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Ausgabe:

März/2013

Spalte:

340–342

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Sparn, Walter

Titel/Untertitel:

Frömmigkeit, Bildung, Kultur. Theologische Aufsätze I: Lutherische Orthodoxie und christliche Aufklärung in der Frühen Neuzeit.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2012. 365 S. = Marburger Theologische Studien, 103. Kart. EUR 34,00. ISBN 978-3-374-02658-6.

Rezensent:

Harald Seubert

In diesem Band liegen 13 prägnante Aufsätze des emeritierten Er­langer Systematischen Theologen Walter Sparn, die bislang an verstreuten bzw. entlegenen Orten publiziert wurden, ge­sammelt vor. S. ist durch seine frühere Tätigkeit an der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel in der Erforschung der frühen Neuzeit hervorragend ausgewiesen. Die einzelnen Beiträge gruppieren sich locker und zugleich problematisierend um die Fortbildung und Differenzierung der »lutherisch« genannten nachreformatorischen Theologie in der Epoche zwischen dem 16. und dem 18. Jh. Im Einzelnen bewegen sie sich in dem Spannungsfeld zwischen systematischer und historischer Fragestellung. Sie sind zugleich ein ge­glücktes Zwischenresümee der expandierenden Erforschung der Barockzeit und des 18. Jh.s in den letzten drei Jahrzehnten.
Die von Melanchthon inaugurierte Verbindung zwischen Wissenschaft und Frömmigkeit ist für S. ein wesentlicher Orientierungspunkt. Er sieht Melanchthons wesentliches Verdienst darin, die Option eines Auseinandertretens von Offenbarungswahrheit und philosophischer Wahrheit im Sinne der duplex veritas von Offenbarung und Vernunft verhindert zu haben. An Melanchthon konnte deshalb eine »humanistische Theologie« anschließen, deren Nachwirkungen S. bis zu Semler und Lessing verfolgt. Er widmet von hier aus eine groß angelegte Studie der Rekonstruktion der Anthropologie, die den lutherischen Bekenntnissen zugrunde liegt, wobei er vor allem das Verhältnis der rechtfertigungstheologischen zur schöpfungstheologischen und pädagogischen Anthropologie, schon im Blick auf die Genese der Bekenntnisschriften, freilegt. – In einer weiteren Abhandlung wird der Frömmigkeitskrise der Epoche in differenzierter Abkehr von dem Topos eines »Zeitalters des Konfessionalismus« nachgegangen. S. zeigt, wie diese Krise ins Zentrum des Denkens von Autoren wie Hunnius oder Meisner reflektiert wird.
Besonders gewichtet wird das moralphilosophische und -theologische Feld: Der »Politica« des Calvinistischen Juristen Johannes Althusius (1603) widmet S. ebenso einen Aufsatz wie den Geselligkeitskonzeptionen der Frühen Neuzeit und ihrer doppelten – na­turrechtlichen und offenbarungstheologischen – Legitimierung. Die alteuropäische aristotelische und auf Cicero zurückgehende Prägung Praktischer Philosophie verbindet sich mit heilsgeschichtlichen Horizonten. Kontroverstheologisch aufschlussreich ist die in das weitere Umfeld der Molinismus-Debatte gehörende Lehre von der scientia media des spanischen Jesuiten Roderigo de Ar­riagas, die ebendiesen Zwischenbereich zwischen göttlicher Gna­de und subjektiver Selbstbestimmung auszumessen sucht. An solchen innovativen Fragestellungen ist der Band reich: So liest S. die Auseinandersetzung der protestantischen Orthodoxie mit Spinoza und vor allem die verschiedenen Begründungen des Atheismusvorwurfs als Indiz für die Krise des orthodoxen Luthertums, das jedoch nicht unterschätzt werden sollte, was ein durchgehendes Plädoyer dieser Aufsätze ist.
