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Ausgabe:

März/2013

Spalte:

357–359

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Geppert, Alexander C. T., u. Till Kössler[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Wunder. Poetik und Politik des Staunens im 20. Jahrhundert.

Verlag:

Berlin: Suhrkamp 2011. 475 S. m. Abb. = suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 1984. Kart. EUR 16,00. ISBN 978-3-518-29584-7.

Rezensent:

Alexander Deeg

Wahrscheinlich hätten Theologen kaum den Mut, unter dem schlichten Titel »Wunder« einen Sammelband zu veröffentlichen. Die Historiker Alexander C. T. Geppert und Till Kössler wagen es und zeigen, was möglich ist, wenn der zugleich gängige und angesichts der Fülle seiner konnotativen Auren problematische Begriff des Wunders aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspek­tiven heraus betrachtet wird. Der Band, der den präzisierenden Untertitel »Poetik und Politik des Staunens im 20. Jahrhundert« trägt, bietet nicht weniger als eine nun selbst wieder erstaunliche Kartographie der religiösen Gegenwartslage. Er zeigt, dass es mit dem »säkularen Zeitalter« (Charles Taylor) eine eigentümliche Sache ist und dass alle linearen Narrative scheitern, wenn das komplexe Wechselspiel von religiösen Phänomenen und Erfahrungen einerseits und gesellschaftlichen wie individuellen Einstellungen andererseits zur Diskussion steht. Weder lässt sich eine lineare Geschichte zunehmender Säkularisierung beobachten noch eine Geschichte zunehmender Individualisierung des Religiösen. Auch gibt es keine sich ablösenden Bewegungen der Entzauberung (Max Weber) und Wiederverzauberung der Welt. Die Wirklichkeit ist komplexer. Und der »Lackmusstreifen« Wunder, den die Herausgeber und Autoren an die gesellschaftliche und religiöse Gemenge­lage halten, offenbart genau diese Komplexität.
In der fast 60 Seiten umfassenden »Einleitung« (9–68) unterscheiden die Herausgeber »Transzendenzwunder (miracula)«, »Na­turwunder (mirabilia)« und »Wunderpolitiken (admiratio)« – eine Dreiteilung, die den Band gliedert und auf drei unterschiedliche Kommunikationssysteme verweist: die Religion, die Naturwissenschaften und die Politik. »Wunder« werden definiert als »für un­möglich gehaltene und daher Staunen erregende Transgressionen existierender Wissens- und Denkgrenzen, die alternative Ordnungsentwürfe aufscheinen lassen und häufig als Manifestationen von Transzendenz gedeutet werden« (38). Immer wieder erfahren Leserinnen und Leser bereits in der Einleitung des Bandes interessante Details (unter Johannes Paul II. wurden 1820 Wunder von der katholischen Kirche offiziell anerkannt) und werden zugleich größere Linien entdeckt (gesellschaftliche Wunder des 20. Jh.s wie das »Wunder von Bern« oder das »Wirtschaftswunder« wurden erst »retrospektiv als transzendente, gemeinschaftsbildende Ereignisse mystifiziert« [29]). Es ist vor allem dieses Ineinander, das bereits die Einleitung so anregend lesbar macht und auch viele der weiteren Artikel des Bandes prägt.
Die erste Rubrik »Miracula« wird mit einem Beitrag von Gabriela Signori eröffnet, in dem die Entwicklung wundertätiger Orte von den Anfängen bis in die Gegenwart verfolgt und u. a. gezeigt wird, dass Protestanten demgegenüber seit dem 17. Jh. verstärkt das Bild des charismatischen »Wunderheilers« entwickeln. Der Neutestamentler Ruben Zimmermann informiert über die Verschiedenheit der Wundererzählungen im Neuen Testament und verweist auf die Tendenz der neuzeitlichen neutestamentlichen Hermeneutik, diese Erzählungen in die bestehenden Wissenssysteme einzubauen. Demgegenüber sei es in den vergangenen 20 Jahren zu einer erstaunlichen Wiederbelebung des Wunderthemas in den exegetischen Disziplinen gekommen. Joseph Imorde bleibt in seinem Beitrag zu dem weinenden Marienbild auf Syrakus aus dem Jahr 1953 nahe am Phänomen; dadurch wird es ihm möglich, das Ineinander von politischen, kirchenpolitischen und ökonomischen Motiven bei der Produktion und Rezeption eines Wunders aufzuweisen. Der die erste Rubrik abschließende Beitrag von Helmut Zander macht exemplarisch deutlich, wie es gelingen kann, ausgehend von der Schilderung eines Phänomens (hier: das Marienwunder von Sievernich, 2003–2005) eine schlüssige Einordnung in die epistemischen und sozialen Voraussetzungen des »Wunders« zu bieten. Zander zeigt, dass Marienerscheinungen ein typisch neuzeitliches »Wunder« seien, die in den Grenzbereich von abwartender offizieller Kirchlichkeit, ablehnender universitärer Theologie und gelebter (vor allem weiblicher!) Frömmigkeit gehören. Dabei stehen sich nicht die Irrationalität der Wundergläubigen und der Rationalismus der Bestreiter gegenüber; vielmehr ein »gläubige[r] Rationalismus gegen den ungläubigen Rationalismus« (171).
