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Ausgabe:

März/2013

Spalte:

353–354

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Schmidt, Erik

Titel/Untertitel:

Goethes Religion und Weltanschauung. Nach den Quellen, den Werken, den Briefen und den Gesprächen systematisch dargestellt. Vorlesungen von Dr. Erik Schmidt.

Verlag:

Aachen: Shaker 2012. IV, 285 S. = Berichte aus der Philosophie. Kart. EUR 39,80. ISBN 978-3-8440-0763-3.

Rezensent:

Michael Plathow

Das komplexe und spannungsvolle Thema »Goethe und die Religion«, »Goethes Weltanschauung«, »Goethes Christlichkeit« hat in den zurückliegenden Jahrzehnten immer wieder evangelische Theologen herausgefordert.
Erinnert sei nach den Idealismus und Christentum verbindenden Beiträgen (beispielsweise K. E. Bornhausen u. a.) an Erich Seeberg, Goethes Stellung zur Religion, in: ZKG 51 [1932], 202 ff.; Heinrich Bornkamm, Das Christentum im Denken Goethes (1947), in: ZThK 96 [1999], 177 ff.; Paul Althaus, Goethe und das Evangelium, in: FS H. Meiser 1951, 99 ff; Gottlieb Söhngen, Goethes Christlichkeit, in: Ders. Die Einheit der Theologie, München 1952, 372 ff.; Karlmann Beyschlag, Goethe im Urteil der neueren evangelischen Theologie, in: Ders. (Hrsg.), Humanitas – Christianitas. FS W. v. Loewenich, 1968, 205 ff.; Helmut Thielecke, Glauben und Denken in der Neuzeit [1988], 295.362; Gottfried Seebass, Goethe und der christliche Glaube, in: HdJb 31 [1987], 105 ff.; Jan Rolfs, Goethe und die Theologie, in: KuD 45 [1999], 158 ff.; Michael Plathow, »Wir heißen’s: fromm sein«. Zu Goethes Religiosität und christlichem Glauben, in: MD-EZW [1999], 225 ff.; ders., Wahrheitsgewissheit und Toleranz. Zu J. W. v. Goethes »Geheimnisse. Fragment«, in: OECUMENICA 22, Heidelberg 2010, 4 ff.; Jörg Baur, »Alles Vereinzelte ist verwerflich«. Überlegungen zu Goethe, in: NZSTh [1991], 152 ff.; ders., Goethe und das Christentum in der Sicht des Theologen, in: NZSTh [2000], 140 ff.
Gegenüber dieser vom theologischen Interesse geprägten Interpretationstradition gestaltet sich die durch eigene Texte verbundene und systematisierte Sammlung von Goethezitaten des Pastors und Theologen Erik Schmidt als eine religionsphilosophische Studie; sie enthält sich theologischer Urteile selbst da, wo es sich anbieten könnte in Teil I, 2 »Das Christentum« mit den Darstellungen zu Person, Werk und Kreuz Christi (86–91). Aus jüngerer Zeit kann die biographisch-bibliographische Quellensammlung in »Goethe und die Religion«, hrsg. von H.-J. Simm, Frankfurt a. M./Leipzig 2000, eine gewisse Entsprechung zu S.s Arbeit anzeigen. Allerdings weist S. über die Präsentation von Goethe-Texten hinaus auch auf die Spannungen von Eigenbild und Fremdbild – in den weit ausgewählten Briefen vom und an den Dichterfürsten (15 f.56.242.266 u. a.) – und auf Widersprüche in Goethes Äußerungen zur Religiosität hin (13.23.39.87.132.166.262.270). Eine Diskussion mit der Se­kundärliteratur wird nicht einbezogen.
Als Vorlesungs- und Vortragsskript konzipiert, wurde S.s Buch postum von seiner Tochter ediert. Quellentexte des Dichterfürsten in Briefen, Gesprächen und Werken werden in systematisierender Analyse und Deskription wiedergegeben und so zur Sprache gebracht.
