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Ausgabe:

März/2013

Spalte:

366–370

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Thörner,Katja

Titel/Untertitel:

William James’ Konzept eines vernünftigen Glaubens auf der Basis religiöser Erfahrung.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2011. 239 S. 24,0 x 16,0 cm = Münchener philoso­phische Studien. Neue Folge, 29. Kart. EUR 34,80. ISBN 978-3-17-021718-8.

Rezensent:

Heiko Schulz

Die Arbeit geht auf eine von Friedo Ricken im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs Der Erfahrungsbegriff in der europäischen Religion und Religionstheorie und sein Einfluss auf das Selbstverständnis außereuropäischer Religionen betreute Dissertation zu­rück, mit der Katja Thörner 2010 an der Hochschule für Philosophie München promoviert wurde. Die im Kontext des Kollegs thematisch hoch einschlägige Studie fügt sich in den nicht eben reißenden, aber mittlerweile immerhin stetig anschwellenden Strom von jüngeren deutschsprachigen Arbeiten (z. B. Luh-Hardegg 2002, Demmel 2004, Krämer 2006, Seibert 2009) über William James (1842– 1910), den Gründervater und großen Popularisator des amerika­nischen Pragmatismus, zwanglos ein.
Leitziel der Untersuchung ist eine »konsistente« Darstellung von James’ Religionsphilosophie (14). Für den informierten Leser deutet diese Zielbestimmung bereits implizit die Kernthese des Buches an: Entgegen all jenen Interpreten (z. B. R. Gale), die dem Gesamtduktus dieser Philosophie eine innere, systematisch irreduzible Unausgeglichenheit attestieren, macht sich T. für die Konsistenzhypothese stark. Diese soll zumindest für das Gebiet der Religionsphilosophie gelten, ein Gebiet, auf dem zugleich mit einem zweiten hermeneutischen Vorurteil abgerechnet wird: Im Gegenzug zu jener weit verbreiteten Lesart, die in James’ Ansatz bei der individuellen religiösen Erfahrung ein gänzlich abstraktes »Plädoyer für die Privatheit der Religion« (17) wittert, möchte T. »auf dem Hintergrund der Theorie des Selbstbewusstseins, wie sie in den Principles zur Darstellung gelangt, deutlich machen, dass in James’ Verständnis des Menschen als einem sich selbst überschreitenden Individuum ein zentraler Schlüssel für das religionsphilosophische wie […] metaphysische Denken« (17; Hervorh. H. S.) des Philosophen liegt. Religiöse Erfahrungen werden bei James als Erfahrungen »einer höheren, d. h. übermenschlichen Form von personaler Wirklichkeit« (17) interpretiert, an der das religiöse Be­wusstsein als einer solchen teilhat bzw. teilzuhaben gewiss ist. Die geltungstheoretische Pointe dieser These liegt dann darin, dass wesentliche Merkmale dieses Wirklichkeitsbereichs (Stichwort Endlichkeit Gottes) bzw. von Wirklichkeit an sich (Stichwort irreduzible Pluralität) erst vermittelt über diese, notabene genuin religiöse Erfahrung zugänglich und sachgemäß beschreibbar sind.
Auf der Folie dieser Leitvorgaben leuchtet ein, dass die Analysen T.s weitgehend hermeneutisch-rekonstruktiven Charakter haben. Systematisch weiterführende Überlegungen spielen eine eher un­tergeordnete Rolle, und hierzu passt, dass auch die – sehr zurück­haltende – Kritik an gewissen ›Ambivalenzen‹ des Jamesschen Theismus erst auf den letzten beiden (!) Seiten des Buches (vgl. 222 f.) angedeutet, im Blick auf deren systematische Konsequenzen aber nicht en détail artikuliert wird. Immerhin, als Rekonstruktionsversuch ist das Buch durchaus verdienstvoll, denn