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Ausgabe:

März/2013

Spalte:

320–323

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Navarro Puerto, Mercedes, u. Marinella Perroni [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Neues Testament – Evangelien. Erzählungen und Geschichte. Deutsche Ausgabe hrsg. v. I. Fischer u. A. Taschl-Erber.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2011. 501 S. m. Abb. u. Tab. = Die Bibel und die Frauen, 2.1. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-17-021544-3.

Rezensent:

Christfried Böttrich

Das Buch eröffnet nach dem Pilotband »Hebräische Bibel – Altes Testament: Tora. = Die Bibel und die Frauen 1.1, Stuttgart 2010« (vgl. ThLZ 136 [2011], 141–142) den neutestamentlichen Teil dieser großen, auf insgesamt 22 Bände angelegten enzyklopädischen Reihe. Durch die Auswahl der Autorinnen und Autoren aus verschiedenen europäischen Sprachräumen, Konfessionen und Forschungskontexten wird die Vernetzung der theologischen Genderforschung erneut sichtbar gemacht. Im Falle dieses Bandes liegt ein Schwerpunkt auf der spa­-nischen und italienischen Wissenschaftstradition. Einmal mehr er­weist sich auch die Übersetzung der Beiträge in die vier Sprachen Englisch, Deutsch, Italienisch und Spanisch als Unternehmen, das eine Vermittlungsleistung im besten Sinne darstellt.
Der neutestamentliche Teil der Reihe ist auf zwei Bände konzipiert. In Band 1 werden dabei zunächst die vier Evangelien behandelt; ihnen sind auch die Apostelgeschichte als Teil des lukanischen Doppelwerkes sowie die Johannesbriefe und die Offenbarung als Teil des Corpus Johanneum zugeordnet. Band 2 wird sich dann vor allem der Briefliteratur widmen.
Nach einer Einleitung der beiden Herausgeberinnen bietet das erste Kapitel zwei Beiträge, die mit der Eröffnung methodolo­-gischer Perspektiven gleichsam ein Vorzeichen vor die folgenden Beiträge dieses Bandes setzen. Carolyn Osiek referiert und evaluiert das Spektrum jener biblischen »Hilfswissenschaften«, die für die feministische Fragestellung von Belang sind. Das betrifft vor allem die sozialgeschichtliche Forschung und speziell die Epigraphik. Als methodologische Prämissen gelten die grundsätzliche Vergleichbarkeit von Lebensverhältnissen im mediterranen Kulturraum sowie die Wahrnehmung der patriarchalen Gesellschaftsstruktur. Dennoch gilt es, die komparative Methodik mit Vorsicht und stets unter Berücksichtigung lokaler Besonderheiten anzuwenden. Elisabeth Schüssler Fiorenza zeichnet sodann die Marginalisierung von Frauen in den Prozess der neutestamentlichen Kanonbildung ein, wofür ihr die Figur der Maria Magdalena als Beispiel dient.
Das umfangreiche zweite Kapitel gliedert sich in drei Einheiten. Die erste beschreibt Kontexte der frühchristlichen Literatur im 1. Jh.; die zweite referiert nacheinander die zur Debatte stehenden Schriften; die dritte greift einzelne Erzählfiguren exemplarisch heraus und legt damit noch einmal Querschnitte an, die nach der fokussierten Darstellung einzelner Texte erneut übergreifenden Zusam­menhängen nachspüren.
Die Kontexte der Jesusgeschichte sind verschiedener Art: Sowohl die politische als auch die kulturelle Situation Palästinas, urbane und ländliche Lebenswelten oder intertextuelle Bezüge, in denen sich die tiefe Verwurzelung der frühen Christenheit in der alttestamentlich-jüdischen Tradition widerspiegelt, kommen dabei in den Blick.
Zum Auftakt analysiert Sean Freyne am Text des Markusevangeliums die Rolle von Frauen im römischen Palästina »zwischen römischem Imperium und Synagoge«, indem er Rollenbilder aus dem galiläischen Kontext des Evange­listen mit Frauenfiguren aus der herodianischen Dynastie in Beziehung setzt. Luise Schottroff fragt nach christlichen Frauen in den Großstädten des Römischen Reiches und plädiert dafür, statt von »Heidenchristinnen« besser von »Anhängerinnen des Messias Jesus aus den Völkern« zu sprechen; ihre Identität wird weniger in Form von Abgrenzung als in der Perspektive von »Jesu Schwes­tern, die nach der Tora leben«, bestimmt. Mit dem Thema einer genderrelevanten Rezeption der Hebräischen Bibel in den erzählenden Schriften des Neuen Testaments befasst sich Irmtraut Fischer, wobei vor allem die Geburtsgeschichten, verschiedene Wundererzählungen, Diskurse über das Eherecht, weiblich konnotierte Gottes- bzw. Christusbilder sowie weibliche Repräsentationen der gläubigen Gemeinde Gegenstand der Untersuchung sind. Luca Arcari behandelt die Funktionalität des Weiblichen in der messianischen Tradition des Judentums wie der frühen christlichen Theologie.
Die Evangelien und das Corpus Johanneum kommen in ihrer kanonischen Reihenfolge zur Darstellung, der sich noch einmal zwei thematische Beiträge zur Christologie und zum Wandel von Rollenbildern anschließen. Hier geht es vor allem darum, den Er­trag einer langen und intensiven Forschung aufzunehmen und fasslich zu präsentieren.
