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Ausgabe:

März/2013

Spalte:

359–362

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Martin Buber Werkausgabe. Hrsg. v. P. Mendes-Flohr u. P. Schäfer. Bd. 8

Titel/Untertitel:

Schriften zu Jugend, Erziehung und Bildung. Hrsg., eingel. u. kommentiert v. J. Jacobi.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2005. 460 S. m. Abb. Geb. EUR 108,00. ISBN 978-3-579-02684-8.

Rezensent:

Martin Leiner

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Martin Buber Werkausgabe. Hrsg. v. P. Mendes-Flohr u. P. Schäfer. Bd. 10: Schriften zur Psychologie und Psychotherapie. Hrsg., eingel. u. kommentiert v. J. Buber Agassi. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2008. 313 S. Geb. EUR 86,00. ISBN 978-3-579-02686-2.
Martin Buber Werkausgabe. Hrsg. v. P. Mendes-Flohr u. P. Schäfer. Bd. 19: Gog und Magog. Eine Chronik. Hrsg., eingel. u. kommentiert v. R. HaCohen. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2009. 303 S. m. 1 Kt. Geb. EUR 108,00. ISBN 978-3-579-02695-4.


Der von der Potsdamer Pädagogin Juliane Jacobi herausgegebene Band 8 der Martin Buber Werkausgabe (MBW) macht nicht weniger als 47 kurze und sehr kurze Reden und Schriften zu pädagogischen Fragen nunmehr leicht zugänglich. Erfreulicherweise werden im Unterschied zu anderen Bänden der MBW immer ganze Texte geboten, ohne einzelne Abschnitte aus dem Zusammenhang zu reißen. Auch Briefe finden sich in diesem Band nicht, was dem Konzept einer Werkausgabe entspricht. Von den 47 Texten sind zwei aus dem He-bräischen und einer aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt worden; fünf Texte edieren zum ersten Mal Materialien aus dem Jerusalemer Martin Buber Archiv. Unter ihnen ist der wichtige Text über Erwachsenenbildung von 1950, der Bubers reife Auffassung zu diesem Thema zusammenfasst.
Die Herausgeberin hat die Beiträge chronologisch angeordnet. Der erste Text »Referat über jüdische Erziehung« geht auf eine Rede Bubers auf dem Deutschen Zionis­tischen Delegiertentag am 25.12. 1916 zurück, der letzte, »Existentielle Situation und dialogische Existenz«, wurde postum publiziert im Januarheft 1966 der »Blätter des Weltbundes für Erneuerung der Erziehung«, dessen Ehrenpräsident Buber gewesen war. Insgesamt ist die Auswahl nachvollziehbar, auch wenn man sich andere Texte, insbesondere des jungen Buber, hätte vorstellen können.
Trotz der chronologischen Reihenfolge im Textteil folgt die Herausgeberin in ihrer sehr lesenswerten Einleitung bewusst sachlichen Gesichtspunkten. Sie setzt ein mit der grundlegenden Aussage, dass Buber sich bloß als »Erzieher« und »Lehrer« verstand. Eine systematische Pädagogik hat er nicht entwickelt und wollte eine solche auch nicht lehren. Konsequenterweise lehnte er 1936 einen Ruf als Professor für Pädagogik an die Hebräische Universität ab. Drei Themenfelder lassen sich nach Jacobi im pädagogischen Denken Bubers ausmachen: Die (zionistische) Jugendbewegung nach 1916, die philosophischen Grundlagen der Pädagogik und die Theorie und Organisation der Erwachsenenbildung (vgl. 14).
