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Ausgabe:

März/2013

Spalte:

310–311

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Kalimi, Isaac [Ed.]

Titel/Untertitel:

New Perspectives on Ezra-Nehemiah. History and Historiography, Text, Literature, and Interpretation.

Verlag:

Winona Lake: Eisenbrauns 2012. XV, 296 S. m. Abb. u. Tab. Geb. US$ 49,50. ISBN 978-1-57506-233-4.

Rezensent:

Thomas Hieke

Trotz archäologischer und epigraphischer Funde bleibt das Esra-Nehemia-Buch die wichtigste schriftliche Quelle für die historische Erforschung der religiösen, sozialen und politischen Verhältnisse im Juda der persischen Zeit. Die vorliegende Sammlung von 13 Aufsätzen von ebenso vielen Autorinnen und Autoren will die neuesten Perspektiven auf dieses Werk der biblischen Literatur vorstellen. Viele der Beiträge gehen auf Vorträge beim Annual Meeting der Society of Biblical Literature zurück; sie wurden für die Publikation sorgfältig aufbereitet und schließen häufig mit Hinweisen auf zukünftige Forschungsfragen. Damit ist das insgesamt sehr gut zu lesende Buch kein textbook für Anfänger, sondern ein Blick ins Laboratorium der archäologisch, historisch und literaturwissenschaftlich forschenden Bibelwissenschaftlerinnen und Bibelwissenschaftler.
Der Herausgeber, Isaac Kalimi, stellt in seiner Einführung die einzelnen Beiträge kurz vor und äußert die begründete Hoffnung, dass die neuen Studien das Verständnis vieler Einzelfragen zu Esra-Nehemia vertiefen und zu weiterer Forschung zu diesem spannenden Literaturbereich der biblischen Geschichtsdarstellung anregen mögen. Ihm ist für die wohlausgewogene Auswahl und editorische Zusammenstellung der Ausarbeitungen zu danken und zu bescheinigen, dass das gesteckte Ziel, einen Einblick in die aktuelle Forschung zu präsentieren und zu weiteren Ideen anzuregen, bestens erreicht wurde. Die Beiträge sind in zwei Teilen angeordnet: einerseits »History and Historiography«, andererseits »Text, Literature, and Interpretation«. Der erste Bereich hat mit acht Aufsätzen ein deutliches Übergewicht, und daher wundert es den, der mit der Problematik vertraut ist, keineswegs, dass insgesamt ein ganz deutlicher Schwerpunkt auf der historisch greifbareren Person des Nehemia und dem nach ihm benannten Buchteil liegt. Ein kurzer Überblick zu den einzelnen Beiträgen macht dies deutlich.
Liesbeth S. Fried eröffnet den historiographischen Teil. Aus ihrer Analyse von »Ezra’s Use of Documents in the Context of Hellenistic Rules of Rhetoric« schließt sie, dass der Autor der Kapitel Esr 1–6 die Regeln hellenistischer Geschichtsschreibung (»rhetorical historiography«) beachtete: Auf den Prolog (Esr 1–3) folgen der Hauptteil (4,1–6,15) mit dem Einbau von »Quellen« als »Beweisen« (wobei diese nach den Anforderungen der Rhetorik fiktive Nachgestaltungen sein dürfen) und der Epilog (6,16–22).
Lester L. Grabbe fragt »What Was Nehemiah Up To? Looking for Models for Nehemiah’s Polity« und kommt zu dem Ergebnis, dass der Schreiber der Nehemiageschichte eher von Idealformen der vorderorientalischen Literatur ge­prägt sei und weniger von den hellenistischen Vorbildern; dennoch sei das Studium der hellenistischen Literaturformen für den kulturanthropologischen Vergleich wichtig. – Nehemia als Gestalt zwischen hohem Beamten des per­-sischen Reiches und zugleich Mitglied eines »kolonisierten« Volkes untersucht Don Polaski näher (»Nehemiah: Subject of the Empire, Subject of Writing«) und nimmt eine unterschiedliche Einstellung wahr: Während der Nehemiabericht selbst eine eher imperiumskritische Haltung einnehme, ermutige die Einbettung des Berichts durch den Redaktor des Esra-Nehemiabuches die Einwohnerschaft von Yehud dazu, sich als Kolonie des persischen Reiches zu verstehen. – Zur Erhellung der »Zwischenstellung« Nehemias bringt Klaas A. D. Smelik die Analogie zu den Hofjuden des 17. und 18. Jh.s in den deutschen Landen ein (»Nehemiah as a ›Court Jew‹«).
