Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/2013

Spalte:

295–297

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Bader, Günter

Titel/Untertitel:

Psalterspiel. Skizze einer Theologie des Psalters.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2009. X, 499 S. = Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie, 54. Lw. EUR 119,00. ISBN 978-3-16-150119-7.

Rezensent:

Heinrich Assel

Das von Günter Bader 1986 geprägte Programm einer »Theologia poetica« wird – nach Psalterium affectuum palaestra. Prolegomena zu einer Theologie des Psalters 1996 – durch die magistrale Theologie des Psalters 2009 ausgeführt. Psalterspiel ist beides: opus magnum und Skizze. Es ist ein opus magnum an enzyklopädischer Durchdringungskraft, das Psaltertheologien in der Tradition Athanasius’, Augustins, Dionysius Areopagitas, Cusanus’ und Luthers, Psalterpoetiken von Lowth über Herder bis Gunkel und Seybold und die monastische Psalterkunst als Matrix der Künste durcharbeitet. Eine originäre Skizze der Namenstheologie des Psalters ist dieses Buch als sprachtranszendentale Psalter-Poetik und -Ästhetik, in der die Er­kenntnisse von Lowth, Herder und F. Schlegel, von Kant und Cohen, von Adorno und Benjamin entschieden konstruktive Kraft entfalten. Eine fundamentale Hypothese wird über 430 Seiten festgehalten und zur Psaltertheologie entwickelt. Drei Einleitungsparagraphen können drei mögliche Zugänge dazu er­öffnen:
1. Der Charakter poetischer Theologie wird eingangs lesetheologisch umrissen und zum alttestamentlichen Diskurs um Theologie und Poetik der Psalmen und des Psalters hin konturiert. Exege­tische Leitinventionen der Psalterexegese, z. B. Name Gottes (Spie­kermann), Armenfrömmigkeit (Levin), Poetik (Seybold), Mne­monik (Lohfink), imaginärer Tempel (Zenger) werden reinterpretiert als Aspekte ›verschrifteter Psalmen‹ und bestimmter Lektürestile (§ 1 Die Verschriftung der Psalmen und die Psaltertheologie, 5–34). Psalter, vormodern Inbegriff monastischen Lesens unterwegs zum liturgischen Spiel, kann, wo Exegese sich lesehermeneutisch reflektiert, an die Dimension ›Spiel‹ stoßen, wenn Sinn-Lesen an das namenstheologische, meditierend-mnemonische, tempelimaginäre Spiel der Sinne stößt. Insofern könnte auch heute, nicht nur gestern, gelten: »Psalter als Psalter, das ist Psalterspiel.« (42) Doch keine lesehermeneutische Aufklärung ohne Durcharbeitung der Wirkungsgeschichte des Psalters, einer Traditionslast, die durchzuarbeiten allein »Erwerb eines Wissens von der Zukunft des Psalters« bedeute (87)! Dass Wissen von der Zukunft des Psalters der Tenor ist, unterscheidet Psalterspiel von den Prolegomena 1996, die noch unter dem Vorzeichen des Verlusts monastischer Psaltertheologie standen. Psalterium consummatio totius theologiae, so lautet die Vorgabe patristischer Psalterprologe für die Epoche des monastischen Psalters und der Psalterkunst von der Patristik bis zur Renaissance und Reformation. Am Ende des Eingangsparagraphen eingeführt (34–41) umreißt diese Formel, welche Traditionslast durchzuarbeiten und, völlig verwandelt, als Zukunftswissen zu er­werben ist.
