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Ausgabe:

Februar/2013

Spalte:

238–240

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Grethlein, Christian

Titel/Untertitel:

Praktische Theologie.

Verlag:

Berlin/New York: de Gruyter 2012. XVI, 591 S. 23,0 x 15,5 cm = De Gruyter Studium. Kart. EUR 39,95. ISBN 978-3-11-022111-4.

Rezensent:

Eberhard Winkler

Unter der Überschrift »Praktische Theologie als Theorie der Kommunikation des Evangeliums in der Gegenwart« erläuterte Christian Grethlein in ThLZ 137 [2012], 623–640, sein Konzept, das er im vorliegenden Lehrbuch entfaltet. Das Leitmotiv »Kommunikation des Evangeliums« bestimmt viele seiner bisherigen Veröffentlichungen, auf die er zurückgreift. In der gegenwärtigen Praktischen Theologie ist dieses Motiv weitgehend anerkannt, aber noch nirgends so konsequent zu einem System der Praktischen Theologie ausgebaut wie hier. Einleitend markiert G. seine Position im Vergleich zu den Vorgängern Schian, Haendler und Rössler. »Kommunikation des Evangeliums« erweitert den Gegenstandsbereich der Praktischen Theologie gegenüber dem kirchenzentrierten Ansatz und präzisiert ihn im Unterschied zu einer am Religionsbegriff orientierten Praktischen Theologie. Die Formel ist weit genug, um die verschiedensten empirischen Befunde und Erkenntnisse nichttheologischer Wissenschaften zu verarbeiten, aber auch inhaltlich so auf die biblischen Grundlagen der gesamten Theologie bezogen, dass die enzyklopädische Einbettung der Praktischen Theologie deutlich wird.
Das Werk ist klar gegliedert. Im 1. Teil erörtert eine problemgeschichtliche Einführung den Gegenstand der Praktischen Theologie, die als moderne Krisenwissenschaft verstanden wird (Kapitel 1). Für die verschiedenen geschichtlichen Abschnitte vom Anfang des 19. Jh.s bis zur Gegenwart skizziert G. jeweils den politischen und gesellschaftlichen, kulturellen, kirchlichen und theologischen Kontext, die Profilierung der Praktischen Theologie und ein charakteristisches Vorzeichen, z. B. für die erste Hälfte des 19. Jh.s den Historismus, während »Wahrnehmung« als prägendes Vorzeichen für den gegenwärtigen Stand genannt wird. Auf die historische folgt die ökumenische Perspektive mit Hinweisen auf Impulse aus der Katholischen Theologie und den USA (Kapitel 2). Eine der Stärken des Buches liegt darin, dass der Horizont auch im Folgenden immer wieder ökumenische Weite aufweist.
Im 2. Teil bedenkt G. empirische und theologische Grundperspektiven. Die Begriffe Kommunikation, Evangelium, Religion und Spiritualität werden geklärt, der Pluralismus des Evangeliums, die Differenzierung der Religionserfahrung sowie kulturhermeneutische Unterscheidungen reflektiert (Kapitel 3). Die empirischen Grundbedingungen der Kommunikation des Evangeliums erörtert G. unter den Aspekten reflexiv moderner Plausibilitäten, sozialer Veränderungen und medientechnischer Innovationen, indem er jeweils anthropologische Grundlagen, die historische Entwicklung des Problems, die gegenwärtige Situation und praktische Konsequenzen darstellt (Kapitel 4). Von zentraler Bedeutung ist das 5. Kapitel, das die theologischen Grundbestimmungen darlegt, indem es drei Modi der Kommunikation des Evangeliums be­schreibt: Lehren und Lernen, gemeinschaftliches Feiern und Helfen zum Leben. In diesen drei Modi findet G. den christlichen Grundimpuls realisiert, der vom Evangelium als Speicher- und Übertragungsmedium ausgeht. Die drei Modi lösen die herkömmlichen Subdisziplinen der Praktischen Theologie ab, obwohl man im Modus des Lehrens und Lernens die Homiletik und Religionspädagogik, im Feiermodus die Liturgik und Kasualtheorie, im Mo­dus des Helfens die Diakonik und Poimenik finden kann. Überschneidungen sind nicht nur unvermeidbar, sondern notwendig, weil die Modi einander bedingen.