Die beiden Hauptteile des Buches beziehen sich I. auf die Religion und II. auf die Weltanschauung Goethes. Dabei fasst Teil I auch die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen des Dichters Goethe in den Blick: die die Subjekt-Objekt-Spaltung überwindende »gegenständliche Denkmethode«, die Intuition/Anschauung und Denken verbindet (125); die im Gefühl verortete Religiosität; die »mystische Naturphilosophie« (129.157); den »weltbejahenden Platonismus« (171).
Teil II expliziert anhand der Quellentexte folgende materiale Themen Goethescher Weltanschauung: Gottesbegriff; Gott und Welt; das Übel und das Böse (Theodizee); Ethik; Religion und Kunst; Unsterblichkeit; Erlösung. Treffend unterscheidet S. zwischen »universeller« und »spezieller« Offenbarung. Im Kontext der angezeigten erkenntnistheoretischen Voraussetzungen Goethes findet die Offenbarung des göttlichen Geheimnisses (»überpersönlicher Gott«, 140) in den Urphänomenen der Natur besondere Aufmerksamkeit. Unter Anleihen bei B. Spinoza erweist sich die naturhafte Lebenskraft als entelechisches Werden durch Metamorphose und Transformation im Prozess von Polarität und Steigerung. Der Naturforscher Goethe des »os intermaxilliare« (190) grenzt sich dabei ab von mechanistischen und deistischen Weltanschauungen.
Im göttlichen Vorsehungsgeschehen, dem die Verbindung von Ergebung und Tat des Menschen entspricht, ist es Gottes schaffende Liebe (272), die – gegen einen absoluten Dualismus (225) und gegen I. Kants »radikales Böse« – das Gute im Widerspruch gegen das Böse sich entwickeln lässt (227). In der Metamorphose der sittlichen Weltordnung manifestiert sich das edle Menschsein der Selbstlosigkeit in Christus als höchstem Prinzip (238).
In Goethes ästhetischer Frömmigkeit erweist sich die Kunst, die dem Schönen Dauer verleiht, als Auslegerin der Natur in den Darstellungen des Schönen und Wahren (258). So manifestiert sich in dem komplexen Verhältnis von Kunst, Naturphilosophie und Religion das Geheimnis des Göttlichen.
Die weniger ausführlichen Explikationen zu »Unsterblichkeit« und »Erlösung« – die Letztere verstanden als mystisches Zusam­menwirken von »Streben und Gnade« (278) – konzentrieren sich auf den von S. angenommenen Leitgedanken »Idee und Liebe« in der Weltanschauung Goethes.
Im heutigen Diskurs wären für philosophische Hintergründe und gedankliche Vertiefungen die Forschungen von Literaturwissenschaftlern (z. B. Jochen Schmidt, Die »katholische Mythologie« und ihre mystische Entmythologisierung in der Schluss-Szene des Faust II, in: Werner Keller [Hrsg.], Aufsätze zu Goethes Faust II, Darmstadt 1992, 384 ff.), von Philosophen (z. B. Karl Löwith, Kreuz und Rose, in: ders., Von Hegel zu Nietzsche, 1950, 27 ff.; Kurt Hübner, Eule – Rose – Kreuz. Goethes Religiosität zwischen Philosophie und Theologie. Bericht aus der Sitzung der Joachim Jungius Ge­-sellschaft der Wissenschaften e. V. Hamburg, 17, 1999, 3 ff.; Henning Ottmann, Die Rose im Kreuz der Gegenwart, in: Hegel-Jahrbuch [1999], 142 ff.) und von den anfangs genannten Theologen heranzuziehen.
Interessant und erkenntnisgewinnend auch für den kundigen Leser sind die zahlreichen Quellenzitierungen aus dem umfangreichen Œuvre Goethes, aus den Briefen von und an den Dichterfürsten und den Gesprächen mit ihm. Leider enthält sich das Vorlesungs- und Vortragsskript »Goethes Religion und Weltanschauung nach den Quellen« der Aufgabe, die Zitierungen in den Quellen zu belegen; auch verzichtet S. auf die Einbeziehung von Sekundärliteratur. Beides würde die Einordnung dieser Studie in den wissenschaftlichen Diskurs erleichtern und vertiefen.