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Ausgabe:

März/2013

Spalte:

304–307

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Becking, Bob

Titel/Untertitel:

Ezra, Nehemiah, and the Construction of Early Jewish Identity.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2011. XVI, 189 S. = Forschungen zum Alten Testament, 80. Lw. EUR 74,00. ISBN 978-3-16-150111-1.

Rezensent:

Sebastian Grätz

Der zu rezensierende Band enthält Beiträge von Bob Becking, die die Entstehung seines (noch nicht erschienenen) Kommentars zu Esra-Nehemia in der renommierten Reihe »de Prediking van het Oude Testament« seit 1998 begleitet haben. Diese Art von Publikation ist nicht unüblich, so dass verstreut veröffentlichte Beiträge, die häufig gegenüber dem Kommentar zusätzliche Informationen enthalten, an einem Ort bequem zugänglich sind. Es ist hervorzuheben, dass auch zwei bislang nicht veröffentlichte Beiträge aufgenommen worden sind, die dem Buch den Charakter einer reinen Retrospektive nehmen und vielmehr zeigen, dass der Prozess der Arbeit an Esr-Neh für B. noch nicht abgeschlossen ist.
Das Buch ist in elf Kapitel gegliedert, die ich bei dem nun folgenden Durchgang kurz vorstellen werde, um den Band als Ganzen abschließend zu würdigen.
Der forschungsgeschichtlich ausgerichtete Beitrag »Ezra on the Move: Trends and Perspectives on the Character and his Book« geht den grundsätzlichen Fragen nach, die Esr-Neh als überliefertes komplexes Werk mit sich bringt. Am Ende steht eine Skizze von drei neuen »Perspektiven« der Forschung, denen B. zunächst unter dem Gesichtspunkt der »new literary analysis« eine Erzählanalyse von Esr 3–6 mit den jeweiligen Aktanten beifügt und so zu einer Zentralstellung der Pessachfeier der Israeliten kommt. Die zweite Perspektive »social science approach« könne helfen, so B., das Esrabuch in seinem sozialen Umfeld zu verstehen, die dritte Perspektive »rethinking historiography« schließlich zeige, dass das Esrabuch nicht als historische Primärquelle anzusehen sei, sondern als narratio mit apologetischem Charakter: »The book of Ezra presents a biased image of the exile and its aftermath by which later, fourth or third century BCE, cultic and political positions are defended, namely a form of Judaism in which the festival of Passover in the temple of Jerusalem and a rather strict interpretation of the Torah play an important role.« (21, kursiv dort)
Der nächste Beitrag »Continuity and Community: The Belief-System of the Book of Ezra« knüpft an den vorausgehenden insofern an, als dass B. nun diesem in Esr entworfenen »biased image« nachgeht und als Strategie des geistigen Überlebens in einer vielfältigen und unübersichtlichen Umwelt beschreibt. So rückt vor allem die Diskussion um die »Mischehen« (Esr 9 f.) in den Fokus der Betrachtung, die nach dem faktischen politischen Machtverlust nicht weniger implizieren würden als den möglichen Verlust von religiöser und ethnischer Identität. Der in Esr 9 f. vorliegende Umgang mit der Größe »Tora« zeige daher eine eklektische Tendenz: »The idea of a ›holy seed‹ is so central to Ezra that he is pre­-pared to overlook other features of the moral code.« (38) Auch die zahlreichen Gegner, die in Esr 3–6 begegnen, dienten so schluss­endlich der Definition und Glorifikation der durch Esra repräsentierten sozialen Gemeinschaft.
»The Idea of Thorah in Ezra 7–10: A Functional Analysis« ist der dritte Artikel des Sammelwerks. B. beschreibt hier das Konzept von »Tora« in Esr 7–10 in enger Anlehnung an T. Willi als »vital and dynamic concept«, das die in Esr 7–10 vorausgesetzte Suche nach einer überindividuellen Identität steuere. Für das Konzept von »Tora« in Esr 7–10 gelte daher: »הרות in the Book of Ezra is to be seen as a viable symbol for the adequate life in relation to YHWH: it is an expression of a religion that is presented as the basis for a community in search of an identity.« (56) Der Beitrag fügt sich insofern zu dem vorangehenden, als dass mit dem Konzept von »Tora« nun eine Fallstudie zur Frage nach der Konstruktion von Identität geliefert wird.
