittelpunkt steht. Mit ihr deutet sich eine »Befreiung vom Identitätszwang […] als eine Form der Identitätsstiftung« (349) an. »Die Antwort auf die Identitätsfrage besteht gerade in der Ermöglichung, mit und unter der bleibenden Rätselhaftigkeit des Ich und den bleibenden Aporien des Selbstseins mit sich eins zu sein.« (356)
Z.s Dissertation bietet einen breit angelegten und instruktiven Überblick über die verschiedenen thematischen Aspekte und disziplinären Perspektiven des Identitätsdiskurses. Die besondere Leis­tung der vorliegenden Untersuchung besteht darin, die sozial­wissenschaftlichen Diskurse mit fundamentalanthropologischen, re­ligionsphilosophischen und theologischen Gesichtspunkten zu verknüpfen, die in ihnen gewöhnlich ausgeblendet bleiben.
Z. bringt auf diese Weise Aspekte klassischer Identitätstheorien (Locke, Leibniz, Kant) in die Reflexion von Identität unter den Bedingungen der Moderne ein. In den Konzepten von Fichte, Hegel und Schleiermacher hätten Z. noch weitere Ressourcen zur Verfügung gestanden, auf die er aber nur en passant eingeht. Trotzdem gelingt ihm eine thematische Verschränkung, die beiderseits fruchtbar ist: die sozialwissenschaftliche Identitätsdebatte wird auf eine thematische Leerstelle und der religionsphilosophisch-theologische Diskurs auf die Herausforderungen einer ambivalenten Moderne aufmerksam gemacht.