Im 3. Teil entwickelt G. praktische Perspektiven, indem er die Kommunikation des Evangeliums in verschiedenen Sozialformen (Kapitel 6), durch verschiedene Tätigkeiten (Kapitel 7) und mit verschiedenen Methoden (Kapitel 8) erörtert. Die Familie wird als grundlegender Kommunikationsraum gewürdigt, die Schule als Lebensraum für Heranwachsende, die Kirche als Realität zwischen Institution und Organisation, die Diakonie als Organisation am Markt und die Medien werden als offener Kommunikationsraum in den Blick genommen. Den elektronischen Medien widmet G. die gebührende Beachtung. Ob ihr wachsender Einfluss die face-to-face-Kommunikation wirklich relativiert, bleibt abzuwarten. Zu unterstreichen ist die Bedeutung der ehrenamtlichen und freiwilligen Tätigkeiten sowie der kirchlichen Berufe neben dem Pfarramt, besonders der Kirchenmusik. Im Schlusskapitel werden Zeiten und Orte als Grundbedingungen der Kommunikation des Evangeliums bedacht sowie die drei genannten Modi als Kommunikation über Gott (Erzählen, Miteinander sprechen, Predigen), mit Gott (Beten, Singen, Abendmahl feiern) und von Gott her (Segnen, Heilen, Taufen) erläutert.
Das Personenregister enthält viele Namen aus den Sozial- und Kulturwissenschaften, aus Philosophie und Psychologie, aber auch die Jurisprudenz kommt angemessen zur Geltung. Der Umfang verarbeiteter Literatur und die Themenvielfalt beeindrucken. Das Sachregister weist auf Motive und Inhalte hin, die für das Werk charakteristisch sind. So erscheint 16-mal das Stichwort »Balance«. Falsche Gegensätze und Einseitigkeiten sollen durch positive Balance überwunden werden. Dem entspricht, dass »Dialog(izität)« 17-mal erscheint. »Familie« (28 Fundstellen) wird als grundlegender Kommunikationsraum gewürdigt, dem das »Haus« als Sozialform der »Ekklesia« neben der Ortsgemeinde und der Ökumene zugeordnet ist. Praktisch leitet G. aus der Eigenständigkeit dieser Sozialform die Konsequenz ab, dass die Taufe als Ereignis der Familie nicht in den Gemeindegottesdienst eingefügt, sondern für sich gefeiert wird. Die besondere religionspädagogische Kompetenz G.s kommt dem Werk darin zugute, dass die theoretischen und praktischen Fragen der Bildung gebührende Beachtung finden.
Ein so inhaltsreiches und profiliertes Werk lässt natürlich auch Fragen und Wünsche offen. Es ist zu begrüßen, dass G. die pastoraltheologische Perspektivverengung überwinden will und das Allgemeine Priestertum betont, das er stets »Priestertum aller Getauften« nennt. Hier handelt es sich um ein dogmatisches Postulat, nicht um eine empirische Realität. Priester/innen sind im Neuen Testament und bei den Reformatoren ebenso wie heute nur getaufte Glaubende. Die Gemeindeentwicklungsprogramme zielen darauf, vom Postulat zur Realität zu gelangen. Eigentlich stimmt G. mit ihnen darin überein, dass die Taufe Anfang eines lebenslangen Weges im und zum Glauben ist. Entsprechende Impulse von M. Seitz, M. Herbst und ihren Schülern werden aber nicht erwähnt. D. Kellners Anregung, »Charisma als Grundbegriff der Praktischen Theologie« zu etablieren (vgl. ThLZ 137 [2012], 868–870), könnte helfen, die pneumatologische Perspektive des christlichen Grundimpulses zu berücksichtigen. Dadurch käme die »Kommunikation von Gott her« stärker zur Geltung.
Ökumenische Weite zeichnet G.s Werk aus, aber die konfessionellen Spaltungen beurteilt er nicht so differenziert wie andere soziale und religiöse Phänomene. Er spricht vom »starren Festhalten an der Kirchenspaltung« (357). Die kirchentrennenden Distinktionen seien »exklusiv auf der kognitiven Ebene angesiedelt« (322) und würden zunehmend bedeutungslos. Ein Blick in die Diaspora widerlegt diese Annahmen. Leider wird entsprechende Literatur nicht ausgewertet, obwohl G. die Situation im Osten Deutschlands kennt und die Schrumpfungsprozesse erwähnt, die eine neue Form von Diaspora entstehen ließen. Statistische Durchschnittswerte sagen allerdings wenig über die höchst unterschiedliche lokale Situation aus.
Ein Gesamtentwurf der Praktischen Theologie, der keine Kritik provoziert, wäre langweilig oder belanglos. Das vorliegende Werk ist interessant und informativ, wissenschaftlich breit fundiert, anregend und weiterführend. Es hilft, Praktische Theologie auf den aktuellen Kontext zu beziehen und von den biblischen Grundlagen her zu treiben. Deshalb ist ihm viel Aufmerksamkeit zu wünschen.