es führt zu der begründeten Annahme, dass die religionspsychologisch und -philosophisch einschlägigen Texte und Textsegmente des Jamesschen Œuvres nicht nur im Blick auf leitende Intentionen und Kernthesen eine innere Konsistenz, sondern auch eine diesbezüglich durchaus nicht selbstverständliche werkgenetische Konti­nuität aufweisen (vgl. 216). Das gilt jedenfalls für die bzw. die meisten derjenigen Schriften, die zwischen 1890 (»Principles of Psychology«) und 1912 (»Essays in Radical Empiricism«) erschienen sind – ein Textkorpus, den auch der geübtere Leser nicht ohne weiteres in ein und derselben hermeneutischen Fluchtlinie anordnen würde.
Entsprechend verfährt die Untersuchung weitgehend, aber doch nicht streng chronologisch: Im Anschluss an ein erstes, als Einleitung konzipiertes Kapitel (13–22), das Leitziel und -these, ferner Methode, Quellen- und Forschungslage erörtert, expliziert Kapitel 2 (23–44) am Leitfaden einiger Jamesscher Vorträge aus der zweiten Hälfte der neunziger Jahre (»Is life worth living?«; »What makes a life significant?«) das anthropologisch-genetische, damit aber, wie sich in der Folge zeigt, auch geltungstheoretische Fundament der Religion: Demnach ist jeder Mensch von Natur aus religiös, denn das irreduzible und als solches allen Religionsformen einheitlich zugrunde liegende »Verlangen nach einer transzendenten Wirklichkeit« (20) ist James zufolge keineswegs erst und allein ein Spezifikum des explizit religiösen Glaubens – der als ein Ab­-g eleitetes aus jenem Verlangen vielmehr zuallererst »hervorgeht« (20)–, sondern stellt im Gegenteil »ein allgemeines Merkmal der menschlichen Natur« (19), d. h. eine universale Disposition bzw. anthropologische Konstante dar.
Das normativ-geltungstheoretische Pendant zu dieser deskriptiv-anthropologischen Leitthese wird in Kapitel 3 (45–121) im Detail entfaltet. Dabei spielt abgesehen vom locus classicus (»The Will to believe«, 1896) sowie einigen Vorträgen aus der zweiten Hälfte der 1890er Jahre (»The Sentiment of Rationality«; »Reflex Action and Theism«) das Willenskapitel im psychologischen opus magnum von 1890 eine begründungslogisch zentrale Rolle. Es spielt diese Rolle in durchaus erhellender Weise, insofern sich auf dieser Grundlage nachweisen lässt, dass James in seinem berühmten Essay von 1896 keineswegs einem platten Voluntarismus das Wort redet, der zur Glaubensentscheidung für die Wahrheit jeder beliebigen (religiösen) Wunschvorstellung aufruft. Ihren Grund und auch ihr tiefstes Recht hat die Religion s. E. vielmehr einzig und allein in jenem prä­-reflexiv-emotionalen Transzendenzverlangen, das sich – unausweichlich – in der Annahme, ja Forderung sekundären Ausdruck verschafft, »dass die Realität im Letzten so beschaffen ist, wie wir denken, dass sie vernünftigerweise beschaffen sein sollte« (20; Hervorh. H. S.; vgl. 27.65.84). Trifft dies aber zu, d. h. ist der bezeich­nete Konnex von metaphysischem Bedürfnis und abgeleitetem Glaubenspostulat in der Tat genetisch und sachlich unauflöslich, dann können nur diejenigen Formen von Metaphysik oder »Weltanschauung« (218) als psychologisch und epistemisch – und d. h. eben: als rational – zustimmungsfähig gelten, deren Prinzipien und Kernaussagen diesem Umstand hinlänglich Rechnung tragen. Anders als Nihilismus und Materialismus entsprechen der philosophische Theismus sowie der diesen ethisch-metaphysisch flankierende »Meliorismus« (vgl. 77.84 f.181) dieser Voraussetzung – und zwar in besonderem, möglicherweise alternativlosen Maße (vgl. 64).
