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Ausgabe:

März/2013

Spalte:

342–344

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Suermann, Thomas

Titel/Untertitel:

Albert Schweitzer als »homo politicus«. Eine biographische Studie zum politischen Denken und Handeln des Friedensnobelpreisträgers.

Verlag:

Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag 2012. X, 569 S. Geb. EUR 59,00. ISBN 978-3-8305-3031-2.

Rezensent:

Werner Zager

Thomas Suermann widmet sich in seiner bei Nils Ole Oermann geschriebenen und von der Fakultät Nachhaltigkeit der Universität Lüneburg 2011 angenommenen Dissertation der politischen Seite von Leben und Werk Albert Schweitzers (1875–1965). Damit nimmt sich S. einer bisher bestehenden Forschungslücke an, da in den meisten Biographien des Theologen, Philosophen, Musikers und Tropenarztes dieser Aspekt ausgeblendet wird – eine Ausnahme stellt die Schweitzer-Biographie seines Doktorvaters aus dem Jahr 2009 (3. Aufl. 2010) dar – und Studien aus den 1970er Jahren von Bernd Otto und Benedict Winnubst zu Schweitzers Friedenspolitik und Engagement gegen die Atomwaffen aufgrund der veränderten Quellenlage als überholt zu gelten haben. So konnte S. die zwischen 1995 und 2006 erschienene zehnbändige Ausgabe der »Werke aus dem Nachlaß« auswerten. Hatte der Herausgeber des »Theologischen und philosophischen Briefwechsels« Schweitzers mit der Edition die Hoffnung verbunden, neue Aspekte zur Biographie Schweitzers zu gewinnen, so kann er heute feststellen, dass dies erst S. mit der vorliegenden »politischen Biographie« (521) gelungen ist. Über die Quellen in gedruckter Form hinaus hat S. in den Schweitzer-Archiven in Gunsbach/Elsass und Frankfurt am Main, den Bundesarchiven Berlin und Koblenz sowie in der Berliner Zentralstelle für die Stasi-Unterlagen noch zahlreiche weitere Briefe von und an Albert Schweitzer für seine Arbeit herangezogen und ferner Gespräche mit Zeitzeugen, Biographen und Herausgebern der Nachlassausgabe geführt (14). Dabei wird als Problem herausgestellt, dass die meisten der von Schweitzer in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus verfassten Briefe nicht mehr existieren, weil diese von ihm selbst oder seiner Frau Helene wegen ihres politischen Inhalts verbrannt worden seien (13).
Als Ziel seiner biographischen Studie benennt S., dass in ihr gezeigt werden solle, »wie der Theologe und Kulturphilosoph Albert Schweitzer in einer historischen Konstellation die Politik auf ethische Überlegungen hin befragt hat, wie er also aus einer zeitgeschichtlichen Situation heraus Denkanstöße für politische Verantwortung formuliert hat und inwieweit sich also aus ihr Handlungsempfehlungen für nachhaltiges gesellschaftliches und politisches Handeln ableiten lassen« (14). Im Rahmen der Einführung (1–52) wird neben der Vorstellung der Literatur- und Quellenlage der Entwicklung des methodischen Ansatzes und der Fragestel­lungen ein besonderes Gewicht beigemessen, wobei sich S. auch grundsätzlich mit dem Problem einer Biographie auseinandersetzt. Eine Skizze der Lebensstationen Schweitzers leitet über zu den chronologisch geordneten Kapiteln.
In dem mit »Das Fundament seines politischen Denkens« überschriebenen Kapitel (53–110) werden Erfahrungen des jungen Albert Schweitzer beschrieben, die ihn in seinem späteren poli­-tischen Denken prägten: die elsässische Heimat als Konfliktherd zwischen Deutschland und Frankreich, das im Gymnasium ge­-weckte Interesse für antike Philosophie und Geschichtsschreibung, die durch Theobald Ziegler und Wilhelm Windelband angeregte Be­schäftigung mit ethischen und kulturphilosophischen Fragen während der Straßburger Studienzeit, Begegnung mit übersteigertem Nationalismus in Verbindung mit der Dreyfus-Affäre, die sorgenfreie Jugend als Motiv für humanitäres Wirken.