Man findet ausgesprochene Trouvaillen neben der überraschenden Beleuchtung bekannter Gegenstände: in die erste Gruppe gehört die brillante Studie über den »Hercules Christianus« und das Verhältnis von Mythenbildung und Theologie in der Frühen Neuzeit. Dabei geht es auch um das Verhältnis des Mensch gewordenen Gottes zu den mythischen Evokationen des Gottmenschen. In den zweiten Horizont gehören die beiden Studien über Leibniz. Die erstere behandelt das Verhältnis des Theologen zum Philosophen; eine Spannung, die S. deshalb interessiert, weil sie zwischen der Skylla eines Rückzugs in den Positivismus und der Charybdis einer spekulativen Überformung des Kerygmas, wie er sie bei Hegel finden will, die Mitte findet. Philosophie und Theologie betreibe Leibniz gleichermaßen »in der Welt des Christentums«. S. macht darauf aufmerksam, »dass auch Leibniz in seinem konsequent konditionalen Kalkül die Wahl der wirklichen, bestmöglichen Welt in Jesus Christus begründet sieht« (185), weil in ihm göttliche und menschliche Freiheit koexis­tierten. Eine weitere Studie gilt dem Zusammenhang von Theodizeefrage und Leibniz’ kirchenreformerischen Bemühungen, die für S. die Abkehr vom konfessionalistischen Zeitalter bezeichnen.
Eine Spezialstudie ist dem antichiliastischen Apokalypse-Kommentar von Caspar Heunisch aus dem Jahr 1684 gewidmet. Auch hier wird wieder eine mittlere Position rehabilitiert. Die Erinnerung an jenen Versuch, »die orthodox-lutherische Apokalyptik in einer Zeit des Verblassens der Naherwartung des Weltendes einer länger dauernden Zukunft einzuschreiben, ohne doch in Chiliasmus zu geraten« (315), steht eindrucksvoll für eine archäologische Wie­derauffindung von wirkungsgeschichtlich überformten Zu­sam­men­hängen.
Eine differenzierte Auseinandersetzung gilt schließlich Ernst Troeltschs Bild von Protestantismus und Luthertum. Es geht dabei nicht nur um eine Konfrontation der Troeltschschen Auffassung mit der neueren Forschung, sondern auch darum, die relative Berechtigung von Troeltschs These von der protestantischen Spannung zwischen »spiritualistischem Individualismus« und »Kirchlichkeit« ihrerseits zu problematisieren. Er rührt damit auch an die Fragen des Selbstverständnisses jenes Neuprotestantismus und seiner aktuellen Erneuerung.
Ein solcher Aufsatzband ersetzt keine Monographie. Er kann freilich mitunter feiner ziselieren und problematisieren, als es die monographische Darstellung vermag, und er gibt solchen Darstellungen ihrerseits die Standards vor. Die Position des Autors droht in der gelehrten Forschung zu verschwinden. Deutlich ist freilich: S. lehnt alle »essentialistischen« Konzeptionen ab. So wendet er sich insbesondere gegen Werner Elerts Anspruch einer »Morphologie des Luthertums«. Die Kritik der großen Thesen des vergangenen Jh.s lässt aber, wo sie so souverän geführt wird, keinesfalls nur Einzelbeobachtungen zu, und es bleibt weit mehr als »archivalische« Historie. S.s Konzeption vermag den Blick vielmehr zu befreien und führt zu einer differenzierten Wahrnehmung der Einzelheiten und damit auch der »Zwischenwelten« von Theologie- und Philosophiegeschichte. Dies hat gewiss auch Folgen für die Systematische Theologie. Man wünscht sich nach der Lektüre dieses Bandes, dass S. diese Fundierung bald folgen lassen wird.
Sprachlich sind die Aufsätze differenziert, zumeist aber bei aller Komplexität der Thematik elegant und flüssig geschrieben. Sie versagen sich wohlfeiler Aktualisierung, gehen souverän mit Alteritäten um und führen dadurch aus Scheinalternativen gegenwärtiger Diskurse heraus. Teilweise verwickeln sie sich allzu sehr in Differenzierungen und Details. Doch sie richten sich keineswegs nur an spezialistische Interessen.
Der Band gewinnt dadurch weiter an Profil, dass S. in knappen, aber konzisen Nachbemerkungen zu den einzelnen Beiträgen auf den Fortgang der nicht selten durch seine Arbeiten mit inspirierten Forschung hinweist und damit zugleich den Horizont weiterer Forschungen eröffnet. Ebenso ist dem Band eine umfassende Bib­liographie von S.s Publikationen beigegeben. Bedauern aber wird man, dass der Band kein Register enthält und in der Redaktion zu viele Druckfehler stehen geblieben sind.