Ist also dieses Buch – erster möglicher Zugang – eine Wirkungsgeschichte des Psalters? In der Tat widmen sich die drei Hauptteile den Paradigmen der patristisch-mediävistischen Epoche der Psaltertheologie und -kunst. Unter den Titeln: A. Ikonik (§§ 4–5), B. Musik (§§ 6–7) und C. Poetik (§§ 8–9) findet man monographische Darstellungen zur monastischen Ikonographie und Ikonologie (beeindruckend: Wortillustration und Buchstabenillustration, 193–208), zur gregorianischen Psalmodie (257 ff.), ihren gebundenen und freien Formen (272 ff.), bis hin zum System der acht Psalmtöne und zur Musica enchiriadis (277 ff.); zur Typologie der Psalterstimme, also zur typologischen Psalterpoetik (›Parlatorium von Psalterstimmen‹) (370 ff.). Charakteristischerweise werden aber nicht nur ›nachweisliche‹ Wirkungen, sondern fundamentale Brüche, also Verfall und Verschwinden des monastischen Psalters als consummatio totius theologiae zum Ausgangpunkt genommen, ohne dass eine Verfallsgeschichte entsteht. Die wirkungs- oder verfallsgeschichtliche Lesart, obgleich naheliegend, treibt also weiter zu einem anderen Zugang.
2. Der dreifache Rekurs auf die Paradigmata des monastischen Psalters setzt nämlich eine nach-monastische Differenzierung schon voraus. Die Unterscheidung der Künste in Ikonik, Musik, Poetik sowie die Unterscheidung der Theorieform Ästhetik von der Psaltertheologie gehen gerade aus diesem Verfall (§ 2 Der Verfall von Psalter und Psalterstil) hervor. »Neben Schrift ist Differenz ein Fundamentalbegriff der Psaltertheologie.« (88)
Erst der Verfall des monastischen Psalters in Renaissance und Reformation eröffnet einen pluralen, ›ausdifferenzierten Stil‹ (84) von Psaltertheologie. Psalter wird modellhaft zum Frömmigkeits-, Denk- oder Glaubenspsalter, je bei Gerson, Cusanus und Luther. So pointiert die Differenz dieser Psalterstile ist, sie kommen »doch alle darin überein, dass mit dem Psalter unreduzierbar die Unterscheidung von göttlichem Namen und göttlichen Eigenschaften ins Spiel kommt« (84). Dies eröffnet die entscheidende transzendentale Wendung in den Begriffen theologia und psalterium. Cusanus formuliert die für das Ge­samtwerk fundamentale Hypothese: »Es verhält sich nicht so, dass mit dem Hinweis auf Eigenname und Eigenschaften Gottes irgendetwas begriffen wäre. Der Name Gottes ist ja nichts als Nicht-Thematisierbarkeit, die […] nicht anders als in Differenz begriffen werden kann. Begreifen findet überhaupt nur statt, indem etwas in seiner Differenz begriffen wird. Die stärkste Klarheit hiervon hat Nikolaus von Kues entwickelt. Nach ihm ist Gott und dementsprechend der Name Gottes vor jeder Differenz, sogar vor der zwischen Indifferenz und Differenz. Nichts anderes will Cusanus mit seinem Namenssatz sagen: non aliud est non aliud quam non aliud. Und eben dieselbe Selbstreferentialität findet sich wieder im Fokus der Psaltertheologie als Figur des Lobes, das sich selbst lobt und daher zurecht nichts als gelobt wird.« (86)
Es folgen weitere interessante Diskussionen: zum non-aliud als absolute, selbstbezügliche Definition und als Gottes­name bei Cusanus (63 f.); zum selbstbezüglichen Lob als transzendentale Stufe von Ex 15,2; Jes 12,2 f.: laus mea dominus (67); zur Aufhebung des gesamten Textpsalters wie des monastischen Psalteriums in die scientia laudis als Stufe der Transzendentalität (70); zur Analogie von absoluta laus und absoluta visio (72).
