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Ausgabe:

März/2013

Spalte:

317–320

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Morales, Rodrigo J.

Titel/Untertitel:

The Spirit and the Restoration of Israel. New Exodus and New Creation Motifs in Galatians.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2010. XII, 200 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 282. Kart. EUR 49,00. ISBN 978-3-16-150435-8.

Rezensent:

Dieter Sänger

An neueren monographischen Studien zum Galaterbrief herrscht kein Mangel. Doch hat es seit Längerem schon den Anschein, als stünde die anhaltend intensive Beschäftigung mit den Problemen, die er zu lösen aufgibt, in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zum halbwegs gesicherten oder zumindest mehrheitlich akzeptierten wissenschaftlichen Ertrag. Angesichts zum Teil gravierender Differenzen in Grundsatz- und Detailfragen darf jede Untersuchung, die sich anschickt, einen Beitrag zum Gesamtverständnis des Gal zu leisten, mit erhöhter Aufmerksamkeit rechnen. Vor allem dann, wenn sie mit der Pneumatologie einen bisher eher vernachlässigten Themenbereich der paulinischen Theologie zum Gegenstand hat und ihr Autor Rodrigo J. Morales den Mut besitzt, seine Ergebnisse ohne den heute üblich gewordenen forschungsgeschichtlichen Vorspann auf relativ knappem Raum (173 Textseiten) zu präsentieren. Bei der hier anzuzeigenden Studie handelt es sich um die geringfügig überarbeitete und erweiterte Fassung seiner von Richard B. Hays betreuten Dissertation, die M. der Duke University (Durham, N. C.) 2007 vorgelegt hat. Derzeit lehrt er als Assistant Professor an der Marquette University in Milwaukee.
Zwischen der kurz gehaltenen Einleitung (1–11), die metho­-dischen und terminologischen Vorklärungen gewidmet ist sowie den Gang der Untersuchung skizziert, und dem bilanzierenden Schlussteil (164–173) entfaltet M. auf vier Kapitel verteilt seine These, das Pneuma-Verständnis des Gal müsse im Kontext der alttestamentlich präformierten Vorstellung vom endzeitlichen Heilshandeln Gottes an Israel und dessen Restauration »to its former glory« (10) begriffen werden. Auch wenn Paulus diesen Gedanken christologisch transformiert habe, sei er doch davon überzeugt gewesen, mit dem Kreuzesgeschehen und der Verleihung des Geistes habe Gott begonnen, seine durch die Propheten gegebenen Verheißungen zu erfüllen. Ziel der Arbeit ist es, die im Gal zutage tretende konnektive Struktur von Segensverheißung an Abraham und Geist­erfahrung der heidenchristlichen Adressaten auf dem Hintergrund frühjüdischer eschatologischer Erwartungen historisch wie theologisch zu plausibilisieren. Dazu werden alle thematisch einschlägigen Texte aus der Prophetenliteratur (Jes, Jer, Joel), den Qumranschriften (1QS 3–4 [Zwei-Geister-Lehre]; 4Q504 [= 4QDibHama]; 4Q521 [= 4QMessianic Apocalypse]) und der sog. zwischentestamentlichen Literatur (Jub, PsSal, äthHen 37–71, TestJud, TestLev; unergiebig sind Philo und Josephus) einer traditions- und motivgeschichtlichen Analyse unterzogen. Methodisch wie hermeneutisch von leitender Relevanz ist das Intertextualitätsparadigma, wobei M. sich an einem weiter gefassten literaturtheoretischen Intertextualitätsmodell orientiert, in dem es um die Offenheit und den prozessualen Charakter von Literatur im Allgemeinen geht. Lasse sich nämlich zeigen, welche der aus dem Alten Testament stammenden Themen und Bilder, die auch bei Paulus begeg nen, den eschatologischen Horizont der zur Debatte stehenden frühjüdischen Schriften maßgeblich bestimmt haben, sei es auf ihrer Basis möglich »to establish the kinds of expectations that were available to Paul and his contemporaries« (7). Insofern die von diesen Erwartungen geprägte Motivik im Gal rezipiert erscheine bzw. anklinge, fungiere er als Echoraum der im zeitgenössischen Judentum auf unterschiedliche Weise zur Anschauung gebrachten prophetischen Heilsperspektive für Israel.