Zunächst behandelt die Einleitung Bubers Verhältnis zur Ju­gendbewegung. Sie nimmt D. Rechters Rede von der »Bubermania« auf, um Bubers großen Einfluss auf die jüdische Jugendbewegung zu kennzeichnen. Als Leitmotive finden sich die Abgrenzung von nationalistischem Gedankengut, die Ablehnung von kulturellem Hochmut und das Leitbild des chaluz, des heroischen Pioniers und neuen Menschen. En passant erwähnt die Herausgeberin, dass Buber damit zu der im Sammelband von N. Lepp und M. Roth Der Neue Mensch. Obsessionen des 20. Jahrhunderts (Ostfildern-Ruid 1999) von J. Oelkers und anderen scharf attackierten Pädagogiken des neuen Menschen gehört. Ebenfalls im Vorübergehen relativiert Jacobi die in einer Rezension zu MBW 1 von F. W. Graf geäußerte Kritik, Buber verknüpfe in einer historisch fatalen Form Volkstum und Blutsgemeinschaft. Vor dem 1. Weltkrieg gibt es diese Verbindung, in der Zeit der Weimarer Republik lehnt Buber sie aber zunehmend ab, wie seine Reaktion auf Wilhelm Stapels Buch Antisemitismus und Antigermanismus (1928) zeigt (27).
Im Bereich der Grundlagen der Pädagogik sind Bubers wich­-tigs­te Beiträge die Betonung der Gemeinschaft und das dialogische Prinzip als Theorie des erzieherischen Verhältnisses. Das dialo­gische Prinzip mit seinen religiösen Implikationen hat dabei massive Folgen für die Ablehnung jeder unreligiösen oder religiös neutralen Erziehung. Alle Erziehung ist für Buber religiös begründet: »Erziehen kann nur, wer in der ewigen Präsenz steht. […] Ein Ganzes ist Erziehung nur, wenn sie als Ganzes religiös ist« (32). Dabei geht es nicht darum, die Lehre einer bestimmten Religion zu vermitteln. Die Aufgabe des Lehrers ist es vielmehr, dem Schüler gegenüber die Welt zu repräsentieren. Der Lehrer wählt das Relevante aus der Welt aus und macht es zur persönlichen Anrede an den Schüler.
Diese Anrede ist wie jede dialogische Begegnung immer auch ein Miterfahren der Wirklichkeit des ewigen Du. Diese Zusammenhänge entfaltet Buber außer in Ich und Du auch eindrücklich in seiner berühmten Heidelberger Rede über das Erzieherische (136–150), die er 1925 zum Missfallen der auf »die Entfaltung der schöpferischen Kräfte des Kindes« ausgerichteten Reformpädagogen vortrug. Missfallen hat manchen wohl auch, dass Buber in dieser Rede platonischen und reformpädagogischen Eros und Erziehung mit scharfen Worten voneinander trennt (145–147). Des Weiteren ist Erziehung, die diesen Namen verdient, für Buber immer auch Charaktererziehung. In der Tel Aviver Rede Über Charaktererziehung (1939, publiziert 1947) stellt er in einer an N. Berdjajew erinnernden Weise die anzustrebende Personwerdung den Gefahren von Individualismus und Kollektivismus gegenüber.
Diese Zusammenhänge sowie die Differenziertheit des Buberschen Freiheitsdenkens werden in der Einleitung nicht erfasst. Stattdessen findet sich die von den Texten nicht gedeckte Kritik, Buber mache »kein Hehl daraus, daß er die Demokratie des Kollektivismus zeiht« (46). Buber hat freilich niemals »die« Demokratie des Kollektivismus beschuldigt, sondern bloß gesagt, dass Menschen nicht nur in totalitären Systemen, sondern auch in den Parteien der Demokratien Opfer des Kollektivismus werden können (vgl. 333). Dass Buber in diesem Zusammenhang von »sogenannten Demokratien« spricht, hängt mit seinem Demokratieideal zusammen, das auf stärkere Partizipation der einzelnen Personen abhebt. Freiheit war für Buber, wie man in einer Vereinfachung der nur komplex zu rekonstruierenden Aussagezusammenhänge sagen kann, meist die große Voraussetzung der Erziehung, die sich aber über Vertrauen, Verbundenheit und die Prägung durch die den Menschen ansprechende Welt weiterbilden muss, damit der Mensch eine individuelle und gemeinschaftsfähige Person werden kann (vgl. 143 f.). Dabei ist die Vielheit und Vielfältigkeit der Schüler das Faktum, von dem der Erzieher sich in »spezifisch pädagogischer Demut« stets korrigieren lassen muss (147).
