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Ausgabe:

März/2013

Spalte:

299–301

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Kauhaus, Hanna

Titel/Untertitel:

Vielfältiges Verstehen. Wege der Bibelauslegung im 18. Jahrhundert.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2011. 342 S. = Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte, 35. Geb. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-02886-3.

Rezensent:

Christoph T. Nooke

Diese Arbeit stellt die geringfügig überarbeitete Fassung der Dissertation (Jena 2010) von Hanna Kauhaus dar. Gegenstand der Untersuchung ist »ein Ausschnitt der Bibelauslegung im 18. Jahrhundert« (13). K. möchte einen »Gegenakzent« (18) zur bisherigen Forschung setzen, die sich zu sehr auf die sich im 19. und 20. Jh. durchsetzenden Entwicklungen beschränkt habe, und beabsichtigt, die Praxis der Bibelauslegung in einer größeren Breite zu berücksichtigen (20). Dazu wird Foucault als methodischer Unterbau herangezogen, der die Diskontinuitäten, das Zufällige in der Geschichte wahrzunehmen gemahnt habe, um zu verhindern, dass Geschichte zur Projektionsfläche des bereits Gewussten werde. So soll hier die Geschichte der Bibelauslegung zum »widerständige[n] Gegenüber« (11) werden und somit zur Kritik des Status quo verhelfen. – Der Stand der Forschung wird knapp aufgeführt (14–16), auch das Quellen- und Literaturverzeichnis ist übersichtlich gehalten (315–330).
Im 18. Jh. stehen die Bibelauslegung von Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung nebeneinander, sie befruchten und mischen sich, konstatiert K. Aufklärung sei – nebenbei – eine »philosophisch ge­prägte, zur Kritik drängende Bewegung« (16). Die schlagwortartige Verwendung plakativer Kategorisierungen (aufgeklärt, pietistisch, rationalistisch etc.) führt an einigen Stellen der Arbeit zu Unschärfen in der Charakterisierung von Vertretern, Strömungen und Ideen. Hier bietet die Forschung mittlerweile ein breiteres In­strumentarium.
Einen interessanten Weg wählt K. bei der Auswahl der Quellen und Ausleger, die sich ja abseits der üblicherweise behandelten finden sollen: Gattungsmäßig legt sich K. kaum fest und berücksichtigt alles, was im Einzelnen als Bibelauslegung verstanden werden kann (Predigten, Meditationen, Lehrbücher etc.). Zur Auswahl der Autoren konstruiert K. ausführlich (27–42) ein »geistiges Cluster« um Kant und Hamann. Während sich diese Liaison noch einigermaßen zwanglos ergibt, erscheinen die übrigen Mitglieder der Gruppe recht beliebig verbunden. Die Bezüge in einem geistigen Cluster seien loser als in sozialen Netzwerken, erläutert K., es sollten auch gar nicht konkrete Transaktionen nachvollzogen werden, sondern »ein plausibles Auswahlprinzip für ein gemeinsam zu un­tersuchendes Quellenkorpus gefunden werden« (28). Einbezogen werden somit alle (bekannte und unbekannte Namen), die I. Kant und J. G. Hamann gelesen haben, auf (auch indirekten) Kommunikationswegen mit ihnen verbunden sind oder in Königsberg wirkten (31). Somit versammeln sich neben den Protagonisten u. a. J. D. Michaelis, C. F. Stäudlin, S. J. Baumgarten, J. C. Lavater und J. J. Rambach. Die Bibeltexte, deren Auslegungen untersucht werden sollen, müssen sich zu zentralen Themen, die K. u. a. in Teufel, Wunder, Theodizee erblickt, äußern. Diese Themen werden in der Versuchung Jesu (Mt 4), den Antithesen (Mt 5), dem Vaterunser (Mt 6), dem Pfingstereignis (Apg 2), der Darbringung Isaaks (Gen 22) und dem Buch Hiob ausgemacht.
