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Ausgabe:

Februar/2013

Spalte:

240–241

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Herbes, Nilton Eliseu

Titel/Untertitel:

Abendmahlsfeier und Seelsorge bei Kranken und Sterbenden. Eine vergleichende Studie zur Praxis der Evangelischen Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien und der Evangelischen Kirche in Deutschland.

Verlag:

Erlangen: Martin-Luther-Verlag 2011. 258 S. 20,3 x 14,4 cm. Kart. EUR 23,00. ISBN 978-3-87513-174-1.

Rezensent:

Kristin Merle

Mit dieser Studie von Nilton Eliseu Herbes liegt eine interessante Untersuchung vor, deren Intention einer Sensibilisierung für eine kontextuelle Poimenik noch viele Forschende folgen mögen. Das übergreifende Interesse H.s besteht darin, die Rolle des Abendmahls in der Begleitung Kranker und vor allem Sterbender zu untersuchen, um die Bedeutsamkeit der Feier des Abendmahls für die Seelsorge herauszuarbeiten und somit (wieder) zu stärken.
Ein erstes großes Kapitel stellt, auf für die Thematik ambitioniert wenigem Raum (21–69), wesentliche Züge der Abendmahlsfrömmigkeit im deutschsprachigen Raum vom 16. bis 20. Jh. dar, mit besonderem Augenmerk auf die Abendmahlsfeier mit Kranken und Sterbenden. Die Kürze der Darstellung bringt hier eine Reduktion auf die großen Züge mit sich, die Ausführungen sind vorwiegend deskriptiv-essayistisch gehalten. Deutlich wird durch die Jahrhunderte hindurch die Ambivalenz, mit der die Abendmahlsfeier als Teil des Gottesdienstes bzw. als eine Art Supplement zum allgemeinen Gottesdienst auf Seiten der »Professionellen« in ihrem Zugang sozial reguliert und liturgisch gestaltet und auf Seiten der »Laien« rezipiert wurde. Die Belebung der gottesdienstlichen Abendmahlsfeier im Zuge der liturgischen Bewegungen im 20. Jh. lässt H. mit Bieritz von einem »neue[n] eucharistische[n] Lebensstil« (61) sprechen, der sich, wenn man es etwas überspitzt ausdrücken will, mit Blick auf die sakramentale Feier mit Kranken und Sterbenden im 20. Jh. gegenläufig entwickelt: H. beschreibt, wie die Bedeutung des Abendmahls im Kontext der deutschsprachigen Literatur zur Krankenhausseelsorge mit dem Erstarken der sog. »Seelsorgebewegung« schwindet. (67)
Das zweite große Kapitel der Studie widmet sich dem Thema »Abendmahlsfeier und Krankenhausseelsorge in Deutschland« (71–106). H. wendet sich der Gestalt der Seelsorge im System Krankenhaus zu, der Feier des Abendmahls am Kranken- und Sterbebett, und würdigt die Bedeutung der Hospizbewegung für die kirchliche Sterbebegleitung. Diese Perspektiven werden durch eine Sichtung der deutschsprachigen poimenischen Literaturlage erhoben. Zwar geht H. auch der Frage nach, wie »Seelsorge« nun an sich zu definieren sei, kommt aber zu keinem eindeutigen Ergebnis; stattdessen lässt er die Pluralität der Meinungen gelten. Kritisch werden, und das zieht sich durch die gesamte Arbeit hindurch (vgl. z. B. 136), die Wirkungen der »Seelsorgebewegung«/Pastoralpsychologie gesehen, die zu einer »›amputierten Form‹ der Seelsorge« ge­führt hätten: Die Psychologie erscheint hier als Widersacherin des Geistlichen.
Der dritte Abschnitt im Buch gibt nun einen Überblick über Geschichte und Gegenwart des Protestantismus in Brasilien (107–129). Hier erschließt sich der enge historische Zusammenhang zwischen deutschem Protestantismus und den lutherischen Mi­grationskirchen in Lateinamerika und verdeutlicht die Domi-nanz auch der deutschsprachigen (aber auch nordamerikanischen) Poimenik für die wissenschaftliche Reflexion der Seelsorge in Brasilien.
Es schließt sich ein viertes größeres Kapitel an (131–194), das nun die Praxis der Abendmahlsfeier und Seelsorge bei Kranken und Sterbenden in der Evangelischen Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien (EKLBB) in den Blick nimmt. Um die Situation zu erheben und das Literaturdefizit für den spezifischen kulturellen Kontext zu kompensieren, hat H. Experteninterviews im Wesentlichen mit Krankenhauspfarrern und Praktischen Theologen ge­führt. Diese Interviews geben unter anderem Aufschluss über die Notwendigkeit, Seelsorge in Theorie und Praxis dem je­weiligen kulturellen Kontext anzupassen und sich hier von deutschsprachigen bzw. nordamerikanischen Entwürfen zu emanzipieren. Die Rolle der Befreiungstheologie für die Seelsorge(lehre) kommt zur Sprache, und natürlich wird die Bedeutung des Abendmahls für die seelsorgerliche Begleitung Kranker und Sterbender deutlich.
Für den ausstehenden fünften Abschnitt der Folgerungen (195–221) fasst H. den Vergleich zwischen dem deutschen und dem brasilianischen Kontext zusammen: »Im Lauf des 20. Jahrhunderts zeichnet sich in beiden Kontexten aber eine Neuentdeckung der Gottesdienst- und Abendmahlsfrömmigkeit ab – wenn dieser Prozess auch längst nicht alle Bereiche des kirchlichen Lebens betrifft und gerade auf dem Feld der Krankenhausseelsorge noch aussteht.« (195) H. plädiert dafür, die Seelsorge in Lateinamerika an einer Theo­logie der Befreiung auszurichten, der es einerseits um geistlichen Beistand geht und andererseits um einen systemischen Blick, der das Problem sozialer Gerechtigkeit wahrnimmt und eine »prophetische Stimme« für die Leidenden einfordert.
Kritisch stellt sich vor allem eine Frage an das Verfahren der Studie, die Praxis (so der Untertitel) der Seelsorge in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Evangelische Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien (EKLBB) vergleichen zu wollen, indem einerseits die deutschsprachige Literaturlage erhoben wird und andererseits Experteninterviews vorwiegend mit Seelsorgern und Seelsorgerinnen in Brasilien geführt und ausgewertet werden. Dass die Theorie mitunter ein von der Praxis verschiedenes Bild zeichnet, hat auch für den deutschsprachigen Raum schon Michael Klessmann 2008 in seinem Lehrbuch Seelsorge geschrieben: »Das Abendmahl wird in der Theorie der Seelsorge kaum erwähnt, dabei kommt es in der Praxis gar nicht so selten vor.« (158) – Bereichernd für die Arbeit wären sicherlich auch noch einmal theologische und ritualtheoretische Reflexionen zum Thema ›Abendmahl‹ gewesen, nicht zuletzt, um die grundlegende Bedeutung der die christliche Gemeinschaft mitkonstituierenden Praxis des Sakraments für die seelsorgliche Theorie und Praxis zu stärken. Zweifelsohne stellt die Studie allerdings einen interessanten und wichtigen Beitrag zum Diskurs über eine kontext- und kultursensible Seelsorge dar, wie er ja bereits im Zusammenhang von interkultureller und interreli­giöser Seelsorge geführt wird.