Herzstück von Kapitel 4 (122–182) ist neben den Varieties erneut ein zentraler Abschnitt aus den Principles: die Selbstbewusstseinstheorie und das Modell des stream of thought, mit dem sich James vom klassischen Sinnesdatenempirismus einerseits sowie vom transzendentalen Idealismus andererseits, aber auch von jeglicher Seelenlehre substanzontologischer Prägung absetzt. Die leitende Intention dieses dichten und nach meinem Eindruck besonders gelungenen Abschnitts ist werkgenetisch-hermeneutischer Natur: Erstens soll gezeigt werden, dass die zwischen »Empirie und Metaphysik« (21) changierende Theorie des Selbst in den Principles de facto nicht nur in der berühmten Konversionsanalyse der Varieties wiederkehrt, sondern zugleich entscheidende Weichenstellungen in Richtung auf eine philosophisch systematische Selbstpositionierung (21) vornimmt, die für das späte Metaphysikprogramm (radikaler Empirismus und Pluralismus) leitend sind. Zweitens springt heraus, dass der methodische Individualismus der religionspsychologischen Vorlesungen von 1902 bereits den Erfahrungsbegriff des radikalen Empirismus präformiert.
Explizit ausgezogen werden diese Entwicklungslinien in Kapitel 5 (183–215), wo vor allem der Nachweis erbracht wird, dass die spekulative Idee eines endlichen Gottes in einem konsequent pluralistisch konzipierten Universum »auf jenen Elementen […] aufbaut, die sich aus der Bestimmung der religiösen Erfahrung in den Varieties ergeben haben« (22). Die Schlussbetrachtung (Kapitel 6: 216–223) rekapituliert die Hauptergebnisse der Untersuchung und stellt, wie eingangs bemerkt, eher vorsichtige Erwägungen zur James-Kritik im Blick auf die vermutlich unausgeglichene »Spannung« (222) zwischen radikalem Empirismus und fixer Transzendenzvorstellung Gottes zur Diskussion.
Es darf wohl jederzeit als Zeichen hermeneutischer Entschlossenheit und Eigenständigkeit gewertet werden, wenn ein Interpret das Risiko jener Deutungsform eingeht, die sich von dem Anspruch leiten lässt, Einheit, Konsistenz und werkgenetische Kontinuität eines Textes, erst recht eines Gesamtwerkes sichtbar machen zu können, und zwar auch und vor allem dort, wo sich dem ersten – und womöglich auch dem zweiten oder dritten – Blick eher Disparatheit bzw. hermeneutisch unabgleichbare Vielfalt darzubieten scheint. In der Tat führt die Einheits- bzw. Kontinuitätshypothese gelegentlich selbst da zu den interessanteren und systematisch anregenderen Interpretationsresultaten, wo sie offensichtlich in die Irre führt. Dies scheint hier indes nicht der Fall: Aus meiner Sicht kann die vorliegende Untersuchung von daher nicht nur als mutig, sondern in der Sache durchweg als erhellend und hermeneutisch gelungen gelten.
Dessen ungeachtet weist sie eine Reihe nicht unerheblicher Schwächen auf. Neben formalen Fehlern, die in der Druckfassung übersehen wurden (vgl. 8. 12 ff.16.18.31.51.56.66.71.90.102.107 f.113. 136 f.149 f.156.173.179.188.202.214.221 f. 224.232 f.), vermisst der Leser zunächst und vor allem eine editionsphilologisch und hermeneutisch bündige Quellenauswahl: Zwar arbeitet T. mit der maßgeblichen Ausgabe der Works of William James (vgl. 224), aber sie nimmt keine aus deren Gesamtkontext erläuterte und begründete Eingrenzung der für sie maßgeblichen Textbestände vor; ferner werden thematisch einschlägige deutsche Übersetzungen entweder gar nicht (so Der Sinn des Lebens, 2010) oder aber nach veralteten Editionen (so die Varieties nach der Übersetzung der Wobbermin- [1907] statt der Herms-Ausgabe [1979 u. ö.]) aufgeführt bzw. benutzt (vgl. 224).
