Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/2013

Spalte:

364–366

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Jacobi, Rainer-M. E., u. Bernhard Marx[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Schmerz als Grenzerfahrung.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2011. 244 S. m. Abb. = Erkenntnis und Glaube, 43. Kart. EUR 24,00. ISBN 978-3-374-02893-1.

Rezensent:

Ulrich Eibach

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Schmidt, Jochen: Klage. Überlegungen zur Linderung reflexiven Leidens. Tübingen: Mohr Siebeck 2011. X, 222 S. = Religion in Philosophy and Theology, 58. Kart. EUR 39,00. ISBN 978-3-16-150774-8.


Das Buch von Jochen Schmidt ist die gekürzte Fassung seiner Habilitationsschrift in Systematischer Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn. Er wendet sich dem »reflexiven Leiden« zu und versteht darunter dasjenige Leiden, das über eine sprachliche Artikulation und Interpretation vermittelt ist. Als Form sprachlicher Bearbeitung des Leidens greift er die Klage auf, in der die »eigene leidvolle Vergangenheit zur Sprache« gebracht wird, und die so ein performativer Akt der »Konstitution der eigenen Identität« (149) werde. Die Sprachlichkeit unterscheide die Klage von anderen Ausdrucksformen des Leidens, wie dem Schrei und dem Weinen. Der Vf. bezieht sich auf die Analysen der philosophisch-phänomenologischen Anthropologie (H. Plessner, E. Levinas u.a.), gibt aber auch eine eindringliche Darstellung der Klage des Kirchenvaters Augustins über die Vergänglichkeit der Zeit und des Lebens und behandelt M. Luthers »Brechung« der mittelalterlichen Leidenstheologie.
Das Buch ist quantitativ und sachlich auf eine anthropologische Zielsetzung konzentriert, insbesondere die über die Sprache vermittelte Rekonstruktion der eigenen Identität, die durch das Leiden destabilisiert oder bedroht ist, zu dem aber die Klage einen heilsamen Abstand vermittelt, weil sie eine »denkende […] Arbeit am Leben« (156) ist, in der der Klagende sich angesichts des Leidens neuen Sinn seines Lebens erschließt, nicht jedoch dem Leiden selbst Sinn verleiht (161). Dem Vf. ist bewusst, dass er damit nur den Selbstbezug des Menschen thematisiert und dass nur der Mensch im Blick ist, der sich selbst im Leiden durch seine sprachliche Arbeit zum eigenen Gegenüber und darin zum aktiv rettenden Subjekt seiner selbst machen kann. Der Mensch bleibt in dieser Klage auf sich selbst zurückgeworfen.
In seinen kurzen biblisch-theologischen Ausführungen zur Klage (154–162) kommt der Vf. vor allem auf die Klagepsalmen zu sprechen und betont den oft unvermittelten Zusammenhang zwischen Klage und Gotteslob, den der Psalmist nicht als »seine Ausdrucksleistung denkt, sondern dem Eingreifen Gottes« zuschreibt (160). Weil das Gotteslob Ausdruck einer gelungenen Verarbeitung der Leidenssituation sei, empfiehlt der Vf., »die Klagelieder des Einzelnen rückwärts zu lesen, d.h. als rückblickende Berichte von überwundenen Leidenssituationen« (175). Nicht hinreichend verdeutlicht wird dabei, dass die Psalmisten nicht nur an dem Unheil leiden, das sie getroffen hat, sondern ebenso an der darin meist zugleich erlebten Verlassenheit von Menschen und vor allem von Gott (z. B. Ps 88), dass sich die Klage deshalb an Gott richtet mit dem Ziel, dass er wieder sein »Angesicht« zeigt und sich so als der Leben schaffende »lebendige Gott« erweist (Ps 42). Diese Rettung wird nicht durch die Klage selbst, auch nicht durch eine menschliche Zuschreibung an Gott, sondern allein von Gott durch sein Wirken im Menschenleben erwartet. Diese deutliche Differenz zwischen einer »Selbstrekonstruktion« des Subjekts durch Sprache und der Rettung durch ein die Gottesbeziehung