Der dritte Themenkreis ist die Erwachsenenbildung. Die Einleitung gibt einen Überblick über Bubers Wirken in den Jahren der Weimarer Republik im Kontakt mit den großen Gestalten der deutschen Erwachsenenbildung wie Flitner und Rosenstock, dann über seinen mühevollen und langen Einsatz für eine jüdische Volksbildung im nationalsozialistischen Deutschland und schließlich über Bubers erwachsenenbildnerische Tätigkeit in Israel. Der zusam­menfassende Text »Erwachsenenbildung« (1950) wurde zeitgleich von Martha Friedenthal-Haase in dem Band Martin Buber: Bildung, Menschenbild und Hebräischer Humanismus, Paderborn 2005, sehr sorgfältig publiziert. Im Vergleich fallen nicht wenige Ungenauigkeiten in MBW 8 auf. Die augenfälligste ist, dass der 2. Weltkrieg natürlich nicht zwei (so 348), sondern sieben Jahrzehnte nach dem Tod von Grundtvig stattfand.
Bubers dialogisches Denken beeinflusste zahlreiche Psychologen des 20. Jh.s oder diente ihnen zumindest als Spiegel, in dem sie eigene Erfahrungen wiedererkennen und formulieren konnten. In Band 10 der Werkausgabe bestätigt dies Carl Rogers (237 f.) in einem Öffentlichen Dialog aus dem Jahr 1957, der in dem Band wiedergegeben wird. Ebenso dokumentiert MBW 9 die große Wirkung, die Buber auf Hans Trüb und andere Schüler C. G. Jungs besonders anlässlich einer Vortragsreihe in Amersfoort 1925 ausübte. Völlige Zustimmung erfährt Buber auch durch Ludwig Binswanger, der 1936 an ihn als Antwort auf die Zusendung des Buches Die Frage an den Einzelnen schreibt: »Ich vermag nicht nur überall mit Ihnen zu gehen, sondern sehe in Ihnen auch einen Bundesgenossen, nicht nur gegen Kierkegaard, sondern auch ge­gen Heidegger.« (180)
Die andere Seite dieser Affinität zwischen Buber und bedeutenden Psychologen und Psychotherapeuten des 20. Jh.s ist, dass Buber sich auch als scharfer Kritiker zu Freud und Jung äußerte. Freud, über den Buber möglicherweise auch eine verschollene kritische Schrift verfasste (12), missverstehe die Ich-Du-Beziehung erotisch, ersetze Schuld durch therapeutisch zu entfernende Schuldgefühle (127–152) und trage mit seinem atheistischen Wirklichkeitsverständnis zur dürftigen Geisteslage der Gegenwart wesentlich bei. Der Mann Moses und die monotheistische Religion sei ein »völlig unwissenschaftliches, auf grundlosen Hypothesen haltlos gebautes Buch« (13). An C. G. Jung kritisiert Buber wiederholt, dass er Gott nicht als Gegenüber, sondern als Produkt der menschlichen Seele ansehe. Einer »Verseelung der Welt«, so Buber im Entwurf zu einem Vortrag im Psychologischen Klub Zürich aus dem Jahr 1923 (29–36), sei die Begegnung mit der Wirklichkeit gegenüberzustellen.
Alle diese Aussagen findet man nun in Band 10 der Werkausgabe leicht zugänglich zusammengestellt. Der editorische Preis, der dafür gezahlt wird, ist hoch. Sechs der 14 Texte sind Bruchstücke aus größeren Werken wie Das Problem des Menschen (der Abschnitt über Scheler), Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre oder Religion und modernes Denken. Eine solche Zerstückelung lässt Schlimmes für die kommenden Bände befürchten. Hilfreich für den Interessierten, aber nicht eigentlich zu einer Werkausgabe passend, ist die Publikation von fünf Briefwechseln und zwei Dialogen.
