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Ausgabe:

Februar/2013

Spalte:

243–245

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Horstmann, Martin

Titel/Untertitel:

Das Diakonische entdecken. Didaktische Zugänge zur Diakonie.

Verlag:

Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2011. 284 S. 22,3 x 15,0 cm = Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts an der Universität Heidelberg, 46. Kart. EUR 19,00. ISBN 978-3-8253-5912-6.

Rezensent:

Christoph Gramzow

Nach verschiedenen berufsbiographischen Begegnungen und persönlichen Erfahrungen mit Diakonie – u. a. Besuch einer Diakonenschule, Studium an der Evangelischen Fachhochschule Bochum und Tätigkeit im Diakoniewissenschaftlichen Institut an der Universität Heidelberg – stellt sich Martin Horstmann in seiner hier vorzustellenden Dissertationsschrift der »Frage nach dem ›Eigentlichen‹ der Diakonie«, die ihn von Beginn an fasziniert und herausgefordert habe. Dabei erweist sich der Vf. nicht nur durch das Einbringen von Impulsen aus Studium und Praxis als »diakonisch geschult«; als Mitherausgeber des zweibändigen Studienbuches Diakonik (2006) ist er auch in seiner Fachdisziplin seit Jahren kein Unbekannter mehr. Betreuer und Erstgutachter der Dissertation war Heinz Schmidt, selbst über viele Jahre Direktor des Diakoniewissenschaftlichen Instituts in Heidelberg.
Neben die Betrachtung der Diakonie als »theologischer Größe« bzw. das Suchen nach der »Tiefenstruktur des Diakonischen« (14) tritt aber von Anfang an ein elementares didaktisches Interesse des Vf.s, das sich auf den Bereich der Erwachsenenbildung konzentriert. Der Vf. will Profil- und Bildungsfragen zusammendenken, will die Frage nach der diakonischen Identität mit der Entwicklung einer Didaktik diakonischer Bildung verknüpfen.
Der Weg zur Formulierung einer »Didaktik diakonischer Bildung im Kontext organisierter Diakonie« (91 u. a.) vollzieht sich über elf Kapitel, die vier Blöcken zugewiesen sind: »Ausgangspunkte« (A.) verschaffen dem Leser biblische, theologische und/oder pädagogische Zugänge zum Diakonie- und zum Bildungsbegriff; »Bestandsaufnahmen« (B.) sichten das aktuelle Angebot an diakonischer Fort- und Weiterbildung in Gestalt von Ausschreibungstexten aus den Jahren 2006 bis 2009 und untersuchen aktuelle diakoniewissenschaftliche Literatur im Hinblick auf didaktische Hinweise und Reflexionen. Dabei fallen dem stets aufmerksamen Vf. Defizite dahingehend ins Auge, dass die Mitarbeitenden in der Diakonie kaum als Subjekte des Bildungsgeschehens wahrgenommen werden (123). Ebenso lägen fast keine empirischen Studien zur religiösen Situation von Diakonie-Mitarbeitenden vor. Dies führt den Vf. in Block C. zu »Analysen« zur Struktur, zu Motiven und Einstellungen von Mitarbeitenden in der Diakonie, zu diakonischen Bildungsdimensionen sowie zur Frage nach Aufgabe und Art einer »diakonischen Theologie«. Abschließend entfaltet der Vf. in Ab­schnitt D. in vier Schritten sein »Konzept« einer Didaktik diakonischer Bildung. Wirken die Übergänge zwischen den Kapiteln, teils auch innerhalb dieser, bisweilen etwas abrupt und zufällig, so liegt dem Ganzen doch ein systematischer und zielführender Aufbau zugrunde. Dies zeigt die sorgfältige Aufbereitung der Ergebnisse in hilfreichen Zusammenfassungen. Ferner werden immer wieder Bezüge zwischen den einzelnen Teilen der Arbeit hergestellt, die den Erkenntnisfortschritt nachvollziehbar dokumentieren.
Die den Vf. persönlich umtreibende Frage nach dem, was Diakonie ›eigentlich‹ sei, dürfte auch das Ergebnis einer in Theologie, Kirche und Praxis anzutreffenden »diffusen Pluralität« (18) von Antwortversuchen sein, der auch mit einer einfachen Ableitung des Verständnisses von Diakonie aus dem neutestamentlichen diakonia-Begriff nicht beizukommen ist. Vielmehr erweist sich das heutige Diakonieverständnis als ein vor allem wirkungsgeschichtlich geprägtes, wobei immer auch die unterschiedlichen Verwendungskontexte des Diakoniebegriffs zu berücksichtigen sind. Unter Bezugnahme auf K.-F. Daiber und P. Bubmann plädiert der Vf. für ein dimensionales Verständnis von Diakonie, demzufolge Diakonie neben Gottesdienst und Spiritualität, Verkündigung und Zeugnis, Bildung sowie Gemeinschaftsbildung einen »selbstständigen Handlungsvollzug« von Kirche beschreibt (34 f.). Dies bedeutet, dass die Dimension Diakonie die anderen Dimensionen von Kirche, z. B. Verkündigung und Zeugnis, nicht braucht, um Diakonie zu sein, dass aber die Kirche sehr wohl der Diakonie bedarf, um Kirche zu sein. Vor diesem Hintergrund bestimmt der Vf. diako­nisches Handeln als ein implizites christliches Handeln (41 f.), das sich zudem phänomenologisch nicht von sozialem Handeln unterscheidet: »Diakonisches Handeln ist immer interpretiertes, gedeutetes Handeln« (48).
