Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/2013

Spalte:

344–346

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Zager, Werner [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Liberales Christentum. Perspektiven für das 21. Jahrhundert. M. Beiträgen v. W. Gräb, A. Knuth, A. Rössler, E. Valtink u. W. Zager.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theologie 2009. VIII, 213 S. Kart. EUR 24,90. ISBN 978-3-7887-2377-4.

Rezensent:

Alf Christophersen

Im September 1948 wurde in Frankfurt am Main der »Deutsche Kongreß für Freies Christentum« abgehalten. Dabei kam es zur Gründung des »Deutschen Bundes für freies Christentum«, ab Ok­-tober 1962 »Bund für Freies Christentum«. Im Vorfeld der Gründungsereignisse war der Versuch unternommen worden, die große Leitfigur der Veranstalter, Albert Schweitzer, zur Teilnahme am Kongress zu bewegen. Er konnte oder wollte der Aufforderung nicht Folge leisten, reagierte aber unter Aufnahme von Gal 5,1 mit der aufmunternden Botschaft: »Ja wir wollen alle Mut behalten. Für das freie Christentum einzutreten ist eine Pflicht dem Evangelium gegenüber. Wie oft denke ich an das Wort ›So bestehet nun in der Freiheit, damit uns Christus befreiet hat‹ […] S[ankt] Paulus ist unser Schutzpatron« (136; vgl. 19). Auch der Herausgeber des vorliegenden Sammelbandes, Werner Zager, unterstreicht den besonderen Rang des Apostels für ein freies Christentum, schließlich sei er, wie es Schweitzer in seiner »Mystik des Apostels Paulus« hervorhob, »›der Schutzheilige des Denkens im Christentum‹« (137). Nicht ohne Pathos verweist Zager schon im Vorwort auf die Leistungskraft einer liberalen Theologie, die gegenwärtig eine Renaissance erfahre und in den aktuellen kirchlichen und theologischen Debatten über »Abschiede und Neuanfänge« Impulse setze: »Dabei wird ein liberales Christentum sichtbar, das in gleicher Weise dem Evangelium und der Wahrhaftigkeit verpflichtet ist und das sich im Dialog mit Wissenschaft und Technik, Kultur und Religion befindet« (V).
Der Band präsentiert fünf teilweise überarbeitete und erweiterte Vorträge und eine Predigt (von Eveline Valtink über Mt 25,14–30), die im September 2008 anlässlich der Jahrestagung des »Bundes für Freies Christentum« in der Evangelischen Akademie Hofgeismar gehalten wurden. Es konnte das 60-jährige Jubiläum des »Bundes« begangen werden. Ergänzt werden diese Beiträge um drei weitere Texte. Den programmatischen Einstieg liefert Wilhelm Gräb mit eingängigen Überlegungen zur Frage »Was bedeutet liberales Chris­tentum im 21. Jahrhundert?« (1–17). In drei Schritten entwirft er eine Antwort, die sein eigenes theologisches Selbstverständnis spiegelt: Wolle das liberale Christentum zukunftsfähig sein, sei erstens »eine liberale evangelische Kirche« erforderlich, die über »ein weites Herz« verfüge, keinen Glaubens- und Bekenntniszwang ausübe, sondern sich an den »religiösen Interessen der Menschen« orientiere. Einer solchen Kirche müsse dann zweitens »eine libe­-rale Theologie« korrespondieren. Diese sei »Kulturtheologie, historisch-kritische Theologie, Vermittlungstheologie, rationale Theo­logie, den Gegenwartsfragen, auch den sozialen He­rausforderungen aufgeschlossene Theologie« (1). Drittens müsse »eine liberale Frömmigkeit« hinzukommen, die sich an den religiösen Autonomieansprüchen des Einzelnen orientiere und für diese eintrete. Einen besonderen Akzent legt Gräb auf die Gottunmittelbarkeit des Individuums.
Daraus ergebe sich die tiefe Skepsis gegenüber der Annahme, »Kirchenführer« könnten »sich ein politisches Mandat anmaßen«. »Die Gemeinde und ihre Gottesdienste sind Orte der Kommunikation des Evangeliums, der Belehrung und Beratung der Gewissen, nicht aber der politischen Aktion« (3). Warum es vernünftig ist, zu glauben, versucht Gräb darzulegen. Dabei betont er, dass Gott immer als Gegenstand des Glaubens, nicht des Wissens zu gelten habe. Der Glaube könne zu einer »Kraftquelle in der Bewältigung des Lebens« (13) werden. Der Vortrag Gräbs lässt sich schließlich als Plädoyer für ein Spiritualitätskonzept begreifen, das einer »undogmatischen Frömmigkeit« entspricht, die auf den Symbolcharakter biblischer Aussagen angewiesen ist; denn: »Die Aussagen über Gott im symbolischen Sinn zu verstehen, heißt, sie in dem zu verstehen, was sie uns über uns selbst und unser Dasein in der Welt sagen« (16).
