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Ausgabe:

März/2013

Spalte:

326–328

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Zilling, Henrike Maria

Titel/Untertitel:

Jesus als Held. Odysseus und Herakles als Vorbilder christlicher Heldentypologie.

Verlag:

Paderborn u. a.: Schöningh 2011. 269 S. u. 21 Abb. im Anhang. Geb. EUR 39,90. ISBN 978-3-506-77236-7.

Rezensent:

Klaus-Michael Bull

Das Spannungsfeld zwischen antiken Heroenmythen, speziell dem Mythenkranz um Herakles, und neutestamentlichen Erzählungen von Jesus Christus rückt nur gelegentlich in den Fokus des exegetischen Interesses – häufig einseitig unter dem Aspekt der Frage nach literarischen und/oder traditionsgeschichtlichen Abhängigkeiten. Mögliche komplexere Rezeptionsprozesse hingegen scheinen meist ausgeblendet.
Die hier vorzustellende Arbeit der Historikerin Henrike Maria Zilling – die überarbeitete und gekürzte Fassung ihrer Berliner Habilitationsschrift – geht bewusst andere Wege. Das wird an der im Vorwort (7) formulierten Zielstellung deutlich: »Aus den Grundmotiven Passion und Martyrium auf der einen, Heldentum und Apotheose auf der anderen Seite entwickelt sich die Frage, inwiefern Herakles und Odysseus Vor-Bilder waren für den Aufstieg des Gekreuzigten zum Heiland. Im Mittelpunkt steht dabei die Verdeutlichung der Transformationsvorgänge zwischen einer antiken Heroentradition und dem Christentum in einem kulturgeschichtlichen Kontext.« (Hervorhebung original)
Die Vfn. nähert sich ihrem Ziel nach der Einleitung im (Methoden-)Kapitel »Vorbedingungen des Christentums«, in dem sie zunächst sehr allgemein Judentum und Hellenismus als »Standbeine« des Frühchristentums identifiziert (17). Dieses versteht die Vfn. als »Vermittlungskultur« (25). Schließlich kommt sie auf der Basis von Typologien von Helden und Heiligen zu der Auffassung: Letztere »zeigen« in der »Eigenschaft, ganz außergewöhnliche, vorbildliche Menschen zu sein, die leidend gestorben und nun ganz nah beim Gottessohn sind« »eine Verwandtschaft zu den Heroen« (35). »So tritt nun an die Stelle des Heros der Heilige; er füllt gewissermaßen eine Leerstelle aus, welche die verdrängten Heroen in der Spätantike hinterlassen hatten.« (Ebd.) Das ist aber offenbar nicht im Sinne einer historischen Abfolge misszuverstehen, sondern vielmehr gelte: »Die Parallelität zwischen Christianisierung und Hellenisierung zeigt sich in der Übertragung der Kriterien des Heros auf den Heiligen und umgekehrt in der Anwendung der Heiligenkriterien auf den Heros. Daraus ergibt sich ein vielschichtiger Herosbegriff und eine erweiterte Sicht auf den Heiligen.« (38)
In diesen theoretischen Rahmen zeichnet die Vfn. im 2. Kapitel (»Jesus als Held und Odysseus als Märtyrer«) die Passions- und Auferstehungsgeschichten der Evangelien ein, wobei der Rahmen bis hin zu apokryphen Traditionen und den frühen Apologeten (Justin) weit gefasst ist. Die ausführlichen Analysen gipfeln in der These (46 u. ö.), dass »mit dem ›Wort vom Kreuz‹ eine Heldengeschichte (beginnt). Der Gekreuzigte besiegt den Tod durch die Auferstehung und wird zum Retter der Menschheit. Mit dieser Botschaft beginnt die Erfolgsgeschichte des Christentums. Anders gewendet, die Umwidmung der mors turpissima crucis in ein Tropaion, ein Siegeszeichen, schafft erst das Bild des heroischen und mächtigen Gottessohnes.«
Bei den Kirchenvätern (Justin, Gregor von Nyssa u. a.) dient der Mastbaum eines Schiffes mit der quergestellten Rahe als Bild für das Kreuz als orientierendes Siegeszeichen des Kirchenschiffes. In diesem Kontext kann das Sirenenabenteuer des Odysseus (Od. 12) rezipiert werden. Der von den Gefährten an den Mast gefesselte Held wird zum Typos des Gekreuzigten, zugleich aber auch zum Vorbild der Gläubigen, da er den Verlockungen der Sirenen erfolgreich widersteht. Die Episode wird im Kontext von Predigten über Lockungen und Gefahren der Sünde aufgegriffen, vor allem aber als Topos im antihäretischen Kampf verwendet (Clemens Alexandrinus protr. 12,118,1–4; Hippolyt ref. 7,13,1 ff. u. ö.).
»Allen kann das Bild des an den Mast gefesselten Odysseus zur Stärkung dienen, war doch der Mythos gemeinsames kulturelles Wissen. Das zeigt sich darin, dass die Kirchenväter positiv auf das Bild und die Geschichte von Odysseus am Mastbaum zurückgreifen konnten, ohne dabei Gefahr zu laufen, diesen in ein Konkurrenzverhältnis zu Christus zu stellen, weil dieser Mann zwar alles Wissenswerte über das Schicksal der Menschen herausgefunden und erlitten hatte, aber dabei nie in die Sphäre der Unsterblichen gehoben worden war.« (101)
Das sah bei Herakles (3. Kapitel: »Herakles und Christus«) ganz anders aus. Dieser Heros stellte eine echte Konkurrenz zu Christus dar. Von einigen Autoren wurde er bewusst gegen den Erlöser der Christen in Stellung gebracht (Julian Apostata).
