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Ausgabe:

März/2013

Spalte:

347–348

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Berg, Stefan

Titel/Untertitel:

Spielwerk. Orientierungshermeneutische Studien zum Verhältnis von Musik und Religion.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2011. XVI, 464 S. m. Notenbeisp. = Religion in Philosophy and Theology, 60. Kart. EUR 69,00. ISBN 978-3-16-150947-6.

Rezensent:

Konrad Klek

Ästhetik-Diskurse haben Konjunktur in der Theologie. Selten nur ist dabei das ästhetische Potential der Musik im Blick, wiewohl diese gemeinhin als die primäre protestantische Kunst gilt. Auf der Seite der Kirchenmusik aber scheint man sich in postmoderner Beliebigkeit eingerichtet zu haben, die inhaltlichen Auseinandersetzungen um die »wahre« Kirchenmusik sind passé und die bisweilen sehr polemischen Scharmützel um die Berechtigung verschiedener Stile vorbei. Ja keine Theorie, lautet die Devise, wir wollen doch bloß Musik machen!
Die Zürcher Dissertation von Stefan Berg betritt also Neuland, wenn sie das Verhältnis von Musik und Religion grundsätzlich, auf einem sehr hohen Abstraktionsgrad, in den Blick nimmt, und sie beackert dieses Neuland dergestalt, dass unweigerlich deutlich wird: Hier ist fruchtbares Land und hier wird ein Weg beschrieben, der tatsächlich weiterführend ist. Die Theoriekonstruktionen können so mit dem oft schwer abstrahierbaren Phänomen Musik vermittelt werden, und die Musik kann gerade in ihrer nicht schematisierbaren Vielfalt theoriefähig werden.
B.s Zauberwort dafür heißt Orientierungshermeneutik und sein Buch umfasst eigentlich vier Studien. Zunächst wird eben umrissen, was der Begriff »Orientierung« im Blick auf die Fragestellung Musik und Religion leisten kann. Dann folgt eine sehr gründliche Untersuchung, geradezu eine Rekonstruktion von Augustins Musikphilosophie in De musica als Repräsentant für den seinsphilosophischen Horizont. Den Gegenpol dazu seitens der Subjektphilosophie bildet die nicht weniger präzise dritte Studie zu Rousseau. Am Ende stehen unter dem Buchtitel »Spielwerk« noch vergleichsweise kurze Ausführungen im Sinne der Anwendung, wobei als konkretes, herausragendes musikalisches Phänomen die 1970 entstandene Ekklesiastische Aktion von Bernd Alois Zimmermann gewählt ist, nach deren Vollendung der Komponist in den Freitod ging.
Als Buchkonzeption im Blick auf eine potentielle Leserschaft ist das eigentlich nicht sinnvoll. Es werden sich kaum Leser finden, die sich mit allen vier Abhandlungen zu so weit auseinanderliegenden Welten auseinandersetzen können und wollen. Als weiterführende Arbeit für die Wissenschaft ist das aber gerade in diesem Riesenspagat großartig. B. legt hier eine Visitenkarte vor, die ihn als wissenschaftlichen Lehrer schlechthin ausweist.
Der Rezensent kam sich beispielsweise bei der Lektüre des Augustin-Kapitels vor wie in den besten Vorlesungen seines Stu­-diums: Schritt für Schritt wird man in Bereiche hinein- und darin weitergeführt, zu denen man bisher keinerlei Zugang hatte, und am Ende steht ein höchst plausibles Gesamtbild da. Die Augustin-Experten jedweder Couleur sollten sich dieses Kapitel vornehmen und sich an die eigene Nase fassen, wie sie die zentrale Rolle von Augustins Musikanschauung in seinem Denkgebäude bisher so geringachten konnten. Gewiss macht es Augustin dem Rekonstrukteur einfacher darin, dass er im Rahmen seines streng hierarchischen Denkens sehr konsequent vorgeht. Aber hierbei präzise bestimmt zu haben, inwieweit die concordia der Musik den Idealfall der gelingenden Stabilisierung im Spannungsfeld zwischen Gott und Welt darstellt, ist B.s große, sicher auch die Augustin-Forschung bereichernde Leis­tung.