Gemäß seinem Programm wertet M. zunächst (Kapitel 2: »New Exodus, New Creation I: The Spirit and the Restoration of Israel in the OT Prophetic Literature« [13–40]) die genannten alttestamentlichen Quellen aus, mit einem Seitenblick auf Dtn 28. Als Referenzrahmen fungiert jeweils die überlieferte Endgestalt, ohne dass z. B. zwischen Proto-, Deutero- und Tritojesaja unterschieden wird. Denn »neither Paul nor his Second Temple Jewish contemporaries … would have thought in these categories« (14). Gemeinsam ist den prophetischen Texten, dass sie die endzeitliche Geistverleihung mit der Wiederherstellung Israels verbinden. Während bei Jes die sprachlichen Ausdrucksformen stark variieren (neue Schöpfung/neuer Exodus, Friede, Gerechtigkeit, Vaterschaft Gottes, Bundeszusage), spielen bei Ez das Motiv vom neuen Herzen bzw. Geist (18,31) sowie die Auferstehungs- Metaphorik (36,16–38) eine besondere Rolle. Joel 3,1–5 (LXX) stellt einen direkten Zusammenhang her zwischen der Ausgießung des Geistes Gottes und Israels Errettung. Ansprechend ist die Vermutung, zumindest einige der Texte seien als Antwort auf die Fluchdrohungen in Dtn 28,15–68 formuliert (40).
Kapitel 3 »New Exodus, New Creation II: The Spirit and the Restoration of Israel in the Second Temple Period« (41–77) behandelt die in Frage kommenden frühjüdischen Zeugnisse. Ihren Quellenwert sieht M. nicht schon dadurch geschmälert, dass sie im Einzelfall christliche Bearbeitung erkennen lassen (TestXII). Auch dann seien sie aufschlussreich, weil sie »shed light on how early believers interpreted the activity of the Spirit and perhaps Paul’s own statement about the topic« (42 f.). In der Summe ergibt sich: Die untersuchten Texte reflektieren den prophetischen Geist-Diskurs, knüpfen an ihn an und gestalten die in ihm entwickelte Zukunftsperspektive weiter aus. Das gilt vor allem im Blick auf den inneren Konnex von endzeitlicher Geistbegabung und Toragehorsam, von Geistempfang und Gerechtigkeit, Gotteskindschaft, Segensverheißung, Auferstehung und neuer Schöpfung. Umgekehrt gilt: Verhärtet Israel sein Herz und missachtet die göttlichen Weisungen, zieht es den Fluch auf sich. Alle den eschatologischen Horizont der frühjüdischen Pneumatologie markierenden Motivverbindungen finden sich im Gal wieder. Freilich heißt das nicht, Paulus hätte die betreffenden Texte in toto gekannt und bewusst auf sie zurückgegriffen, sondern lediglich, dass seine Argumentation eine deutliche Affinität zu der von ihnen revitalisierten prophetischen Geistkonzeption aufweist.
Dies zu zeigen und für das Gesamtverständnis des Briefs fruchtbar zu machen, ist Aufgabe der beiden folgenden Kapitel (»New Exodus and the Spirit in Galatians 3–4: From Death to Life, From Slavery to Sonship« [79–131]; »New Creation and the Spirit in Gala­-tians 5–6: Bearing Fruit unto Eternal Life« [132–163]). Ausgehend von 3,1–5 werden die Linien über 3,10–14; 4,1–7; 5,2–6 und 5,13–26 bis 6,7 f. ausgezogen. Ich beschränke mich auf das mir wesentlich Er­scheinende. Die rhetorische Frage, ob die Galater das ἐξ ἔργων νόμου ἢ ἐξ ἀκοῆς πίστεως empfangen haben (3,2.5), ist apokalyptisch grundiert und spielt auf Jes 53,1 (LXX): τίς ἐπίστευσεν τῇ ἀκοῇ ἡμῶν; an. Im Licht von Kreuz und Auferstehung Christi versteht Paulus das ihm offenbarte Evangelium als Beginn der Erfüllung von Gottes Verheißungen an Israel durch die Propheten. Der Fluch in 3,10.13 bezieht sich auf das im Nomos angekündigte Urteil (Dtn 27,26; 28,58 [samt Kontext]) über das bundesbrüchige Gottesvolk. Paulus deutet ihn auf dem Hintergrund von Dtn 30,15–20 im Sinne der tödlichen Alternative, die Israel gewählt hat. Wenn er dem Tod Jesu sühnende Wirkung für »uns« – gemeint sind »wir Judenchristen« (113) – zuschreibt (3,13), in ihm die Segensverheißungen an Abraham realisiert sieht, an denen auch die Christusgläubigen aus der Völkerwelt aufgrund ihrer Geistbegabung Anteil haben (3,14), steht er mit seiner Interpretation des Christusgeschehens in Kontinuität zu den »prophetic promises concerning the Spirit« (131) und denkt »in the categories of restoration eschatology« (166). Auch der Abschnitt 4,1–7 hat geborene Juden im Blick, jedenfalls primär.
