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Ausgabe:

März/2013

Spalte:

315–317

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Klaiber, Walter

Titel/Untertitel:

Der erste Korintherbrief.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theologie 2011. IX, 305 S. = Die Botschaft des Neuen Testaments, 3. Kart. EUR 19,90. ISBN 978-3-7887-2540-2.

Rezensent:

Ulrich Heckel

Mit diesem Kommentar zum 1. Korintherbrief hat Walter Klaiber in­nerhalb weniger Jahre nach dem Römerbrief (2009) und dem Markusevangelium (2010) den dritten Band einer neuen Kommentarreihe vorgelegt. Was diese neue Kommentarreihe bietet, ist ein echtes Desiderat. Sie versucht Antwort zu geben auf eine Situation, in der nicht nur von akademischer Seite immer wieder über mangelnde exegetische Kenntnisse in der Kirche geklagt, sondern zugleich aus den Gemeinden ein sehr viel stärkerer Praxisbezug der theologischen Wissenschaft eingefordert wird. Hier füllt die neue Reihe eine Lücke, indem sie exegetische Grundlagen in die kirchliche Praxis hinein zu vermitteln versucht.
Der Name der neuen Reihe ist Programm. Auf jeder Seite ist zu spüren, dass es dem einstigen Assistenten von Ernst Käsemann, langjährigen Dozenten des Theologischen Seminars in Reutlingen sowie Bischof i. R. der Evangelisch-methodistischen Kirche in seiner exegetischen Arbeit darum geht, die theologische Botschaft der neutestamentlichen Schriften herauszuarbeiten. Zum Ergebnis kann man K. nur gratulieren! Der Kommentar gibt den Stand der neutestamentlichen Wissenschaft wieder und ist zugleich allgemeinverständlich geschrieben. Die prägnante, frische und lebendige Sprache ist von den Herausforderungen des Predigers ge­prägt, das sachliche Urteil und die klare, präzise Ausdrucksweise von seiner exegetischen Schulung. Unter den eingeführten Kommentaren ist die neue Reihe am ehesten mit NTD vergleichbar, in der inhaltlichen Durchführung aber breiter angelegt. Im Zentrum steht eine solide Exegese, die vor allem an den theologischen Inhalten und ihrer Relevanz für heutige Gemeinden interessiert ist.
Griechische Begriffe werden in Umschrift wiedergegeben, Wort­bedeutungen aufgefächert und etymologische Verbindungen einschlägiger Lehn- und Fremdworte auch im Deutschen dargestellt. Exkurse sind in Petit eingefügt und bieten vor allem philologische und historische Informationen zu Themen wie z. B. Heilige (7 f.), Gruppierungen in Korinth (18), die Frage, ob die Taufe des Hauses auch Säuglinge einschloss (21), Evangelium (22), die Weisheit des Wortes im Verhältnis zu Rhetorik, griechischer Philosophie und Gnosis (22 f.), das Kreuz als Hinrichtungsinstrument (25), Bauch und Leib (92), Unzucht und Prostitution (93 f.), Götzenopferfleisch (123 f.166), Schöpfungsmittler (128), Herrenmahl-Praxis (182) und -Überlieferungsstränge im Neuen Testament (186), prophe­tische Rede (197), Zungenrede (198), Gal 3,27 f. (203), Leib Christi (205 f.), Auferstehung der Toten (251 f.), die Verwendung von Gen 1,27 und 2,7 bei Philo und Paulus (265). Auf Anmerkungen wird verzichtet. Prägnante Zitate aus den gängigen Kommentaren werden mit Namen gekennzeichnet, Monographien jedoch leider keine er­wähnt – auch nicht im Literaturverzeichnis am Ende. Ein Register schließt den Band ab.
Die Übersetzung versucht, die paulinische Ausdrucksweise treffend in heutiges Deutsch zu übertragen. Dabei werden nicht nur die gängigen Bibelübersetzungen ständig auf ihre Angemessenheit hin kritisch überprüft (z. B. 33 zu 1,27 »zuschanden machen«, 114 zu 7,25 »Richtlinie« statt »Meinung«), sondern immer wieder auch Vorschläge gemacht, die dem heutigen Sprachgefühl näherkommen und der paulinischen Intention besser gerecht werden (z. B. 16 zu 1,10: »Ich bitte euch dringend« statt »ich ermahne euch«; 184 zu 11,24: »zur Erinnerung an mich« statt »zu meinem Gedächtnis«; 239 zu 15,1 »feierlich bekannt machen« statt »erinnern«). Die Textkritik wird in eigenen Exkursen abgehandelt (37.156.213.233 f.235); 1Kor 14, 34 f. wird als späterer Zusatz beurteilt (233).
Zu den umstrittenen Fragen der Korintherbriefexegese werden unterschiedliche Forschungspositionen referiert (leider jedoch oh­ne Namen zu nennen) und mit einem nüchternen Urteil abge­-wogen (z. B. 18 f. zu den Parteien in Korinth; 22 f. zur religionsgeschichtlichen Einordnung der Weisheit des Wortes; 250 zu den Bestreitern der Auferweckung). Durchgehend werden die Aussagen in den Kontext nicht nur des 1. Korintherbriefs und der pauli-nischen Kreuzestheologie, sondern auch der Evangelienüberlieferung (z. B. bei 1Kor 11 und 15 zum Herrenmahl und den Erscheinungen des Auferstandenen) und des Alten Testament (z. B. zu Dtn 6,4 bei Kapitel 8 oder zum Beispiel Israels in Kapitel 10) eingeordnet. Immer wieder wird auf Parallelen aus der Umwelt hingewiesen (z. B. Philo, Epiktet, Plato oder Qumran, Apokalyptik und Stoa).