Oded Lipschitz widmet sich »Nehemiah 3: Sources, Composition, and Purpose« und stellt fest, dass die Liste der »Stadtmauerbauer« sowohl diejenigen enthält, die den Aufbau der Mauer, als auch diejenigen, die die Wiederherstellung der sechs Tore finanzierten und organisierten. Sie ist also aus zwei ähnlichen Listen zusammengestellt worden, wobei beim redaktionellen Einbau viel Wert auf die Stadttore gelegt wurde. Auch wenn die Listen ursprünglich nicht Teil des Nehemiaberichts (»Nehemiah memoir«) waren, habe sie der Redaktor doch an der passenden Stelle in das Programm Nehe­mias eingebaut.
Der Archäologe David Ussishkin widmet sich den Realien der Nehemiamauer: »On Nehemiah’s City Wall and the Size of Jerusalem during the Persian Period: An Archaeologist’s View«. Der Artikel enthält mehrere Fotos und Karten und kommt zu dem Ergebnis, dass Nehemia seine (bescheidene) Mauer zwar auf den Resten der vorexilischen Stadtmauer aufgebaut (und damit den südwestlichen Hügel eingeschlossen) habe, die Besiedelung der Stadt jedoch ge­scheitert sei und weite Teile des Areals unbewohnt geblieben seien. Das ist eine be­merkenswerte Mittelposition zwischen »Maximalisten« und »Minimalisten«!
Manfred Oeming betont die Bedeutung theologischer Ideen für die Rekonstruktion der tatsächlichen Geschichte (»The Real History: The Theological Ideas behind Nehemiah’s Wall«): Die »Theologie der Stadtmauer« zeige sich nicht nur in den frühnachexilischen Schichten der prophetischen Literatur (vor allem Ezechiel) und bestimmten Zionspsalmen, sondern auch im Buch Nehemia. Die Stadtmauer war Symbol der Gegenwart Gottes in der Geschichte und für den heiligen Bereich, in dem die Tora regierte.
Ran Zadok meint mit »Some Issues in Ezra-Nehemiah« vor allem einen prosopographisch-historischen Zugang und rekonstruiert die personenbezogenen Zu­sam­menhänge aus den Listen des Nehemiabuches, analysiert die Person Nehemias und dazu Esra als im Schatten des Nehemia stehende Figur.
Der zweite Teil der Sammlung beginnt mit dem Heben eines Schatzes (»Hidden Treasure: The Unpublished Doublet Catchwords in Ezra-Nehemiah«): David Marcus hat bei der Vorbereitung des Faszikels »Esra-Nehemia« für die Biblia Hebraica Quinta festgestellt, dass in den bisherigen kritischen Ausgaben viele Details der Masora parva nicht abgedruckt wurden. Gerade hier finden sich jedoch für eine intertextuell-literaturwissenschaftliche Interpretation aufschlussreiche Hinweise: Wenn in der Masora angegeben wird, dass eine bestimmte Wendung nur zwei Mal in der Hebräischen Bibel auftritt, so fügte (ein bisher nicht abgedrucktes) »catchword« einen Hinweis an, wo der zweite Beleg steht. Auf diese Weise werden etwa die Verse Esr 10,6 und Ex 34,28 in Bezug zueinander gesetzt. Dadurch wiederum wird Esra mit Mose parallelisiert, und in der rabbinischen Rezeption gilt Esra als zweiter Mose!
Deirdre N. Fulton widmet sich dem Septuagintatext (»Where Did the Judahites, Benjaminites, and Levites Settle? Revisiting the Text of Nehemiah 11:25–36 MT and LXX«): Die LXX-Version der Liste gehe auf eine ältere proto-MT-Fassung aus der Perserzeit zurück, während MT in hellenistischer Zeit aus ideologischen Gründen erweitert worden sei.
Paul L. Reddit macht einen Vorschlag zu »The Census Lists in Ezra 2 and Nehemiah 7«. Die Differenzen in den Summen der genannten Zahlen seien ein versteckter Hinweis des Redaktors, dass nicht alle Einwohner des nachexilischen Juda zum »wahren Israel« gehörten.
Joseph Fleishman untersucht eine dramatische Szene: »Nehemiah’s Request on Behalf of Jerusalem«, also die (Für-)Bitte Nehemias für Jerusalem beim persischen König, dem Beherrscher eines Weltreiches (Neh 2,1–9). Die narrativ-drama­tische Steigerung von der anfänglichen Todesangst Nehemias bis hin zum Erfolg am Ende ist sehr beeindruckend.
Schließlich untersucht Mark J. Boda »Prayer as Rhetoric in the Book of Nehemiah« und zeigt die rhetorischen Funktionen der eingestreuten Gebete im Nehemiabuch auf: Charakterisierung der Person, dramatischer Effekt, Strukturierung, Fortführung der Erzählung, ideologische Deutung.
Jeder einzelne Beitrag liefert eine spannende und bedenkenswerte These sowie anregende Vorschläge zum Weiterdenken; insgesamt ergibt sich ein facettenreiches Bild aktueller Forschung zur Hauptquelle über Juda in der persischen Zeit. Bei weiteren literaturwissenschaftlichen und historiographischen Studien zum Esra-Nehemia-Buch muss dieser Sammelband unbedingt konsultiert werden.