Im Anschluss an diese Grundsatzreflexionen zeichnet Andreas Rössler aus historischem Blickwinkel unter dem Titel »60 Jahre Bund für Freies Christentum« ausführlich »Entwicklungen und Perspektiven« (19–102) nach. In einem hilfreichen Anhang liefert er vierzehn Tabellen, denen etwa nicht nur die jeweiligen Präsidenten des Bundes, sondern auch die Jahrestagungen mit ihren jeweiligen Themen oder die einzelnen Titel der Schriftenreihe »Freies Chris­tentum« zu entnehmen sind. So waren die Autoren der Hefte 39 und 41 Kurt Leese und Paul Tillich. Beiden wurde innerhalb des Bundes besondere Wertschätzung zuteil. Anton Knuth setzt sich mit den seit 1909 befreundeten, in der Sache oft konträr ausgerichteten Theologen auseinander: »Universale Offenbarung Gottes und partikulare Besonderheit des Christentums. Der Beitrag K. Leeses und P. Tillichs für ein liberales Christentumsverständnis im 21. Jahrhundert« (103–126).
Knuth, der bereits im Jahr 2005 in seiner ausgewogenen und konstruktiven Dissertation zum Thema »Der Protestantismus als moderne Religion« eine »Historisch-systematische Rekonstruktion der religionsphilosophischen Theologie K. Leeses« vorgelegt hatte, zeigt am theologisch zentralen Offenbarungsverständnis nicht nur die Relevanz Leeses und Tillichs für eine liberale Theologie auf, sondern es gelingt ihm auch, wie in einem Brennglas Grundprobleme eines sich liberal nennenden Theologieverständnisses zu entfalten. Leese stritt für den »Spielraum der Individualitäten« (106), wie er auf dem Frankfurter Gründungskongress 1948 in seinem Festvortrag behauptete. Religion verstand er, so Knuth, als einen »gegenüber der rationalen Wissenschaft eigenständige[n] Be­reich, der einer eigenen religiösen Anlage im Menschen korrespondiert«. Immer finde sich der Mensch schon in der »Seinsgnade« (110) vor. Die Christologie Tillichs stufte Leese als eine unzulässige Einengung des Gottesverhältnisses ein. Für den Protestantismus könne allein das von Jesus »konkret gelebte Ethos der Agape normbildend« (122) sein. Knuth charakterisiert Leese schließlich als Re­präsentanten »eine[r] evangelische[n] Frömmigkeit ohne Kreuzestheologie« (123). Das Individuum müsse jeweils entscheiden, welchen »Gehalt«, welche »Wertigkeit« christologische Aussagen haben können. Ob sich die entsprechenden Einsichten dann universalisieren und auch religionstheologisch verwenden lassen, bleibt so­wohl bei Leese als auch bei Tillich offen.
Unter dem Motto »Der religiöse Liberalismus ist ein Sauerteig, dessen das Christentum nicht entbehren kann« geht Zager der Bedeutung A. Schweitzers für den freien Protestantismus (127–157) nach. Rössler stellt sich der Thematik ebenfalls: »›Wo das Evangelium ist, da ist Freiheit.‹ Die Bedeutung des Protestantismus heute – aus der Sicht A. Schweitzers« (159–177). Auch der sich anschließende Text Zagers, »Bildung – eine Aufgabe der Kirche? Überlegungen zum Bildungsverständnis in evangelischer Perspektive« (179–188), war zuvor bereits im »Deutschen Pfarrerblatt« erschienen. Von dort und aus den zeitzeichen von 2008 werden dann auch Zagers »Konkretionen liberaler Theologie« übernommen – mit ihren zwei Teilen: »Wer war Jesus wirklich? Die Menschlichkeit Jesu ernst nehmen« und »Trinitätslehre, ein zeitgebundener Ausdruck christlichen Glaubens« (189–196.197–198).
Auch wer den hier vorgestellten Konzepten mit (deutlich) kritischen Rückfragen begegnen möchte oder etwa aus strengem offenbarungstheologischem Blickwinkel mit ihnen überhaupt nicht einhergehen will, kann in den letztlich doch eher locker zusam­mengehaltenen Beiträgen eine ganze Reihe weiterführender Denkanstöße entdecken – und dies weniger mit Blick auf den engeren fachwissenschaftlichen Diskurs als vielmehr auf die möglichen Bedürfnisse einer breiteren theologisch debattierfreudigen (kirchlichen) Öffentlichkeit.