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Ausgabe:

März/2013

Spalte:

323–325

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Nestle-Aland

Titel/Untertitel:

Novum Testamentum Graece. Begründet von E. u. E. Nestle. Hrsg. von B. u. K. Aland, J. Karavidopoulos, C. M. Martini, B. M. Metzger. 28., rev. Aufl. Hrsg. v. Institut für Neu­-testamentliche Textforschung Münster/Westf. unter Leitung v. H. Strutwolf.

Verlag:

Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 2012. 94* S., 890 S. Geb. EUR 28,00. ISBN 978-3-438-05140-0.

Rezensent:

Karl-Wilhelm Niebuhr

Die weltweit konkurrenzlos verbreitete wissenschaftliche Handausgabe des griechischen Neuen Testaments tritt mit ihrer 28. Auflage in einen neuen Lebensabschnitt. Die erste von Eberhard Nestle nach dem Mehrheitsprinzip aus den seinerzeit führenden kritischen Editionen erstellte Ausgabe erschien 1898 (eine Jubiläumsausgabe 1998, vgl. dazu T. Holtz, ThLZ 124 [1999], 1131 f.). Anhand des systematischen Vergleichs der Handschriften wurde der griechische Text erstmals in der 26. Auflage unter Kurt Aland im Jahr 1979 neu gestaltet. Die 27. Auflage 1993, die in zahlreichen Neudrucken seither immer wieder durchgesehen wurde, bot bei unverändertem Text eine durchgehende Neubearbeitung des kritischen Apparats. Ob die Lebensgefährtin des Neutestamentlers in ihrem 115. Lebensjahr nunmehr erwachsen geworden ist oder in ihre besten Jahre kommt, ihren zweiten Frühling erlebt oder schon von Altersweisheit gezeichnet ist; ein unbeschriebenes Blatt ist sie jedenfalls nicht mehr, und wer sie sich zu eigen macht, will wissen, was er noch Neues von ihr erwarten darf, auf welche liebgewordenen Eigenheiten er weiter bauen kann und ob sich vielleicht schon ein paar Altersspuren zeigen. Jedenfalls erweist sie sich als quicklebendig, und nichts deutet darauf hin, dass sie in absehbarer Zeit von der Bühne der neutestamentlichen Exegese abzutreten ge­denkt.
Neu ist der Text der Ausgabe, allerdings nur in einem gemessen am Gesamtumfang eher bescheidenen Rahmen, nämlich bei den Katholischen Briefen. Während ansonsten der Text der 27. Auflage (nach dem letzten Neudruck) unverändert blieb, wurde für die KathBr die zwischen 1997 und 2005 in vier Lieferungen erschienene Editio Critica Maior zugrunde gelegt (vgl. zu ihr D. C. Parker, ThLZ 127 [2002], 297–300; J. K. Elliott, ThLZ 129 [2004], 1068–1071). Allerdings: Achtung! Maßgeblich für NA28 ist die 2. revidierte Auflage der ECM, auf die S. 3*, Anm. 1, verweist, die allerdings bei Abfassung dieser Besprechung noch nicht vorlag (Dezember 2012; der Verlag vertreibt bei Online-Bestellungen nach wie vor ohne jeglichen Hinweis auf die zu erwartende Neuauflage die Lieferungen der 1. Auflage – ein nicht gerade kundenfreundlicher Zug!). Für diese Neuauflage der ECM soll nun an immerhin zwölf Stellen der Text gegenüber ECM1 erneut geändert worden sein. Die Einführung zu NA28 bietet zwar auf S. 6* eine Liste der Änderungen im Text von ECM2 = NA28 gegenüber NA27, nicht aber eine Aufstellung der Änderungen von ECM2 gegenüber ECM1 (dankenswerterweise hat der Direktor des Münsteraner Instituts dem Rezensenten auf Nachfrage den Hinweis gegeben, dass eine solche Liste unter http:// intf.uni-muenster.de/NA28/de.html abrufbar ist). Darüber hinaus sollen an weiteren Stellen, »an denen die Herausgeber die Entscheidung offen lassen mussten« (7*), in ECM2 in der Leitzeile zwei gleichwertige Varianten als anzunehmender Ausgangstext der handschriftlichen Überlieferung geboten werden. Diese 43 Stellen sind in NA28 mit einem Rhombus markiert (allerdings nirgendwo in einer Liste zusammengestellt). Solche Veränderungen und die mit ihnen verbundenen textkritischen Implikationen sind nun bei der Gestaltung einer »großen« kritischen Textausgabe keine Kleinigkeiten. Dass man davon so eben mal nebenbei in der Einführung zur Handausgabe erfährt, während die Neuauflage der ECM noch nicht einmal erschienen ist, irritiert ein wenig.