Wiederum der »Mischehenproblematik« in Esr 9–10 ist der vierte Beitrag gewidmet: »On the Identity of the ›Foreign‹ Women in Ezra 9–10«. In diesem Fall geht es jedoch, wie der Titel verrät, nicht um die Identitätsbildung der ausgrenzenden Gemeinschaft, sondern um diejenige der ausgegrenzten Frauen. Zunächst untersucht B., ob das Phänomen einer »gemischten Ethnizität« (mixed ethni­city) für das perserzeitliche Juda aus der externen Evidenz heraus überhaupt nachweisbar ist – ein sehr wichtiger Punkt für die Argumentation, der für eine ausführlichere Untersuchung auch auf die frühhellenistische Zeit auszudehnen wäre, da m. E. nicht auszuschließen ist, dass Esr 9–10 aus dieser Zeit stammen könnte. Nach Feststellung des negativen Ergebnisses vermutet B. hinter Esr 9–10, m. E. mit Recht, eine innerjudäische ( inner Yehudite) Auseinandersetzung, der das Siegel der Fremdheit aufgeprägt wurde. Möglicher­weise stehe hier auch eine Auseinandersetzung mit außerjudäischen JHWH-Heiligtümern und deren Anhängern im Hintergrund.
Der nächste Artikel, »Social Consciousness in the Persian Period: The Case of Nehemiah 5«, ist bisher nicht veröffentlicht. B. zeigt knapp den biblischen (Dtn 15,1–6; Lev 25,35–38) und ökonomischen Hintergrund des in Neh 5 vorliegenden Konzepts des Erlasses von Schulden auf. Dabei wird mit H. Williamson vermutet, dass die in Neh 5,1–13 geschilderten Ereignisse in Einklang mit dem litera­rischen Aufbau von Neh 1–6 stehen würden. B. folgert, dass damit in persischer Zeit neben der Mauer auch das soziale Bewusstsein Israels rekonstruiert worden sei. Ob dieses wieder erwachte Be­wusstsein tatsächlich historisch nachweisbar oder literarisch der Nehemiafigur als Größe der politischen Restauration zugeordnet worden ist, wie es bspw. J. Wright vermutet, wird dabei nicht dis­kutiert.
Das sechste Kapitel trägt den Titel: »Nehemiah 9 and the Prob­lematic Concept of Context (Sitz im Leben)«. B. widmet sich in diesem Beitrag Neh 9,6–37 und untersucht den Text unter formalen Gesichtspunkten. In Auseinandersetzung mit der Position M. J. Bodas, der den Text dem Rahmen einer Bundesfeier (»covenant ceremony«) in persischer Zeit zuordnet, problematisiert B. grundsätzlich die s. E. positivistische Auffassung, nach der die postulierten Kontexte erhobener Gattungen in den Rang rekonstruierbarer historischer Fakten erhoben werden könnten. Ein rekonstruierter Kontext oder »Sitz im Leben« sei angesichts des sehr geringen Wissens über die sozialen Gegebenheiten des antiken Israels/Judas vielmehr nur ein Vorschlag: »It is a proposal on the past.« (95) So sei jede historische Rekonstruktion letztlich auch ein hermeneutischer Akt, bei dem auch das Symbolsystem der dafür verantwortlichen Person eine Rolle spiele.
»Nehemiah as a Mosaic Heir: Nehemiah 13 as Appropriation of Deuteronomy 7« lautet der Titel des folgenden Beitrags, der beginnend mit T. Veijolas These, (nomistische) Deuteronomisten (DtrN) seien die Vorgänger jüdischer Schreiber bis hin zu den rabbinischen Schriftgelehrten, wie sie in Mischnah und Talmud begegnen würden, die in Neh 13 geschilderten Maßnahmen in den Blick nimmt. B. arbeitet zunächst die Zusammenhänge mit Neh 10 und die Differenzen zu Esr 9 f., der inhaltlich engsten Parallele, heraus und fragt dann nach den in Neh 13 aufgenommenen Traditionen, wobei dieser Vorgang als »appropriation« beschrieben wird: »El­­-ements of a traditional symbol system are reformulated, redressed and recombined. Texts are used, and ideas in them reapplied for a specific goal.« (107) So folgert B. in Bezug auf Neh 13: »Nehemiah can be seen as a Mosaic heir in that way that he appropriates the traditional ideas in view of his historical context and for the benefit of his own goals.« (Ebd.)
Das achte Kapitel fokussiert die Inschriften vom Garizim: »Do the Earliest Samaritan Inscriptions Already Indicate a Parting of the Ways?« Ausgehend von den aus der samaritanischen Tradition (Tibat Marqe, Defter der samaritanischen Liturgie) zu erhebenden samaritanischen Glaubenssätzen untersucht B. die deutlich älteren Inschriften von Garizim unter der Fragestellung, ob sich be­reits hier Züge der späteren Belege nachweisen lassen können. Die Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass die ältesten Inschriften, die bereits aus persischer Zeit stammen, keine besonderen Differenzen zwischen der samari(tani)schen und der judäischen/ jüdischen Religion aufzeigen. Der Anfang des Samaritanismus bleibe somit im Dunkel der Geschichte verborgen, solange keine neue Evidenz weitere Schlüsse zulasse.
