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Ausgabe:

Februar/2013

Spalte:

254–255

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Noble, Ivana, Link-Wieczorek, Ulrike, u. Peter De Mey [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religiöse Bindungen – neu reflektiert. Reimagining Religious Belonging. Ökumenische Antworten auf Veränderungen der Religiosität in Europa. Ecumenical Responses to Changing Religiosity in Europe.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2011. 376 S. 21,5 x 14,5 cm = Beihefte zur Ökumenischen Rundschau, 90. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-03022-4.

Rezensent:

Wilhelm Hüffmeier

Der Band enthält 25 Vorträge, die auf der 15. Konsultation der Societas Oecumenica 2008 in Löwen gehalten wurden. Die mehrheitlich deutsch- und englisch-, aber auch französischsprachigen Beiträge beziehen sich bis auf »Theology of Prosperity and its Impact on the Development and Expansion of Pentecostal-Charismatic Churches in Africa« von James Amanze (154–172) auf die durch Skeptizismus, Pluralismus, Individualismus und Ab­wendung von den institutionalisierten Kirchen geprägte religiöse Situation Europas. Sie sind drei Komplexen zugeordnet: 1. Religion in (post-)säkularen Gesellschaften (19–193); 2. Einheit in einem (post-)säkularen und (post-) konfessionellen Zeitalter (197–292) und 3. Religiöse Bindungen und Rituale in einem (post-)konfessionellen Kontext (295–374).
In allen drei Komplexen kommen protestantische, römisch-katholische und orthodoxe Perspektiven zu Wort. Das geschieht häufig in der Weise, dass auf eine protestantische Positionierung wie »Zur Zukunft der Konfessionen in Europa« (Peter Scherle, 73–103) eine Antwort aus römisch-katholischer Sicht folgt (Henk Witte, 104–112). Entsprechend reagiert Angelo Maffeis aus römisch-katholischer Perspektive (226–230) auf den lutherischen und anglikanischen Beitrag »Living Confession« (Kenneth Appold, 197–208) bzw. »Called to be a Confessing Church« (Paul Avis, 209–225). Um­gekehrt antwortet eine protestantisch-pfingstlerische Stimme aus Bulgarien (Tanya Petrova, 334–337) auf den katholischen von der Liturgiereform des 2. Vatikanischen Konzils inspirierten Beitrag von Bruce T. Morrill, S. J., »The Liturgical Imagination of Unity in a Post-confessional Situation« (325–333). Auch die Beiträge von Angelo Cardita (katholisch) und Joan Charras-Sancho (protestantisch) aus Frankreich sind indirekt auf die durch Morill in den Blick genommene liturgische Inkulturation bezogen (349–374).
Der Band zeigt ein die religiöse Lage Europa kennzeichnendes Paradox. In allen Beiträgen wird deutlich oder ist vorausgesetzt, dass der überwiegende Teil der Bevölkerung Europas zwar durchaus wertegebunden lebt, aber in einer Haltung der Distanz zu den institutionalisierten Konfessions-Kirchen. Trotzdem sind diese keine »quantité negligeable« für die Menschen. Die Marginalisierung der traditionellen Kirchen (siehe die Fallstudie »The Margi-nal­isation of Churches in Society. Reflections from the Island of Ireland« von Gladys Ganiel, 60–72) bedeutet eben nicht langsames Verschwinden von Religiosität. Vielmehr fällt den zur Minderheit werdenden Kirchen für die gesellschaftliche Mehrheit die Funktion einer »vicarious religion« (44) zu; »vicarious religiosity« d. h. »primarily an individual affair and collectivly important at mo­ments of grief and/or for her processing of trauma« in »the specific function for providing consolation and for helping to cope with the grief« (58, Veerle Draulans, »The Reviving Religion. A New Meaning of Religion for the Ordering of Public Life: Some Critical Remarks Inspired by the European Values Study-data«, 37–59). Auch muss »Religious Fundamentalism« (Yvonne Luven, 126–140) – ähnlich wie der Zuspruch, den die pentekostalen Kirchen in Afrika erfahren – als Reaktion auf die nachlassende Zugkraft der historischen Kirchen gesehen werden. Während Yvonne Luven freilich eine theologische Antwort auf den Fundamentalismus nur fordert, stellt sich James Amanze der Herausforderung des Pentekostalismus in einer Kritik der »Theology of Prosperity« (168 f.) bei gleichzeitiger Empfehlung partieller Rezeption pfingstlerischer Frömmigkeit.