Neu ist auch der kritische Apparat. Aber wiederum muss man hier zwischen den Katholischen Briefen und dem Rest des Neuen Testaments unterscheiden. Während bei den KathBr (natürlich) die textkritische Arbeit, die zur ECM geführt hat, in den Apparat von NA28 eingearbeitet wurde, soweit das in einer Handausgabe möglich ist, bleibt der Apparat bei den übrigen Teilen hinsichtlich seiner handschriftlichen Basis und der Kriterien der Variantenauswahl unverändert. Dementsprechend wurde auch nur bei den KathBr das (erst mit der 26. Aufl. anstelle des früheren [K] für »Koinetext« eingeführte) Siglum [M] für »Mehrheitstext« wieder aufgegeben und in der Regel durch das Kürzel Byz ersetzt (gelegentlich noch gespalten in Byzpt; welche Handschriften damit im Einzelnen gemeint sind, kann wiederum erst in ECM2 nachgelesen werden, vgl. 8*, Anm. 2), während ansonsten weiter [M] verwendet wird.
Ebenfalls nur in den KathBr entfallen die einfachen eckigen Klammern im Text, die in NA27 besonders schwer zu entscheidende Variantenlagen signalisierten. Bei solchen Unsicherheiten wird in den KathBr jetzt der Rhombus gesetzt, während es im übrigen Neuen Testament bei den eckigen Klammern bleibt. Allerdings steht der Rhombus in NA28 keineswegs immer dort, wo in NA27 eckige Klammern standen (vgl. Jak 5,14; 1Petr 1,12.16; 2,5; 3,1.22; 4,17; 5,5.8.9.10; 2Petr 2,6.20; 3,3.11.18; 1Joh 3,13.19.21; 5,1.5; Jud 5). Das bedeutet, dass die Herausgeber an zahlreichen Stellen inzwischen in ihren Entscheidungen zuversichtlicher geworden sind. Andererseits gibt es auch den Fall, dass an einer Stelle, wo NA27 keinen Anlass zur Anführung irgendwelcher Varianten sah, nunmehr in NA28 ein Rhombus gesetzt wird, weil sich die Herausgeber aufgrund des handschriftlichen Materials in ECM2 nicht mehr für eine Lesart als Ausgangstext entscheiden wollen (Jak 2,11 μοιχεύ­εις, φονεύεις). Bei der extrem aufgesplitterten Textüberlieferung zu Jud 5, wo NA27 noch für zwei Untervarianten eckige Klammern setzte, entscheiden sich die Herausgeber jetzt mit ECM ohne Rhombus für eine lediglich in einer einzigen Handschrift (B) belegte Lesart. Rhombus und eckige Klammern korrespondieren also keineswegs miteinander, und das Ganze zeigt nur, wie wenig gesichert der NT-Text im Einzelnen auch nach Erscheinen der ECM sein kann!
Ganz aufgegeben – und dies betrifft nun nicht allein die KathBr– wurde in NA28 die erst mit NA26 (bzw. in dieser Terminologie erst mit NA27) eingeführte Unterscheidung zwischen ständigen Zeugen erster und zweiter Ordnung. Diesen Verlust werden wenige bedauern (am wenigsten die Studierenden in den NT-Proseminaren). Denn bei Stellen mit ›positivem Apparat‹ (= pro et contra-Be­zeugung) werden jetzt immer die Lesarten sämtlicher ständiger Zeugen der betreffenden Schrift nachgewiesen. Auch hinter dieser scheinbaren Vereinfachung verbirgt sich letztlich eine immense Forschungsarbeit im Münsteraner Institut, denn die Aufzählungen der ständigen Zeugen zu den einzelnen Schriftengruppen (18*–23*) zeigen im Vergleich mit den entsprechenden Passagen in NA27, dass nicht nur zahlreiche Handschriften neu hinzugekommen sind (vor allem Papyri, deren Liste nun bis zu Nr. 127 reicht), sondern auch sonst für jede einzelne Handschrift jeder Schriftengruppe Entscheidungen zu treffen waren, die die textkritischen Analysen der vergangenen Jahrzehnte berücksichtigen.