Die Ergebnisse der vorangegangenen Kapitel (u. a. zu Diakoniebegriff, Bildungsbegriff, Bestandsaufnahmen) aufgreifend, erfolgt in den weiteren Abschnitten die Erschließung diakonischer Bildungsdimensionen und die Gewinnung einer diakonischen Theologie (Block C). Erstere werden im Anschluss an die EKD-Denkschrift »Maße des Menschlichen« (2003) mit Wissen, Können, Werten, Haltungen und Sinndeutungen beschrieben. Eine diakonische Theologie, die nicht an den Mitarbeitenden als der Zielgruppe diakonischer Fort- und Weiterbildung vorbeigehen und von diesen als lebensbedeutsam erfahren werden wolle, müsse eine »induktive Theologie« (W. Ruschke) sein. Sie müsse ihren Anknüpfungspunkt in den konkreten diakonischen Handlungsfeldern haben und die dort anzutreffenden Werte, Menschenbilder und Gottesverständnisse berücksichtigen. Zudem müsse sie interdisziplinär ausgerichtet und eine »einfache« Theologie sein. Der Vf. stellt hier Bezüge zur weisheitlichen »Theologie der Lebenskunst« (177 f.) und zu einer »Theologie der Sozialen Arbeit« (179 f.) her, wohingegen die akademische Theologie aufgrund ihrer systematisch-theologischen Abstraktheit wenig alltagstauglich sei.
Unter Berücksichtigung der bisherigen Befunde, die der Vf. in den verschiedenen, teils begriffsanalytischen, teils empirischen, teils hermeneutischen Ar­beitsgängen gewonnen hat, formuliert der Vf. als entscheidendes Kriterium diakonischer Bildung die Frage, »wie persönliche Motive und Interessen, sozialberufliches Handeln und das Interesse an der Auseinandersetzung mit Fragen diakonischer Identität zusammenkommen können« (197). Leitend für alle folgenden didaktischen Überlegungen ist der Ausgangs- und Bezugspunkt beim Bildungssubjekt bzw. bei dessen »diakonischem Alltag«. Diesen sowie sich selbst in diesem gilt es im Zuge diakonischer Bildung zu reflektieren. Anknüpfungsmöglichkeiten für die Gestaltung entsprechender Bildungsprozesse bietet dem Vf. zufolge die Verknüpfung wesentlicher Erkenntnisse aus konstruktivistischer Didaktik (»Das Entdecken des Diakonischen ist eine subjektive Konstruktionsleistung. Diakonie ist das, als was sie erkannt wird.«, 227) und aus bildungstheoretischer Didaktik (»Die Erschließung des Diakonischen geht einher mit der Selbst-Erschließung des Lernenden«, 212). Der konstruktivistischen Di­daktik als einer rein formalen Didaktik (»Ermöglichungsdidaktik«) korrespondiert eine diakonische Bildung, die vier didaktische Grundbewegungen umfasst: Anschließen, Kontextualisieren, Irritieren und Orientieren. Demgegenüber hat die bildungstheoretische Didaktik auch den materialen Aspekt von Bildung mit im Blick, ohne freilich in ihm aufzugehen. Sie gewährleistet das Freilegen von diakonischen Elementarformen, die sich zur gegenseitigen Erschließung von Sache und Person eignen. Solche diakonischen Elementarformen sind zum Ersten diakonische Grunderfahrungen im Sinne von existenziellen Erfahrungen (u. a. Berührtwerden, Angewiesensein, Scheitern, Gelingen als diakonische Momente), zum Zweiten diakonische Gestaltungsmuster im Sinne von komplementären Prinzipien des Diakonischen (»Für« und »Mit«, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, Mitleidenschaft und Ermächtigung u. a.) und drittens diakonische Wirkrichtungen, die über rein fassbare Tätigkeiten hinausgehen (Versöhnung, Befreiung, Heilung, Befähigung zur Teilhabe).
Die aufgeführten diakonischen Momente (vgl. Übersicht, 257), die ergänzt werden könnten, ermöglichen es, auch den inhaltlichen Gehalt des Diakonischen zu erschließen. Verständlich und bemüht, aber in der Arbeit noch zu wenig expliziert ist der Versuch des Vf.s, die genannten diakonischen Elementarformen als dem substanziellen Kern des Diakonischen unter dem Begriff der diakonischen Kompetenz auf das Tätigsein in der Diakonie zu beziehen (vgl. die Ansätze, 220.263). Es scheint fraglich, ob der Kompetenzbegriff hier die geeignete Metapher ist, zumal sich der Kompetenzbegriff des Vf.s klar und bewusst vom Gebrauch in der aktuellen Kompetenzdiskussion unterscheidet.
Insgesamt beeindruckt der vorliegende Entwurf einer Didaktik diakonischer Bildung, nicht zuletzt durch seine Geschlossenheit und Konsequenz. Sich der Grenzen eines allein formalen didaktischen Zugangs bewusst, erliegt der Vf. nicht der Versuchung, »diakonische Bildung im Kontext organisierter Diakonie« am Ende doch wieder auf eine materiale Basis zu stellen. Zugleich gibt er aber Orientierungs- und Haltepunkte vor, innerhalb derer dies im Hinblick auf das fragende Individuum, die lernende Zielgruppe erfolgen kann. Herausgefordert ist einmal mehr die Lehrkraft, sich dieser anspruchsvollen wie gewinnbringenden Didaktik diakonischer Bildung anzunehmen.