Die andere Seite des Paradoxes der religiösen Situation im postsäkularen Europa spiegelt sich darin, dass in keinem der Vorträge der Konfessionalität der Abschied gegeben wird. Vielmehr machen die einzelnen Vertreter der verschiedenen Konfessionen deutlich, dass sie es mit einem von Paul Avis zitierten Begriff von Karl Barth für eine »ecclesiological ›featurelessness‹« (218) hielten, wenn die historischen Kirchen nun nachließen, konfessionell geprägte, und das heißt immer auch bekennende Kirchen zu sein. »Kirchliche Charakterlosigkeit« führt weder zu den Menschen noch führt sie die Kirchen zueinander. Der »Weg in eine selbstgewählte Überkonfessionalität« ist eben »noch lange nicht der Weg zur Einheit der Kirche« (Barth, KD IV/1, 757). Der ökumenische Ertrag des 20. Jh.s wird für nahezu alle Referenten vielmehr darin sichtbar, dass im Unterschied zum sog. konfessionellen nachreformatorischen Jahr hundert konfessionelle Identität nicht mehr polemisch abgrenzend oder gar verwerfend, sondern als offene bzw. sich öffnende Identität verstanden und gelebt wird. Es wäre eine Probe aufs Exempel, wenn das auch Land für Land in Europa als Wirklichkeit nachgewiesen werden könnte. Aaron T. Hollander jedenfalls lässt in dem schönen Beitrag »›Has Christ been divided?‹ Multiplicity in the Evolution of Christian Identity« seine Ausführungen in der »Conclusion: Ecumenism Decentralized« gipfeln, eine Ökumene in welcher »love that listens rather than excommunicates, love that ›does not insist on its own way‹« (125) die Führung übernimmt.
Diese Position stimmt hinsichtlich der Menschen außerhalb der Kirchen überein mit den Gedanken, die Simone Weil zwischen den Weltkriegen entwickelte und die von der polnischen Funda­mentaltheologin Elzbieta Kotkowska in ihrem aufschlussreichen Beitrag »Is it Possible to Believe without Community According to Simone Weil?« dargestellt werden (141–153). Die Jüdin und Philosophin Weil blieb bekanntlich trotz ihrer Liebe zu Christus und trotz ihres Wissens um die Notwendigkeit des »being rooted« menschlichen Lebens in Gemeinschaften (145) »on the threshold of the Church« und das vor allem wegen der »words ›ananthema sit‹« (143). Dass und wie die aufeinander hörende und einander gelten lassende Liebe in einer institutionellen Union gelebt werden kann, zeigt der Beitrag von Joan Charras-Sancho »Le culte dominical protestant luthérien et réformé en France« (364–374).
In einer trinitätstheologischen Entfaltung des Satzes »Gott ist Liebe« führt Matthias Haudel nach einer überzeugenden Kritik der trinitarisch begründeten zentralistischen römisch-katholischen, bischöflich fixierten orthodoxen und kongregationalistisch-egalitären protestantischen Ekklesiologien von Joseph Ratzinger, Ioannis D. Zizioulas und Miroslav Volf aus, welche ökumenischen Chancen für »eine konziliare Gemeinschaft ohne partikularistische und zentralistische Engführungen« in einer Grundlegung der Ekklesiologie bestehen, die der altkirchlichen, sprich »kappadozischen Differenzierung […] zwischen ›Ursprungs- und Existenzbeziehungen‹« der drei Personen in dem einen Wesen Gottes gerecht wird (245–264, Zitate 264 und 262). Der hochabstrakte Beitrag Haudels wäre ein Höhepunkt des Buches geworden, wenn er sich um mehr phänomenale Evidenz seiner Reflektionen bemüht hätte. Solche phänomenale Evidenz ist denn auch eher bei E. Kotkowska, in der Prüfung der »Models of Unity as Models of Belonging« von Miriam Haar (265–277), der Betrachtung des Küchentisches und der Nahrung für das Eucharistieverständnis aus Gendersperspektive von Angela Berlis (321) oder in Michael Plathows Reflektionen zu »Segen und segnen« als »Impuls für profiliertes ökumenisches Zusammenleben« (348) zu finden. Aber insgesamt ist die »Neureflektion« religiöser Bindungen in Form der Hebung »alter und neuer Schätze« (14) ein bemerkenswerter Beitrag zur Zukunft der Ökumene.