Ausgesprochen eklektisch fällt die Übersicht zur einschlägigen Forschungslage aus (vgl. 13–19, bes. 14 f.): Gerade weil T. eine (religionstheoretische) Gesamtdarstellung anstrebt, hätte hier m. E. nicht nur detailstärker und unter Berücksichtigung ergänzender oder konkurrierender Ansätze aus dem Umkreis der älteren Literatur (z.B. Herms 1977), sondern vor allem profilschärfer argumentiert werden müssen – etwa in abgrenzender Selbstpositionierung zum jüngsten Parallelentwurf (Seibert 2009) oder zur James-Interpretation von T.s Doktorvater Friedo Ricken (2003), die im Text delikaterweise überhaupt nicht erwähnt oder auch nur bibliografisch genannt wird. Problematisch sind ferner vereinzelte Übersetzungen englischer Originalzitate (z. B. 26.34.38.40. 108.176.195.210).
Schließlich und vor allem aber kann m. E. zumindest nach Ablauf einer gut hundertjährigen internationalen Rezeptionsgeschichte keine noch so akribische Rekonstruktion der Jamesschen Religionstheorie in toto überzeugen, wenn diese den kritisch-systematischen Aspekt, d. h. die Frage nach der argumentationslogischen Verknüpfung religionstheoretischer Leitideen und -thesen sowie deren Plausibilitätstaxierung ausspart.
M. E. stellt sich diese Verknüpfung im vorliegenden Fall wie folgt dar: 1. Wahr und/oder rational sein kann nur derjenige weltanschaulich-metaphysische Glaube, der im Sinne seines diesbezüglichen Nutzens lebenspraktisch folgeträchtig ist. 2. Lebenspraktisch folgeträchtig ist im Sinne seines diesbezüglichen Nutzens nur derjenige weltanschaulich-metaphysische Glaube, der dem menschlich angeborenen Streben nach dem Guten bzw. dem angeborenen Verlangen nach einer transzendenten Wirklichkeit, in der und kraft derer Sein und Sollen übereinstimmen, Aussicht auf möglichen Erfolg bzw. auf Verwirklichung und Vollendung verheißt. 3. Nur der Theismus als Glaube an einen personalen, wenn auch endlichen und auf menschliche Kooperation zur Verwirklichung des Guten angewiesenen Gott verheißt dem genannten Streben Aussicht auf möglichen Erfolg. 4. Also ist nur der Theismus wahr und/ oder rational.
Abgesehen vom argumentationslogisch internen Problem, ob die Prämissen eins bis drei separat überzeugen können, provoziert der Jamessche Argumentationsduktus den extern-kritischen Hinweis, dass hier bestenfalls ein Gefüge notwendiger Wahrheits- und/oder Rationalitätsbedingungen weltanschaulicher Glaubensannahmen zur Verfügung bzw. in Aussicht gestellt wird. Die Frage, ob alle so bestimmten Glaubensannahmen oder -systeme die genannten Bedingungen erfüllen (können), ergo wahrheits- un d/oder rationalitätshinreichend sind, bleibt hingegen offen: und zwar, wenn ich recht sehe, auch und primär bei James selber. Ebendies hätte T. aber im Detail herausarbeiten und einer plausibilitätslogischen Gesamttaxierung der Jamesschen Religionstheorie sowie hieran anknüpfend eigenen, systematisch ergänzenden und weiterführenden Überlegungen zugrunde legen müssen.
Fazit: Mit ihrer Dissertation präsentiert T. eine hermeneutisch über weite Strecken verlässliche und durchaus anregende, in formaler und systematischer Hinsicht freilich optimierungsfähige Gesamtdarstellung der religionstheoretisch relevanten Quellen und Textsegmente im Werk von William James.