Ebenfalls in die Umwelt des Alten Testaments führen die folgenden beiden Beiträge: »Sabbat at Elephantine: A Short Episode in the Construction of Jewish Identity« und »Yehudite Identity in El­ephantine«. Da der zweite Beitrag einen den ersten umfassenden, aber weitergehenden Horizont aufwirft, belasse ich es bei der Vorstellung des ausführlicheren und neueren Artikels. B. nähert sich der Fragestellung an, indem er, die Vorgaben von Charles Taylor an­wendend, die »dimensions of identity« systematisiert und an­hand der vorhandenen Evidenz abarbeitet: »Identity and tradition«, »identity and the geography of time«, »Passover«, »Sabbath«, »identity and the life cycle« (Beschneidung, Ehe und Ehescheidung; Leben nach dem Tod), »identity and the topography of space«, »identity and ›the other‹«, »wisdom as intercultural identity« (Achiqar), »identiy and the military«. B. folgert, dass die Judäer, die in Elephantine begegnen, weder als Juden noch als Anhänger einer JHWH-Religion, wie sie das Deuteronomium oder das Esrabuch beschreiben, bezeichnet werden könnten. Die Elephantine-Judäer seien vielmehr Vertreter eines offenen und anpassungsfähigen vorbiblischen Polyjahwismus und stammten entweder aus Juda selbst oder Mesopotamien, wo sie als Söldner durch die persische Administration angeworben worden seien.
Der das Buch beschließende Beitrag »The Construction of Early Jewish Identity: Reading 1 Maccabees« knüpft an die zuvor aufgeworfene Thematik an und ist eigens für den Sammelband verfasst worden. Entsprechend dem eben vorgestellten Beitrag »Yehudite Identity in Elephantine« wendet B. die dort verwendete Systematik Taylors nun auf das 1. Makkabäerbuch an und kommt somit zu einem von Elephantine stark abweichenden Ergebnis bezüglich der erhobenen Identitätsmarker: »Above all, it should be noted that this religious identity emerged as an orthodox adaptation to a too liberal embracement and incorporation of Hellenistic ideas and customs into the Jewish religion.« (153) Der Beitrag schließt mit dem Blick auf »Ezra, Nehemiah, and the Construction of Early Jewish Identity«. Becking zeigt dabei auf, dass trotz der deutlich verschiedenen Haltung zum jeweiligen Herrscher grundlegende Gemeinsamkeiten zwischen Esr-Neh und 1Makk hinsichtlich ihrer Definition einer eigenen Identität in einer globalen Umwelt bestehen würden. So gelte: »[…] the author of 1 Maccabees can be seen as influenced by the ways of world making as expressed in Ezra and Nehemiah for his construction of a form of Early Jewish Identity.« (154)
Die versammelten Beiträge des durch zwei Register gut er­schlossenen Bandes weisen B. als hervorragenden Fachmann für die Fragestellungen um die Bücher Esra und Nehemia aus. Dabei fällt ins Auge, dass die Arbeit am Detail stets einer größeren Fragestellung zugeordnet wird. Nicht allein der Titel, sondern vor allem die Lektüre des Buches zeigt so, dass hier die Fragen nach Identitätsbildung und dem Umgang mit der Tradition in den Fokus der Arbeit an Esr-Neh gerückt sind und den roten Faden des Bandes bilden. M. E. handelt es sich dabei in der Tat um die Schlüssel zum Verständnis der beiden biblischen Bücher. Wer sich Diskussionen um die Literaturgeschichte und entsprechende Entstehungszeiten wünscht, wird indes nicht fündig: B. enthält sich dieser Fragestellung mit vollem Bewusstsein, da er deren höchst unterschiedliche Ergebnisse angesichts desselben zugrunde liegenden Methodensets nicht überzeugend findet (101 f.). So gilt für B. der vorliegende Endtext von Esr-Neh als Basis der exegetischen Untersuchung. Der zu erwartende Kommentar wird dennoch sicherlich eine Diskussion um die Relevanz des 3Esr für die vorliegende Gestalt des Masoretischen Texts enthalten, zumal sich B. andernorts dazu bereits geäußert hat. Insgesamt ist der Band allen, die sich mit der biblischen Literatur der Persischen Zeit und ihren Hintergründen be­schäftigen nachdrücklich zur Lektüre empfohlen.