Der Hauptteil der Arbeit (43–269) behandelt die verschiedenen Auslegungen zu je einem der genannten Texte jeweils in chronologischer Reihenfolge. Dabei tauchen Kant und Hamann ständig, die übrigen unregelmäßig (insgesamt maximal zweimal) auf. Eine Verortung der Auslegungen in den sehr disparat ausgewählten Schriften findet umfangreicher eigentlich nur bei Kant und Ha­mann statt. Kaum reflektiert wird die Tatsache, dass die einzelnen »Auslegungen« werkimmanent ganz unterschiedliche Funktionen haben: Während Kant z. B. auf das Vaterunser in einer Fußnote seiner Religionsschrift eingeht, behandelt Michaelis es erläuternd in Anmerkungen zu einer Bibelübersetzung. Die einzelnen Aus­-legungen werden zwar detailliert nachgezeichnet, doch fehlt – auch in teils gebotenen Zusammenfassungen, die »Pole« der Auslegungsvarianten benennen – meist eine Auswertung der Beobachtungen. So verbleiben die Ergebnisse in bloßer Deskription. Eine Einordnung in die maßgeblichen Debatten des 18. Jh.s sowie eine ausführlichere Berücksichtigung der Forschung wäre sicherlich an einigen Stellen hilfreich gewesen. Stattdessen gibt K. eigenständig freie Erläuterungen zu zentralen Begriffen: z. B. zur Akkommodation (125) oder zu Kants Religionsbegriff (114). Leider kommt es so zu Unschärfen im Gebrauch der Terminologien: Hamanns Auslegung des Vaterunser bezeichnet K. als eher »heilsgeschichtlich«, wohingegen Michaelis’ Auslegung »moderner« sei; auch sei letztere als »historisch-vergleichende« nur graduell von der Herangehensweise Kants unterschieden, da beide nach dem suchten, was Jesus gemeint habe (154).
Mit »Leitlinien der Bibelauslegung im 18. Jahrhundert« ist das Ergebniskapitel überschrieben. Da die Ergebnisse der Einzelun-tersuchungen »vielfältig«, allerdings wenig konkret oder greifbar sind und sich kaum knapp zusammenfassen lassen, versucht K., die behandelten Auslegungen hinsichtlich ihrer Voraussetzungen, Methoden und Bezugssysteme zu systematisieren. Als »Erwartungen und Ziele« der Ausleger unterscheidet sie zwischen einem »sachlich-intellektuellen« und einem »personal-involvierenden Verstehensbegriff« (272). Die Mehrheit der Ausleger sei auf letzteren ausgerichtet, d. h. darauf, Wille, Haltung etc. des Menschen zu verändern, jedoch lasse sich dies nicht vom sachlich-intellektuellen Verstehen des Inhalts trennen (285). Methodisch sortiert K. die Auslegungen hinsichtlich ihres Bezugs auf die Sprach- oder Sachebene, wobei die Mehrheit auf letztere bezogen ist. Neben einer literarischen Auslegung, die versuche, den Stil des Bibeltextes nachzuahmen (Young, Hamann), finden sich Versuche, den Sinn der einzelnen Wörter zu erheben (Baumgarten, Kypke, Michaelis).
Als »Bezugssysteme« der Auslegungen werden Bibel, Dogmatik, Philosophie und Geschichte untersucht. Innerbiblische Bezüge finden sich auf verschiedene Weise hergestellt: per Parallele, über ty­-pologische und über dogmatische Bezüge. In den dogmatischen Bezügen erkennt K. Einflüsse der lutherischen Tradition, z. B. in der Auslegung des »pro me« bei Hamann, und Einflüsse der Physikotheologie, die sie in Youngs Verweisen auf die Schöpfung als Erweis der Größe Gottes findet (299). Beide Zuordnungen sind kaum zwingend. Dass der Bezug zur Geschichte hinsichtlich einer Historisierung von berichtetem Geschehen der Bibel sowie ihrer Abfassung besteht, überrascht wenig. Philosophische Fragen werden bei Kant an den biblischen Text herangetragen, die Erfahrungsdimension wird vorausgesetzt, um die Applikation der Bibeltexte auf die Ge­genwart zu gewährleisten. Hier vermutet K. das theologische Mo­dell der Schöpfungsoffenbarung, denn Gott wirke nicht nur in Texten, sondern auch in Geschichte und Schöpfung (303).
Die methodische Vielfalt in der Auslegung der Bibel sei somit charakteristisch für das 18. Jh., resümiert K. ihre Studie, die interessante Einzelaspekte aufzeigen konnte, das Bild der Bibelauslegung im 18. Jh. allerdings kaum verändert.