Für das Verständnis sehr hilfreich sind die Hinweise auf Sinnverschiebungen in der Auslegungs- und Wirkungsgeschichte, z. B. dass die griechischen Worte für die Spaltung und die Parteiungen in Korinth noch keine Fachausdrücke für »Schisma« und »Häresie« sind und auch die Gruppierungen noch keine »Konfessionen« bilden (17.23.181), dass »erwählen« in 1,27 nicht die Vorherbestimmung jedes Einzelnen zu Heil oder Unheil im Sinne der späteren Lehre von der Doppelprädestination meint (32), dass das Feuer des Gerichts in 3,13 auch für katholische Ausleger heute keine Anspielung auf eine Lehre vom Fegefeuer darstellt (55 f.), dass es bei der Herrenmahlfeier in Korinth nicht um die sakramentale Gegenwart Christi in den Elementen geht, sondern um soziale Missstände in der Gemeinde, so dass Christi Lebenshingabe für uns soziale Konsequenzen hat in der Rücksichtnahme auf andere und Sorge um sie (190), dass Erbauung für Paulus noch nicht den Ton in sich gekehrter Frömmigkeit hat (221).
Jeder Abschnitt endet mit einer grau unterlegten Zusammenfassung der wesentlichen theologischen Aussagen, die ihre Bedeutung für die Gegenwart deutlich macht. Dabei ist der kirchliche Erfahrungshintergrund zu spüren im Aufnehmen von Themen und Fragen, die heute in Gemeinden diskutiert werden. Doch bei allen Gegenwartsbezügen bleibt der Kirchenmann ganz der verantwortungsbewusste Exeget, der so gut wie möglich den ur­sprünglichen Textsinn zu rekonstruieren versucht und in wohltuender Differenziertheit anspricht, wie sich heutige Fragestellungen gegenüber den paulinischen Gemeinden verändert haben. Dabei benennt er auch die Unterschiede, dass z. B. beim Suchen nach Wunderzeichen und Weisheit viele Menschen ihre religiösen Grundbedürfnisse heute eher philosophisch, naturwissenschaftlich oder esoterisch zu stillen versuchen (29), dass sich in der Missionsgeschichte das Verhältnis zu den Erscheinungsformen des Göttlichen in anderen Religionen verändert hat (129.148 f.163 f.), dass die Erwähnung der Trunkenbolde in den Lasterkatalogen die Frage nach dem angemessenen Umgang mit Suchtkranken aufwirft (81 f.87 f.) und dass etwa zur Sexualität bzw. Ehe oder bei der Auferstehungshoffnung heute nicht nur ganz andere Fragen ge­stellt werden, sondern auch manche Vorstellungen nur noch schwer nachvollziehbar sind.
Den Schluss des Bandes bildet eine Zusammenfassung, die das Wort vom Kreuz und die Botschaft von der Auferweckung als theologische Mitte der paulinischen Theologie rekapituliert und dann in einer trinitarischen Perspektive entfaltet im Blick auf die göttliche Gegenwart in der Gemeinde durch Verkündigung, Taufe und Abendmahl sowie auf das Leben des einzelnen Christen. Sachkritik wird an der Übergabe des Unzüchtigen an den Satan geübt (5,1–6) sowie am Bild des Verhältnisses von Mann und Frau in 11,3, da das paulinische Menschenbild im Blick auf die Geschlechter eigentlich ein gemeinsames und gleichrangiges Gegenüber zu Gott verlangt (296; vgl. Gal 3,27 f.). Dementsprechend findet die Rolle der Frau im ganzen Kommentar besondere Aufmerksamkeit. Gebündelt wird die Bedeutung der Botschaft heute in drei Impulsen: in der Gotteserkenntnis am Kreuz als Kritik an menschlichem Machtstreben und Statusgehabe, in der charismatischen Gemeindeordnung als der besten biblischen Grundlage für das notwendige Gespräch mit der Pfingstbewegung und in der Freiheit und Verantwortung des einzelnen Christen für sich und für andere.
Durch diese Verbindung von sorgfältiger exegetischer Arbeit und differenziert dargestellter Gegenwartsrelevanz gelingt es dem Kommentar hervorragend, »Die Botschaft des Neuen Testaments« nicht nur historisch nachzuzeichnen, sondern auch für die heutige kirchliche Praxis fruchtbar zu machen, wo neutestamentliche Texte aufzubereiten sind in Predigt und Bibelwochen, Unterricht oder Erwachsenenbildung.
Der nächste Band zum 2. Korintherbrief ist bereits angekündigt. Die Neubestimmung von Kraft und Schwachheit durch Kreuz und Auferstehung Christi bildet die Inclusio der kanonisch vorliegenden Korintherkorrespondenz und macht neugierig, welche Konsequenzen daraus für das Amt des Apostels und die christliche Exis­tenz gezogen werden.