Darüber hinaus wurde der Apparat durchgehend mit dem Ziel der Präzisierung und Verdeutlichung überarbeitet. Varianten der ständigen Zeugen werden nun jeweils komplett im Wortlaut geboten, nicht lediglich als eingeklammerte Untervarianten. Pauschale Hinweise wie pauci oder alii wurden gestrichen. Auf die Verknüpfung von Notierungen der Bezeugung durch et oder sed wird verzichtet. Stattdessen wird gegebenenfalls mit cf auf Zusammenhänge zwischen Varianten verwiesen. Die Nachweise zu den in­scriptiones und subscriptiones wurden stark gekürzt bzw. ganz weg­gelassen. Gefallen sind neben den – vor allem der Pietät ge­schul­deten und entsprechend mit dem Symbol † gekennzeichneten – Verweisen auf Textänderungen gegenüber früheren Auflagen auch alle Hinweise auf Konjekturen. Letzteres kann man bedauern, denn nicht selten boten sie (gerade auch in einführenden Lehrveranstaltungen) Anregungen zur Diskussion der Zusammenhänge zwischen Textkritik und Exegese.
Neu ist schließlich auch der Seitenumbruch, hervorgerufen zum einen durch die Neugestaltung des Apparats, aber auch durch den gegenüber NA27 nochmals »verfeinerten« griechischen Zeichensatz, der zu einem deutlich schärferen Schriftbild führt. Der Textteil ist so um gut 100 Seiten gewachsen, der Band insgesamt aber kaum stärker geworden. Durchgesehen und zum Teil neu gestaltet wurden auch die Randangaben (Verweisstellen am äußeren Rand sind nun untergliedert nach halbfett gesetzten Abschnittparallelen und Einzelparallelen) sowie die Notierungen der Übersetzungen und Kirchenväterbelege. Aus den Appendizes wurden die Editionum differentiae gestrichen.
In der Arbeit am Apparat steckt zweifellos die Hauptlast der Erstellung der neuen Ausgabe des Nestle-Aland. Sie führt zu deutlich erhöhter Übersichtlichkeit und Brauchbarkeit und macht den Umstieg auf NA28 in Lehre und Studium unerlässlich. Für alle zeitraubenden und durchweg überaus sorgfältig ausgeführten Arbeiten verdienen die an der Ausgabe beteiligten Mitarbeiter des Instituts für neutestamentliche Textforschung in Münster und dessen Leiter Holger Strutwolf höchste Anerkennung und grenzenlosen Dank. Das größte Manko der Neuausgabe, das der Leiter des Münsteraner Instituts in seinem Vorwort selbst benennt, ist ihre »relative Uneinheitlichkeit«. Wir werden auf Dauer mit einer Handausgabe leben müssen, deren Text ebenso wie der textkritische Gehalt des Apparats sich je nach Schrift bzw. Schriftengruppe grundlegend unterscheiden. Dieses Manko ist freilich unvermeidlich, da der Fortgang der Editio Critica Maior nicht abzusehen ist und ihr Abschluss vermutlich die Lebensspanne der meisten heutigen Rezensenten überschreiten wird.
Erwähnt wird in der Einführung auch – wie schon seit Langem– der »digita-le Nestle-Aland«. Angekündigt ist er nun für 2013 (http: //www.nestle- aland.com/en/extra-navigation/digital-editions/). Gern wüsste man nicht nur, wann wirklich, sondern auch, zu welchen Konditionen er zu erwerben sein wird, etwa mit Blick auf den Kauf der Druckausgabe. Dass die elektronische Ausgabe »von nun an nicht nur als gedrucktes Buch erscheint, sondern zugleich in digitaler Form« (3*), setzt jedenfalls – ähnlich wie schon der Hinweis auf die 2. Auflage der ECM – ein flexibles Zeitverständnis voraus. Aber was bedeutet das schon angesichts einer 115-Jährigen, die man schätzen gelernt hat und von der man auch in Zukunft nicht lassen kann?