Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/2013

Spalte:

363–364

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Nancy, Jean-Luc

Titel/Untertitel:

Die Anbetung. Dekonstruktion des Christentums 2. Aus d. Franz. übers. v. E. von der Osten.

Verlag:

Zürich u. a.: Diaphanes 2012. 160 S. = TransPositionen. Kart. EUR 19,90. ISBN 978-3-03734-181-0.

Rezensent:

Hartmut von Sass

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Nancy, Jean-Luc: Dekonstruktion des Christentums. Aus d. Franz. übers. v. E. von der Osten. Zürich u. a.: Diaphanes 2008. 300 S. = TransPositionen. Kart. EUR 24,90. ISBN 978-3-03734-010-3.


Es hat sich schon so mancher vorgenommen, das Christentum zu dekonstruieren. Es sei gleich vorweggenommen, dass Jean-Luc Nancy (geb. 1940, emeritierter Professor für Philosophie in Straßburg) ebendies auf sehr filigrane Weise von Neuem erprobt. Zwei sehr unterschiedliche Bände dieses Versuchs liegen bislang vor: ein Aufsatzband aus dem Jahr 2005 sowie ein Essay mit dem Obertitel »L’Adoration«, der fünf Jahre später publiziert wurde. Beide Veröffentlichungen sind nun auf Deutsch erhältlich. In ihnen wird das Christentum als der Name für ein Denken vorgestellt, gemäß dem Gott ausgelöscht zu werden verlange (II: 28); diese Auslöschung sei der Sinn der Welt, während der Mensch das Sein dieses Sinns darstelle, der metastabile Sinn aber als in der Welt vorfindlicher, wenn auch nicht von dieser Welt seiend charakterisiert wird (II: 124 u. 82).
Nimmt man diese recht vagen und gewagten Prämissen zusammen, verbirgt sich hinter N.s Dekonstruktionsanordnung ein Plädoyer zugunsten einer »Öffnung« des Denkens für die Vielfalt unterschiedlicher Sinne und Verweisungen; das Christentum befördert demnach zumindest implizit eine »Aufschließung« der menschlichen Vernunft (I: 14 f.245; II: 48), wobei Gott als Inbegriff der Unabsehbarkeit jener Verweisungen fungiert. Eine Dekonstruktion des Christentums bedeutet bei N. folglich die Explikation einer Denkdynamik, die den Menschen als Möglichkeitswesen begreift, ohne die unverfügbare Herkunft dieser possibilitates – im Namen einer vermeintlichen »Rückkehr der Religion« – erneut zu divinisieren. N. verortet sein Dekonstruktionsprogramm in Entsprechung zu Freuds neuer Erzählung vom Menschen, die diese Möglichkeiten weder der humanen Selbstproduktion zuschreibe (Marx), noch neuen Göttern huldige (Heidegger) (II: 155.158). Dabei sei die Dekonstruktion nicht von außen an das Christentum herangetragen; vielmehr geht N. den ideo-dekonstruktiven Kräften des Christentums nach, den verzweigten Wegen also, auf denen der Mensch vor den Spielraum neuer Möglichkeiten gestellt werde – ohne eine metaphysische Arretierung als Effekt der angeblichen realitas (I: 251; II: 41).
Dies führt zu einer relecture zentraler dogmatischer Kategorien. Wenn N. überhaupt noch von ›Transzendenz‹ zu reden gewillt ist, dann nur von einer solchen, die in dieser Welt verbleibt, ohne von ihr zu sein. N.s früherer, nun etwas reserviert rekapitulierter Term der ›Transimmanenz‹ versucht, diesen Spagat begrifflich einzufangen (II: 32, Anm. 11). Das Transzendente verweise auf nichts mehr, auf keine »Hinterwelt«, kein Anderswo, sodass auch mit ›Gott‹ keine Benennung vorgenommen werde – sondern ein Akt der Öffnung für die Gabe der Sinne ist gemeint, eine »Gabe ohne Geber«, eine »Gabe an sich« (II: 24; vgl. I: 149.257). Entsprechend wird als die »Ursprungsstruktur des Christentums« (I: 253) jede inhaltlich gefüllte Offenbarung abgewiesen; die Offenbarung verbleibt nicht in einer Logik der Enthüllung von Verborgenem, sondern präsentiere eine »Dekonfiguration«: »Sie offenbart, insofern sie sich adressiert, und diese Anrede macht das ganze Offenbarte aus. […] Sie offenbart vielmehr das, was sich von selbst offenbart und nichts anderes tut, als sich zu offenbaren.« (II: 67.73).