Rousseau ist von Augustin nicht nur historisch so weit weg, dass man mit einigem Recht in Frage stellen kann, ob sein Denken mit der kategorischen Separierung von Musik und Religion überhaupt noch als Gegenpol fungieren kann. Und dann sind da Brüche zu konstatieren, die den wohlwollenden Leser nicht nur ärgern, sondern auch an der Höchstwertigkeit dieses Denkens zweifeln lassen. B. reflektiert dies in seinen Ausführungen und unternimmt einiges, um aufzuweisen, wie gerade ein solches subjektorientiertes Denken signifikant für die Moderne ist, in der unser Orientierungsbedarf heute nun einmal angesiedelt ist. Zur Darstellung sei hier kritisch angemerkt, dass die vielen französischen Originalzitate doch wohl auch der Übersetzung wert gewesen wären, wie das bei Augustins Latein geschehen ist. Abgesehen davon, dass Theologen bis zum heutigen Tage Latein lernen müssen, Fran-zösisch aber nicht, ist bei Originalzitaten aus allen lebenden Sprache, die über 200 Jahre alt sind und spezielle Diskurse wiedergeben, die Übersetzung eine spezifisch wissenschaftliche Erschließungsleis­tung.
Gegenüber den zusammen knapp 300 Seiten für Augustin und Rousseau sind die nur gut 100 Seiten der beiden Rahmenkapitel für den problemorientierten Leser effektiver zu lesen. B. beschreibt zunächst die musikhermeneutischen Herausforderungen im Kontext des heutigen musikalischen Pluralismus als Grundtatsache, dem ein »musikhermeneutischer Schwebezustand« korrespondiere, in dem jeder Teilbereich eben – wenn überhaupt – mit seiner eigenen Partialhermeneutik agiere. Der weiterführende Weg müsse die herkömmliche Musikologen-Dichotomie von »Musik verstehen« und immanenter »musikalischer Logik« überwinden. Eine Skizze der Orientierungstheorie, didaktisch mustergültig in fünf Feldern präsentiert, schließt sich an, ehe die speziell musikalische Orientierung als »Orientierung in Klangräumen« entwickelt wird, unterschieden in musikimmanente und musikexterne Orientierung. Auf dem so eröffneten Tableau kann dann das Thema Musik und Religion eingespielt werden.
Als noch kürzere Skizze kann man sich dies auch in dem ebenfalls 2011 von B. und seinem Doktorvater Dalferth in Leipzig herausgegebenen Band »Gestalteter Klang – gestalteter Sinn« zu Ge­müte führen. Besonders spannend wird es, wenn das so entfaltete hermeneutische Instrumentarium auf einen konkreten Fall musikalischer Praxis angewandt wird. Dafür bietet jener Band einige Beispiele anderer Autoren, flankiert von zwei weiteren histo­-rischen »Orientierungs«-Studien B.s (zu den Jahren 1555 und 1918). Hier, in der Dissertation, muss man sich mit einer Besprechung des – neudeutsch gesprochen – besonders krassen Falls von B. A. Zim­mermanns opus ultimum begnügen. B. zeigt aber jedenfalls, dass er auch als Musikologe – mit dem Erfahrungshintergrund eines Musikpraktikers – herausragendes Rüstzeug besitzt und seine Schritt-für-Schritt-Erschließungstechnik auch am musikalischen Phänomen überzeugend anzuwenden vermag. Da be­kommt man als Rezensent Lust, über die Deutung einzelner Phänomene (z. B. das Bach-Choralzitat am Ende) zu streiten, eben darüber, wie hier, speziell in diesem einen Falle Religion mit Musik ins Spiel kommt.
Eine solche unabschließbare Spielfolge von Diskussionen über einzelne, an musikalischen Phänomenen werkmäßig zu fassende Situationen des Ins-Spiel-Kommens von Religion mit Musik anzuregen, ist wohl die Intention der Arbeit – anstatt einen Markt für »theologische Musikästhetiken« aufzumachen. In diesen Diskussionen sollten dann allerdings nicht nur so »krasse Sachen« wie das Zimmermann-Opus vorkommen, sondern auch ganz Elementares, »Populäres«, für viele Menschen durchaus Lebensnotwendiges wie »Herr, deine Liebe, ist wie Gras und Ufer«.