Die assertorische Aussage, dass Gott den Geist seines Sohnes in »unsere« (sc. der Judenchristen) Herzen gesandt hat (V. 6), entspricht der im Corpus Propheticum (Jes 63,10–19; Ez 16, vgl. Jub 1,22–25; TestJud 24,1–6) begegnenden Erwartung, durch die geistgewirkte Erneuerung des Herzens werde Israels Gotteskindschaft neu konstituiert. Zugleich entgrenzt Paulus diese ethnozentrische Vorstellung, indem er sie christologisch transformiert und im Re­kurs auf die Abraham zugesprochenen Verheißungen einen un­­-löslichen Zusammenhang herstellt zwischen »the redemption of Israel and the blessing/inclusion of the Gentiles« (129). Damit entwindet er seinen Gegnern, die vermutlich unter Berufung auf die prophetische Tradition an dem Junktim zwischen Toragehorsam und Geistempfang festhielten, das Argument, die heidenchristlichen Galater müssten erst Juden werden – konkret: sich beschneiden lassen –, um Anteil an Gottes Geist und dessen Segnungen haben zu können. Welche Konsequenzen sich für das alltagswelt­liche Leben ergeben, wenn es vom Geist bestimmt ist, entfaltet Paulus in Gal 5–6. Die seinen ethischen Weisungen unterliegende Fleisch/Geist-Dichotomie lässt sich als Widerhall des prophetisch inspirierten Gegenübers von »old age of the law« und »new age of the Spirit« (167), mithin im Kontext der »restoration eschatology« verstehen.
Mit seiner Studie hat M. am Beispiel des Gal einen eigenstän­digen Beitrag zur pln. Pneumatologie vorgelegt, der sich durch gedankliche Stringenz und innere Stimmigkeit auszeichnet. Im Anschluss an frühere Versuche in dieser Richtung (J. S. Vos, D. Lull, Ch. Corgrove, G. D. Fee), methodisch und was die Grundthese be­trifft freilich einen anderen Weg einschlagend, dürfte M. den – häufig unterschätzen – theologischen Stellenwert des Geistes im argumentativen Gefälle des Briefs einmal mehr deutlich gemacht haben. Diskussionswürdig ist vor allem die bereits in der Überschrift formulierte Arbeitshypothese, mit seinem im Gal zutage tretenden Geistverständnis bewege sich der Apostel im Resonanzbereich atl.-jüdischer, speziell prophetischer Erwartungen, denen zufolge Gottes Geist der Real- und Wirkgrund von Israels endzeitlicher restitutio ad integrum ist.
Leider verzichtet M. darauf, seine Position in kritischer Auseinandersetzung mit Interpreten exegetisch wie historisch zu plausibilisieren, die das paulinische Geist-Konzept etwa stoisch beeinflusst sehen. Zweifelhaft erscheint mir, ob das Pneuma nicht nur ein, sondern das strukturbildende Element im brieflichen Gesamtgefüge darstellt und als übergreifendes textanalytisches Prinzip hermeneutisch von leitender Relevanz ist. Kaum zufällig bleibt Gal 1–2 fast völlig außer Betracht, obwohl dort (2,16) der im argumentativen Teil aus der Schrift (!) begründete Basissatz von der Rechtfertigung programmatisch eingeführt wird, allerdings ohne jeden Bezug auf den Geist. Zudem orientiert sich der gedankliche Duktus von 3,1–4,7 an den beiden Oppo­-sitionsbegriffen πίστις und νόμος. Sie bilden die semantische Achse, an der die exege­tische Beweisführung entlang läuft, und strukturieren den Text. Dass die Wahrnehmung dieses Befundes als ein Störfaktor gewirkt hätte und Anlass gewesen wäre, den Referenzrahmen des vorgelegten Entwurfs auf seine implizite Vorurteilsstruktur hin zu prüfen, erscheint offenkundig.
Solche und weitere kritische Einwände schmälern nicht den heuristischen Wert der Arbeit. Sie stellt die richtigen Fragen, auch wenn die Antworten Widerspruch provozieren. Aber das ist es ja, was eine gute Leistung von einer weniger guten unterscheidet: ihre stimulierende Wirkung auf die Forschung.