Amy-Jill Levine stellt die Untersuchung des Matthäusevangeliums unter die Überschrift »Zwischen Bruch und Kontinuität« und verfolgt darin die Spannung zwischen dem Ideal eines »dienenden Führungsmodells« einerseits sowie unverkennbar hierarchischen Strukturen andererseits. Die grundlegende Frage nach den Jüngerinnen Jesu macht Mercedes Navarro Puerto zum Leitmotiv ihrer Auseinandersetzung mit dem Markusevangelium, wofür die Nachfolgeüberlieferung sowie das Motiv der »familia dei« die entscheidenden Bezugstexte liefern. Was das lukanische Doppelwerk im Ganzen verbindet, ist nach Marinella Perroni eine unverkennbare Ambivalenz hinsichtlich der Wertschätzung von Frauen, die zwar mit erstaunlicher Sensibilität und fraglos als Jüngerinnen wahrgenommen, zugleich jedoch ebenso deutlich vom Kreis der Apostel unterschieden werden. Turid Karlsen Seim beschreibt die Frauenfiguren im Johannesevangelium als unabhängige, eigenständige Charaktere, die allein Jesus als der einzigen autoritativen Figur untergeordnet sind; wie die Männer leben auch sie in einem Zustand »konstanter Liminalität«, weil sie »in der Welt, aber nicht von ihr« sind. Den Beitrag der feministischen Exegese zu den Johannesbriefen fasst Pius-Ramón Tragán in der These zusammen, dass in der johanneischen Tradition gegenläufig zur allgemeinen Marginalisierungstendenz gerade eine zunehmende Bedeutsamkeit von Frauen zu beobachten sei. Für die Analyse der Offenbarung konzentriert sich Daria Pezzoli-Olgiati auf weibliche Figuren und Rollen im Bildmaterial des Visionsteiles, namentlich aber auf die medialen Personifizierungen von Babylon und Jerusalem; neun Abbildungen verweisen dabei auch auf Visualisierungen aus dem Be­reich der Rezeptionsgeschichte. Romano Penna nimmt die vier Evangelien noch einmal im Ganzen hinsichtlich ihrer christologischen Modelle in den Blick, wobei anhand exemplarischer Frauenfiguren verschiedene »Sub-Modelle« das Bild Christi in die Konstellation der Geschlechterbeziehungen einzuordnen versuchen. Adriana Destro und Mauro Pesce schließlich bieten mit ihrem Beitrag zur Veränderung weiblicher Rollen von der Jesusbewegung bis zu den frühen Kirchen schon eine wichtige Schnittstelle für den noch ausstehenden Band zur Briefliteratur.
Drei prominente weibliche Erzählfiguren sowie ein differenzierter Blick auf weitere anonym besetzte Rollen runden den Bestand des Bandes ab.
Weniger an der im Titel genannten Maria selbst als an der Entstehung der Geburtsgeschichten in Mt 1–2/Lk 1–2 aus frühchristlichen Testimoniensammlungen ist Enrico Norelli interessiert. Dieses Defizit macht jedoch der folgende, gehaltvolle Beitrag von Silke Petersen über Maria aus Nazaret mehr als wett; in pointierten Exegesen aller relevanten Texte zeichnet sie das Bild der Mutter Jesu als »eine Geschichte der Verwandlung« nach. Mit Marta stellt Bernadette Escaffre eine der spannendsten und zugleich umstrittensten Frauenfiguren in den Mittelpunkt, um zum Abschluss erneut Marta als Kandidatin für die Identität des »Lieblingsjüngers« bzw. der »Lieblingsjüngerin« bei Johannes ins Gespräch zu bringen. Nicht fehlen darf natürlich Maria Magdalena, die von Andrea Taschl-Erber im Blick auf eine inzwischen umfangreiche Diskussion problemorientiert und informativ vorgestellt wird. Namenlos bleibende Frauen in den kanonischen Evangelien sind das Thema von Silvia Pellegrini, wobei in einer sorgfältigen (auch tabellarisch-statistisch vorgelegten) Analyse Frauen ohne Namen als »Beispiele ohne Makel« interpretiert werden. Judith Hartenstein wendet sich noch einmal männlichen und weiblichen Erzählfiguren im Johannesevangelium zu und gelangt zu der These: Die starke Rolle von Frauen spiegelt bei Johannes weniger die Gemeinderealität wider; vielmehr sind die Entwicklungen einiger Figuren »als Anregung zur Korrektur einer weniger frauenfreundlichen Wirklichkeit zu lesen«.
In jedem Falle bieten die Beiträge dieses Bandes kompetente Überblicke über jene Diskurse zur Evangelientradition, die sich der Perspektive einer feministischen »Kosmovision« verdanken. Auch wenn die inzwischen uferlos gewordene Literatur dabei nur in repräsentativer Auswahl berücksichtigt werden kann, regen sie zweifellos auf vielfältige Weise zu den intendierten Horizonterweiterungen an. Was längst schon auf breiter Front Eingang in die Bibelwissenschaften gefunden hat, wird hier noch einmal in einem großen Zusammenhang dargestellt und in problemorientierter Zuspitzung reflektiert. Die Leistung dieses enzyklopädischen Werkes ist deshalb auch weniger innovativer als vermittelnder Art. Über die Verbindung historisch-kritischer Exegese mit neuen methodischen Ansätzen hinaus finden hier auch solche Wissenschaftstraditionen zusammen, die ansonsten allein schon aufgrund sprachlicher Grenzen wenig Berührung miteinander haben. Was an einer internen Verknüpfung der einzelnen Beiträge fehlt, wird durch die Vielfalt und Originalität ihrer Sichtweisen wieder ausgeglichen. Man kann auf Band 2.2 nur gespannt sein!