Es verwundert daher nicht, wenn sich N. in die Reihe derer be­gibt, die das Christentum als inhärent atheistisch ansehen. Die Möglichkeit des (leider nicht konkreter gefassten) Atheismus sei ins Christentum eingeschrieben, sodass die atheistische Zutat zur Näherbestimmung der skizzierten Denkdynamik wird, für die der Name des Christentums stehe (I: 115; II: 46.50 f.). Doch jener »Atheismusvektor« sei nicht nur auf die christliche Religion abonniert, son­dern durchziehe auch das Judentum und sogar den Islam (II: 47).
Dieser Vektor entfaltet seine Wirkung insbesondere bei der Ge­betsthematik, die im ersten Band bereits prominent gewesen ist, im zweiten aber zum Hauptanliegen avanciert. Auch für N. ist klar, dass das Gebet keine Einflussnahme auf eine göttliche Instanz sein kann und der »Magie des Einwirkens« zu entnehmen ist; daher stelle sich die Frage nach einem »entmythologisierten Gebet«, einem »Beten ohne Gebet« (I: 221.227). N. deutet hier die Umstellung vom Gebet als Hoffnung auf eine Erhörung zum Gebet als in sich erfüllte Praxis an, von einer Adresse der Transzendenz zum Gebet, das diese Transzendenz selbst ist: »Ich bete nicht ›jemanden‹ und kein ›Werk‹ an. Sondern wenn ich anbete, öffnet sich eine Entfernung, die ganz eigentlich die Ausweitung der Anbetung ist.« (II: 138; vgl. I: 234).
Das Konzept der ›Anbetung‹ wird nun in die besagte Öffnung des Sinns eingezeichnet. Zunächst steht auch sie für die Entmythologisierung der Gebetspraxis, sodass der Beter kein Anbeter sei, zumal die Anbetung keinen Gegenstand habe – genau darin bestehe sie: gegenstandslos zu bleiben. Hingegen heißt es in einer anderen Passage, die Anbetung schaffe ihren Gegenstand selbst (II: 109.118). Zu dieser zweiten Version passt die Weise, in der N. die Anbetung mit der Kraft der Sprache verbindet, die von einem Außen komme, dorthin zurückkehre und somit dieses Außen selbst öffne; daher sei die Anbetung – aus Sicht des Beters – bereits Antwort auf die Unabsehbarkeit der Anrede (II: 109). Die Absicht, im Gebet etwas zu erreichen und zu adressieren, wird fallengelassen – zugunsten eines Lobes auf den unendlichen Sinn, auf die im­mer neuen Verweisungen (II: 22.33). Die Anbetung wird daher zu einer Geste der Anerkennung von Sinnenvielfalt, zuletzt wird sie ein Ausdruck der Freude darüber, uns als in dieser Welt Existierende erkennen zu können (II: 100).
N.s Projekt erinnert von Ferne an die Entobjektivierungsmaßnahmen, die die Theologie besonders im vergangenen Jahrhundert beschäftigt haben. Zwar betätigt sich N. nicht explizit als Theologe; dazu ist seine intellektuelle Gestik zu distanziert, zumal das Christentum vornehmlich als Muster für eine allgemeine Denkdynamik – und eben nicht um seiner selbst willen – vorgestellt wird (II: 41). Eine indirekte, quasi-theologische Mitteilung erhalten wir aber dennoch, die wiederum in zwei Lesarten zerfällt: Entweder tritt N. dafür ein, die von Gott vormals besetzte Position vakant zu lassen ( Dekonstruktion des Christentums), oder N. macht sich dafür stark, die Wirklichkeit Gottes als aus dieser Vakanz selbst herkommend zu denken (das sich selbst dekonstruierende Christentum). Das eine wäre ein Ableger der Säkularisierungsdebatte, das andere ein dogmatisch ernstzunehmendes Theorem. N. scheint sich eher im Umkreis der ersten Variante zu bewegen, während den Theologen – vielleicht gar nicht ganz ohne Absicht – einige interessante Zutaten dafür geliefert werden, die zweite Option zu ziehen. Wie be­schrieben könnte diese Selbstdekonstruktion als Dauerreflexion kaum zu einem Ende kommen. N. mag der wesentlichen Endlosigkeit einer solchen Bewegung dadurch entsprechen, dass er einen dritten Band zum Thema folgen lässt. Auch dieser wäre sicher kein neues Evangelium, aber sein Erscheinen eine sehr gute Nachricht.