Psalterspiel ist – zweiter möglicher Zugang – Prolegomenon zur Transzendentaltheologie göttlichen Namens, welche Differenz und trinitarische absoluta laus zum Vorzeichen dogmatischer Offenbarungs- und Wort-Theologie macht. Diese trinitarische Namenstheologie absoluter Differenz kann freilich erst am Schluss des Buchs (§ 9,3 Psalterspiel – Lob des Lobes) so durchgeführt werden, dass nicht sofort Kritik laut wird: »Christologie wird nicht von anderswoher in den Psalter getragen, sondern dieser muss sie selbst zu denken geben. Sie ist nichts als Prosopologie des Psalters, ge­-nauer Prosopopoiie desselben, soweit sie unvermeidlich ist. Und Chris­tus ist, was die […] fictio personae des Psalters gestattet, aber auch fordert.« (416)
3. Zwischen jener Hypothese und dieser Schlussthese entwickelt B. – dies ist der dritte mögliche Zugang – eine vollständige Poetik und Ästhetik des Psalters. § 3 (Das Verschwinden der Psalmen und die Psalterkunst) exponiert, wie der Namenssatz als symbolische dynamis sprach-transzendentaler Ästhetik der Psalterkunst nach dem Verschwinden des Psalters entsteht. Kants Kritik der Urteilskraft, die (von Herder vorbereitete) frühromantische Entdeckung der Transzendentalität von Sprache sowie Walter Benjamins Sprachlehre liefern hierzu die entscheidenden konstruktiven Formeln.
B. rekonstruiert die Ausdifferenzierung der Künste in Bild, Musik, Poetik und ihre Verwandtschaft und wechselseitige Erhellung unter dem Titel ihrer jeweiligen ›Sprache‹. Kants Theorie des ästhetischen Urteils wird auf ihre frühromantische Rezeption hin interpretiert: »Hier liegt der blinde Fleck, der Kant daran hindert, in der unmittelbaren Präsenz von Sprache zugleich deren Transzendentalität wahrzunehmen […] Novalis und Friedrich Schlegel waren die ersten, die gemäß der Regel, es gelte Kant kantischer zu verstehen als er selbst, die angedeutete Linie auszogen und die ›Sprache in der 2ten Potenz‹, die ›Sprache in der Sprache‹ zu bedenken gaben … Sprache der Kunst ist nicht nur Sprache des Bildes und der Musik, sondern auch – gegen den Widerstand ihrer überlauten Präsenz – ›Sprache der Sprache‹.« (116) Hier nun wird mit W. Benjamin die andere konstruktive Formel neben dem Namenssatz eingeführt: »Man kann den Namen als die Sprache der Sprache be­zeichnen (wenn der Genitiv nicht das Verhältnis des Mittels, sondern des Mediums bezeichnet).« (116, Anm. 99, vgl. 317 f.428.)
Mithin soll gelten: »Eine Theologie des Psalters besteht im we­sentlichen aus den Psalterkünsten Ikonik, Musik und Poetik.« (123) Die Ästhetik dieser Künste begründet 1. die ausdifferenzierten Psalter-Künste: Ikonik, Musik, Poetik; entwickelt 2. jeweils ihre innere Differenz (Ikonik der Sprache/Sprache der Ikonik; Musik der Sprache/Sprache der Musik; Poetik der Sprache/Sprache der Poetik); entfaltet 3. eine vollständig ausgeführte Poetik des Psalters im engeren (literaturwissenschaftlichen) Sinn, also Metaphorik (§ 4), Metrik (§ 6) und Gattungslehre (Generik, § 8); 4. eine ausgeführte Poetik des Psalters im weiteren (sprachtranszendentalen) Sinn, die den Begriff ›Spiel‹ entwickelt, ausgehend von der Hypothese, dass sich die Einheit der Künste keineswegs mehr (z. B. affekt- oder vermögenstheoretisch) konstruieren lasse. »Das Spiel spielt als Relation zwischen den Künsten. Deshalb wollen wir Psalterkunst Spiel nennen. Die Psalterkunst spielt nämlich das Verschwinden des Psalters […]. Jetzt sieht sie dem Verschwinden zu, denn sie kennt das Verschwinden von Künsten als Element ihres selbsteigenen Spiels.« (107) Damit ist der Titel des Buchs eingelöst.