Auch wenn viele seiner Arbeiten literarisch gestaltet sind, veröffentlichte Martin Buber zeit seines Lebens nur einen einzigen Roman. Es ist die im chassidischen Milieu in Lublin und anderen polnischen Städten um 1800 spielende Erzählung Gog und Magog. Buber hat an ihr viele Jahre mühevoll gearbeitet. Die ersten Anfänge des Werkes gehen schon auf das Ende des 1. Weltkriegs zurück. Veröffentlicht wird dieses Werk zunächst 1941 in hebräischer Sprache in der Zeitung der zionistischen Arbeiterbewegung Davar. Erst nach längerer erfolgloser Suche nimmt 1949 ein deutscher Verlag, Lambert Schneider, das Typoskript an. Dieser deutsche Text liegt der Edition zugrunde. »Wesentliche« Unterschiede zu den hebräischen Buchausgaben hat der Herausgeber in Fußnoten dokumentiert (20.277). Die bewegte Entstehungsgeschichte mit einer unpublizierten deutschen Urschrift, einer fast wörtlichen hebräischen Übersetzung (beide nur im Jerusalemer Buber Archiv), der hebräischen Zeitungspublikation, in der die letzten sieben Kapitel fehlen, der 1. hebräischen Buchausgabe von 1943, einer englischen Übersetzung, die 1945 unter dem Titel For the Sake of Heaven in Phila­delphia erschien, und einer sprachlich stark bearbeiteten 2. hebräischen Buchauflage von 1955, lässt sich anhand des Apparats freilich nicht nachvollziehen.
Die Einleitung des Bandherausgebers Ran HaCohen charakterisiert den Roman treffend mit Ernst Simon als »Philosophie in Ro­man­form«. Es geht in ihm um den Gegensatz zwischen zwei mes­-sianischen Auffassungen: Die eine, repräsentiert durch den »Seher« von Lublin, geht davon aus, dass man die Erlösung mittels magischer Einflussnahme auf die Welt beschleunigen könne und sich dabei auch des Bösen bedienen dürfe. Die andere von seinem Schüler, dem »heiligen Juden« von P žysha, vertretene, geht davon aus, dass der einzige Beitrag des Menschen zur Erlösung die Umkehr und die innere Verbesserung im Leben vor Gott sein kann. Buber spricht sich eindeutig für den Weg des »heiligen Juden« aus. Die Fähigkeit, sich des Bösen zu bedienen, um Gutes zu erreichen, ohne dabei selbst böse zu werden, hat Gott allein. Die Menschen sollen sich nicht mit dem Bösen einlassen, weil sie ihm nicht gewachsen sind. – Diese unter Verwendung zahlreicher chassidischer Überlieferungen gestaltete philosophische Erzählung steht mehreren Deutungen offen. Chassidismusforscher wie G. Scholem sehen sie eher kritisch und bemerken christliche Züge im Bild des »heiligen Juden«. HaCohen stellt vor allem die zeitgeschichtliche Interpretation vor. Als Kritik an einem Gewalt, Blutvergießen und Unrecht legitimierenden nationalistisch-israelitischen Zionismus würde die Schrift gut zu Aussagen passen, die Buber im Nachwort und bei verschiedenen Gelegenheiten nach seiner Übersiedlung nach Israel machte. Buber konnte – horribile dictu – sogar Parallelen zwischen dem nationalsozialistischen und dem israelischen Messianismus ziehen (18). Die Einleitung referiert außerdem die autobiogra­phische Deutung von Gog und Magog, die der israelische Forscher Avraham Shapira vorgelegt hat. Für ihn repräsentiert der »Seher von Lublin« den vordialogischen Buber, der »heilige Jude« Buber nach der Bekehrung zur dialogischen Weltsicht und zum Pazifismus im Sinne Gustav Landauers. Eine dritte wichtige Deutung findet sich nicht in der vorliegenden Edition, sondern in Lothar Stiehms editorischem Anhang zur 3. Auflage von Gog und Magog, die unter dem Titel Zwischen Zeit und Ewigkeit 1978 im Lambert Schneider Verlag erschienen ist. Stiehm verweist auf das Vorwort zu »Bilder von Gut und Böse« (1952). In dieser Schrift bezieht Buber Gog und Magog auf die Entretiens de Pontigny vom Sommer 1935, wo Buber insbesondere mit Berdjajew und Buonaiuti das Problem des Bösen diskutierte.
Der Roman sollte das schwer fassbare Problem, dass das Böse und das Gute von unterschiedlicher Struktur sind, beschreiben. Diese Deutung braucht die zeitgeschichtliche und die autobiographische nicht auszuschließen, sie erlaubt aber eine tiefergehende Lektüre dieses auf seine Art bedeutenden Romans.