wiederherstellendes und vom Leiden erlösendes Eingreifen Gottes hat der Vf. unzureichend aufgearbeitet. Vielleicht wird deshalb auch das die menschliche Persönlichkeit und ihre Fähigkeiten zerrüttende Leiden, das Menschen »die Sprache verschlägt« und in dem der Mensch an das Ende aller seiner aktiven Möglichkeiten kommt und nur noch den »wortlosen Schrei« nach der »eschatologischen« Erlösung der Kreatur vom Leiden durch Gott ausstoßen kann (vgl. Röm 8,18 ff.), kaum angesprochen. Außer in den Ausführungen zu M. Luther kommt auch die für Christen zentrale Bedeutung des Leidens und Sterbens Jesu Christi am Kreuz für das Bestehen des Lebens im schweren Leiden und Sterben, wie es z. B. eindrücklich in B. Pascals »Gebeten in der Krankheit« zum Ausdruck kommt, aber z. B. auch von Karl Barth thematisiert wird, nicht zur Sprache.
Unbestritten ist aber, dass die Arbeit eine wichtige Seite einer existentiellen philosophischen und theologischen Anthropologie behandelt und implizit viele hilfreiche Anregungen für die Seelsorge bei leidenden und sterbenden Menschen gibt.
Der von Rainer-M. E. Jacobi und Bernhard Marx herausgegebene Sammelband gibt die Vorträge der Tagung der Evangelischen Forschungsakademie (2011) wieder. Auch hier stehen das Verhältnis des Menschen zum Schmerz und sein Umgang mit ihm im Mittelpunkt. Dabei soll der Mensch nicht als transzendentales Subjekt, sondern die »lebendige Wirklichkeit menschlicher Exis­tenz« (17) thematisiert werden. Die philosophisch-phänomenologische Anthropologie (H. Plessner, F. J. J. Buytendijk u. a.) nimmt einen breiten Raum ein, begleitet von Darstellungen von Leiden und Schmerzen in der bildenden Kunst und der Literatur.
Der Chefarzt Hendrik Karpinski behandelt »den Umgang mit Schmerzen in der Medizin«, deren Zielsetzung die Abschaffung des Schmerzes sei. Er kommt dagegen zu dem Schluss: »Schmerz gehört zum Lebendigsein […] Statt Schmerzfreiheit, die es im Leben nicht gibt, gilt es eine Freiheit im Umgang mit Schmerzen zu entwi­ckeln.« (137) Der Philosoph Christian Grüny (Witten-Herdecke) wendet sich dagegen, dass »die menschliche Kultur aus dem Schmerz hervorgeht« (13) und dass so – wie z. B. bei Hegel – »dem Schmerz selbst ein Wert zugesprochen« wird (43). An F. Nietzsche zeigt er, dass die in diesem Zusammenhang »zentrale Kategorie« des Sinns letztlich eine Kategorie »der Verzweiflung ist« (55), sei es im Bereich des individuellen oder dem des gesamtmenschlichen Lebens. Man kann daher mit dem Philosophen Burkhard Liebsch (Leipzig) fragen (209), ob es überhaupt eine angemessene allgemeine Antwort auf das Leiden gibt.
Wahrscheinlich ist – wie es der Alttestamentler Rüdiger Lux in seiner Meditation zum Buch Hiob sagt – »die Fürbitte vor Gott immer noch die angemessenste Form der Seelsorge« (220) bei Menschen, die in ihrem Leiden von der Frage nach dem Sinn ihres leidvollen Lebenswegs umgetrieben werden. Vielleicht hilft in dieser Frage auch die Unterscheidung zwischen Leiden bzw. Schmerzen weiter, die einen destruktiven, die Persönlichkeit zerstörenden Charakter haben, und Leiden bzw. Schmerzen, die für den Menschen erträglich und annehmbar sind oder werden können und die das Leben nicht jeder Erfahrung von Sinn verschließen. Die dem Glauben entspringende Klage vor Gott (vgl. Jochen Schmidt) könnte einen Weg eröffnen, wie selbst schwere Leiden tragbar und vielleicht auch annehmbar werden können. Eine Welt, die »schmerzlos schmerzfrei wird« (H. Karpinski), würde – selbst wenn man sie herstellen könnte – sicher auch keine Welt ohne, wenigstens nicht ohne seelische Leiden sein. Insofern muss, wenn das Leben bestanden werden soll, die Leidensfähigkeit immer eine zur Glücksfähigkeit komplementäre Fähigkeit des Menschen sein und bleiben.