»Die Gestalt des Zeussohnes Herakles ist in der antiken Vorstellungswelt allgegenwärtig. […] Das tragische Ende des dem Wahnsinn verfallenen Kämpfers in­spirierte die großen Dichter und die Apotheose des schließlich geläuterten Sohnes einer Sterblichen und eines Gottes ließ ihn zum Schutzherrn und Vorbild der römischen Kaiser aufsteigen, die in der Himmelfahrt des griechischen Helden ihre Hoffnung auf einen Platz unter den Göttern verwirklicht sahen.« (119)
Damit ist die Vielfalt der in der antiken Literatur von diesem Heros erzählten Mythen und seine mannigfaltige kultische Verehrung, die ihn mit manchen lokalen Gottheiten (z. B. Sandan in Tarsos) verschmelzen ließ, in den Blick genommen (119–135.142–148). Im philosophischen Diskurs (136–142) spielt er eine wichtige Rolle als Tugendheld, als welcher er erstmals in der berühmten, auf den Sophisten Prodikos zurückgehenden Fabel von »Herakles am Scheideweg« (Xen. mem. 2,1,21–34) erscheint. Bei Seneca (Hercules furens) kann er schließlich zum Träger der virtus schlechthin werden.
»Herakles und Christus, der griechische Heros und der gekreuzigte Gott, zeigen dem Betrachter auffällige biographische Schnittpunkte. Beide sind Göttersöhne und werden von sterblichen Müttern geboren; beide vollbringen in den Augen der Nachwelt verehrungswürdige, außergewöhnliche Taten und Wunder, beide sterben einen grausamen Tod und beide fahren in den Himmel auf, in das Reich ihrer göttlichen Väter.« (153)
Dieser Spur geht die Vfn. nach und entdeckt eine Reihe von parallelen Topoi in den Geburtsgeschichten (Gott als Vater, jungfräu­liche bzw. vorbildlich tugendhafte Mutter, verwirrter und eifersüchtiger Ehemann), zu Beginn der Wirksamkeit (Herakles am Scheideweg, Jesu Versuchung in der Wüste, beide als unstete Wanderer) und im Sterben. Hier findet sie Parallelen insbesondere zwischen der Darstellung im Hercules Oetaeus (Pseudo-)Senecas, wo der Heros am Ende (1989f.) »regelrecht wie ein Heiliger angerufen (wird)« (182), und den Passionsgeschichten der Evangelien. Bei allen Topos-Parallelen sieht die Vfn. aber auch die grundlegenden Differenzen: Herakles wird in seinem Flammentod individuell erlöst und wirkt über seinen Tod hinaus als Schutzpatron. Jesus Christus hingegen leidet am Kreuz für die Sünden der Menschen als universelle Voraussetzung des Heils (161).
Bei den Kirchenvätern wird Herakles Ziel polemischer Attacken. Schon Justin sah die Parallelen in den Erzählungen und deutete sie als Werk von Dämonen (dial. 67,2 f.69,2 ff.). Spätere bedienen sich vor allem der sexuellen Eskapaden des Heros, um ihn zu diskreditieren.
»In der Auseinandersetzung mit Nichtchristen erfüllt Herakles die Funktion, die heidnische Religion, den Glauben der anderen herabzusetzen. In der Kommunikation mit den eigenen Glaubensgenossen geht es darum, den alten Götterglauben der Konvertierten in Verneinung und Ablehnung umzuwidmen, mehr noch die einstigen Idole ein für allemal zu zerstören.« (194)
Die Fabel von Herakles am Scheideweg hingegen sei laut der Vfn. im Frühchristentum breit adaptiert worden, allerdings meist in von Herakles abstrahierter Form. Erstaunlicherweise fehlt in ihrer Untersuchung die einschlägige Stelle bei Justin (apol. min. 11,1–6). Die Vfn. verweist allein auf das Zwei-Wege-Schema in der Didache und im Hirten des Hermas. Sie sieht zwar, dass es sich dabei um einen traditionellen jüdischen Topos handelt, meint aber, kaiserzeitliche Leser hätten geradezu notwendig die Fabel des Prodikos als »philosophisch-mythologischen Subtext« (220) mitgelesen bzw. -gehört.
Ein knappes Fazit, Quellen- und Literaturverzeichnis sowie hilfreiche Indizes schließen den Band ab, dem im Anhang ein in­struktiver Bildteil beigefügt ist.
Das unbestreitbare Verdienst der Arbeit besteht in dem schon eingangs erwähnten Versuch, die neutestamentlichen Jesus-Chris­tus-Erzählungen und ihre frühchristliche Rezeption in den Kontext einer hellenistischen Kulturgeschichte, speziell: Heroengeschichte, einzuschreiben. Hier werden zukünftige Arbeiten an­knüpfen müssen. Die größte Schwäche teilt die Untersuchung mit anderen zu diesem Thema: Beim Vergleich von Topoi werden literarische Zeugnisse ganz unterschiedlicher Provenienz und Zeitstellung zu einem Mythos bzw. einer Jesus-Christus-Er­zählung zusammengefasst. Dabei gerät aus dem Blick, dass nie alle Topoi gemeinsam auftreten, letztlich also die Gefahr besteht, Konstrukte zu vergleichen.
Bei aller Kritik im Detail muss betont werden, dass die Vfn. eine Untersuchung vorgelegt hat, die im besten Sinne Anstoß erregen kann. Es bleibt zu wünschen, dass dieser Anstoß in der exegetischen Forschung aufgenommen wird.