Der die Rubrik »Mirabilia« eröffnende Beitrag von Eva Johach schlägt einen weiten Bogen vom frühen 19. Jh. bis in die Gegenwart und zeigt, wie das Staunen-Erregende in eine wissenschaft­liche Weltsicht integriert werden konnte. Das alte Konzept des Wunders als Eingreifen Gottes contra naturam wurde verschiedenartig in das Konzept des »Naturwunders« transformiert. Spannungen wurden besonders dort deutlich, wo nach den »Grenzen der Naturerkenntnis« gefragt wurde (vgl. den Ignorabimus-Streit in den 1870er Jahren). Susanne Michl stellt die Verbindung von moderner Medizin und »Wunderhandeln« anhand einiger Tendenzen in der Medizin seit dem Ersten Weltkrieg dar. Die Macht und Aura des Arztes wurde inszeniert und teilweise sogar filmisch dokumentiert (eine nicht nur für pastoraltheologische Reflexionen vielfach anschlussfähige Betrachtung!). Diethard Sawicki verbindet die Darstellung des wissenschaftlichen Werdegangs von Wilhelm Reich und seiner vermeintlichen Entdeckung des »Wunders des Lebens« mit profunden Thesen zu Wundern im 20. Jh. In einem insgesamt etwas redundanten Beitrag zeigt Alexander Gall, wie Wunder der Technik und Wunder der Natur im 20. Jh. konstruiert und dargestellt wurden.
Die dritte und letzte Rubrik »Admiratio« wird mit einem Überblicksartikel von Falko Schmieder zu den Entwicklungen eines politischen Wunderbegriffs im 20. Jh. eröffnet. Tobias Becker geht um­gekehrt von einem einzelnen Phänomen (dem 1911 uraufgeführten Stück »The Miracle«) aus und macht deutlich, wie ein Theaterwunder gemacht und religiös instrumentalisiert werden konnte. Auch aufgrund der luziden Einblicke in erste Tendenzen zur »Kommerzialisierung der Gefühle« im 20. Jh. gehört dieser Beitrag zu den herausragenden des Bandes. Vor allem die Bedeutung der Medien (hier: der Fotografie) für die Popularisierung des stigmatisierten Wundertäters Padre Pio beschreibt und analysiert Urte Krass in ihrem Beitrag. Nicht zuletzt wird deutlich, dass Fotografie (ent­gegen der Meinung Walter Benjamins!) durchaus die »Aura« der Person transportieren, wenn nicht sogar steigern kann. Sonja Lührmann untersucht den Versuch in der Sowjetunion unter Chruschtschow und Breschnew, der Bevölkerung einen naiven Wunderglauben auszutreiben und stattdessen die Möglichkeiten des Menschen zu betonen. In einem Epilog blickt Martin Baumeis­ter auf die Beiträge des Bandes zurück.
Für Theologinnen und Theologen zeigt sich in dem Band exemplarisch, wie gewinnbringend es ist, sich in den Dialog mit den Kulturwissenschaften zu begeben. Die »Außenperspektiven« offenbaren, welche Funktion religiöse Begriffe zur Beschreibung von Ereignissen, Benennung von Erfahrungen und Vermittlung von Erkenntnissen haben können. Dabei spielt die »positivistische« Frage nach der »Wirklichkeit« von Wundern keine Rolle. Es geht um Phänomene der Rezeption (Staunen), und es wird deutlich, wie Wunder (vor allem medial) gemacht werden können und in welchen kommunikativen Zusammenhängen sie eine Rolle spielen.
Freilich ist es bedauerlich, dass systematisch- und praktisch-theologische Beiträge ebenso fehlen wie religionssoziologische Be­trachtungen. Gleichzeitig wird an diesen offenen Punkten deutlich, wo der Dialog zwischen der Theologie und den Kulturwissenschaften in den kommenden Jahren weitergeführt werden kann. Dass die Herausgeber den Theologen den Vorwurf machen, dass sie sich »kaum jemals bemüht [hätten], andere Disziplinen für ihre stark ausdifferenzierten, bis in die Gegenwart vornehmlich konfessionsintern debattierten Forschungsergebnisse zu interessieren« (17), erscheint sicher zu pauschal, kann aber Ansporn sein, große Fragen der Theologie entschieden in den Raum der kulturwissenschaftlichen Debatten einzutragen. Das interdisziplinäre Projekt Wunder kann weitergehen!
»Es kommt alles wieder, auch die Wunder […]«, meinte Kurt Tucholsky. Das Zitat wurde von den Herausgebern dem Band vorangestellt – und bewahrheitet sich auf rund 470 anregend zu lesenden Seiten eines bedeutenden und zugleich überaus unterhaltsamen Sammelbandes.