Trotz seiner Grundtendenz, zu politischen Angelegenheiten möglichst nicht öffentlich Stellung zu beziehen, ist Schweitzer immer wieder als »homo politicus« hervorgetreten, wie S. gezeigt hat: In seinen Straßburger Predigten rief Schweitzer zu Frieden und Völkerverständigung auf und verurteilte den Nationalismus der europäischen Staaten (119), so auch in besonderer Weise nach dem Ende des Ersten Weltkriegs (143 f.). Jedoch führten die Überwachung durch die französische Staatspolizei und die Vertreibung vieler Deutsch-Elsässer einschließlich seines Schwiegervaters Harry Bresslau zu einer Distanzierung Schweitzers gegenüber Frankreich (145). Durch die Verleihung des Frankfurter Goethepreises 1928 wurde Schweitzers »Ruf als moralische Leitfigur und Vorbild, als Philanthrop und humanitäres Gewissen gefestigt und damit die Grundlage für seine spätere globale Verehrung und sein politisches Wirken gelegt« (157 f.).
Im Schatten der Machtübernahme der Nationalsozialisten stand Schweitzers Rede anlässlich des 100. Todestages Goethes am 22. März 1932 im Frankfurter Opernhaus, in der er politisch-gesellschaftliche Kritik übte, ohne den Nationalsozialismus beim Na­men zu nennen (165–167). Während des Dritten Reiches bewegte Schweitzer zwar jüdische Bekannte zur Emigration, eine öffentliche Kritik am Nationalsozialismus aber unterblieb von Seiten des Leiters des Lambarene-Spitals (168.177 f.).
Das umfangreichste Kapitel seiner Arbeit hat S. der »Zeit des Kalten Krieges« (191–298) gewidmet und darin folgende Ergebnisse erzielt: Schweitzers USA-Besuch 1949 legte den Grundstein für seine »weltweite Popularität« (194 f.). Aufgrund der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1951 und des Friedensnobelpreises 1954 avancierte Schweitzer nicht nur zur »politischen Identifikations- und Integrationsfigur« (195), sondern auch zum »Kollektivalibi des Nachkriegsdeutschlands« (201). Als Friedensnobelpreisträger folgte Schweitzer der Bitte Albert Einsteins, »öffentlich gegen die atomare Bewaffnung und den Einsatz solcher Waffen zu protestieren« (206), und zwar in seiner Rolle als Arzt. Mit seinem Radioappell vom 23. April 1957 beabsichtigte Schweitzer, die öffentliche Meinung für die Abschaffung der Atomwaffen zu mobilisieren (219 f.). Weiterhin gelingt es S. zu zeigen, inwiefern Schweitzer in puncto Abrüstungsverhandlungen der Großmächte, Kubakrise und Berlinfrage »im Zentrum der Weltpolitik« (240–268) agierte. Zugleich wird von S. erstmals eingehend aufgearbeitet, wie sich der Friedensnobelpreisträger vom Regime der DDR – speziell von Gerald Götting – für dessen Interessen vereinnahmen ließ (269–298).
Die beiden folgenden Kapitel sind systematischer Natur. Hier behandelt S. zum einen Schweitzers »Verhältnis zur europäischen Kolonialpolitik« (299–351), wobei er sich mit dessen Sicht der Dekolonisierung des Kongo und entwicklungspolitischem Konzept auseinandersetzt und die Beurteilung von Schweitzers Wirken in Afrika darstellt, und zum anderen führt er aus, in welcher Weise Schweitzers Kulturphilosophie als »Grundlage für politisch-gesellschaftliches Handeln« fungieren kann (353–482). Im Schlusskapitel entfaltet S. Schweitzers (gegenwärtige) politische Bedeutung (483–525). S. zufolge besteht diese darin, dass »Schweitzer Politik ethisch verantwortet«, womit er ihr zur Aufgabe macht, »in Ausgestaltung des Prinzips der Ehrfurcht vor dem Leben Menschen […] ein ›gutes‹ Leben und damit ein Leben zu ermöglichen, in dem sich der Mensch als Mensch entfalten kann, sich dabei als Teil alles Lebendigen begreift und für alles Leben Verantwortung übernimmt« (525).
S. hat eine detaillierte und perspektivenreiche biographische Studie zum politischen Denken und Handeln Albert Schweitzers vorgelegt, die als ein wichtiger Forschungsbeitrag zu gelten hat. Eine gründliche Durchsicht des Manuskripts hätte jedoch helfen können, eine Reihe von kleineren Versehen und unnötigen Redundanzen zu vermeiden. Ein Quellen- und Literaturverzeichnis (527–563) sowie ein Personenregister (565–569) runden den Band ab.